Paulus, Markus und andere Verwechslungen

Richard Carrier über den Gefälschten Paulus

Engl. version: Paul, Mark, and other substitutions: Richard Carrier on The Fabricated Paul

Schon seit Längerem wurde ich von Freunden gebeten, den Blog-Beitrag von Richard Carrier, The Historicity of Paul the Apostle, aus dem Jahre 2015 zu erwidern, worin dieser sich auch über meinen Gefälschten Paulus äußert.[1] Ich tue dies ein wenig verspätet, was teils mit anderweitiger Beschäftigung, teils damit zu tun hat, dass ich bisher nur wenig Lust zu einer Auseinandersetzung verspürte, die notwendig unerfreulich sein würde. Da man mir aber sagte, dass die Ausführungen nicht unwidersprochen bleiben können, will ich der Bitte nachgeben.

Von der Naturphilosophie des frühen Römischen Reiches zu Paulus

Verwundert war ich darüber, dass Herr Carrier erklärte, er könne meine Qualifikation auf diesem Gebiet, also dem der neutestamentlichen/paulinischen Forschung, nicht beurteilen.[2] Herr Carrier muss das auch gar nicht, da andere das vor ihm getan haben. Er darf sich getrost darauf verlassen, dass jemand, der eine Dissertation über Paulus verfasst hat, die von einem namhaften deutschen Neutestamentler, Walter Schmithals, betreut wurde,[3] auf dem Felde der paulinischen Forschung nicht ganz unbewandert und durchaus zu qualifizierten Äußerungen imstande ist – gewiss nicht weniger als jemand, der, wie er selber, über die Naturphilosophen des frühen Römischen Reiches promoviert hat.[4]

Noch ein anderer Punkt hat mich irritiert. Herr Carrier schreibt über Paulus, aber auf der beigefügten Abbildung ist ein Porträt des Evangelisten Markus zu sehen, das dem Bildnis der vier Apostel von Albrecht Dürer entnommen wurde. Da der ganz Artikel aber nun einmal von Paulus handelt, nehme ich an, dass Herr Carrier Markus mit Paulus verwechselt hat. Ich will ihm das nicht vorwerfen, zumal es sich dabei mehr um einen kunstgeschichtlichen als um einen exegetischen Fauxpax handelt. Eine Empfehlung ist das aber gewiss nicht. Denn wenn es schon mit dem Allgemeinwissen über Paulus hapert, wie soll es dann erst mit dem Fachwissen bestellt sein? Carrier hätte trotz seines Ausbildungsschwerpunktes – ich meine die Naturphilosophen des frühen Römischen Reiches – wissen müssen, dass die christliche Tradition einen bestimmten Paulus-Typus geprägt hat, wie er erstmals in den apokryphen Acta des Paulus und der Thekla beschrieben wird: „klein von Gestalt, mit kahlem Kopf und krummen Beinen, in edler Haltung mit zusammengewachsenen Augenbrauen und ein klein wenig hervortretender Nase, voller Freundlichkeit“ (Act Pl et Thecl 3). Auch wenn das eine oder andere Erkennungsmerkmal je nach Zeit und Künstler variiert. Einen Wuschelkopf wie Markus oder andere Apostel der Wahrheit hat Paulus in der traditionellen Ikonographie nie gehabt. Die Glatze ist immer geblieben. Herr Carrier hätte das auf dem Bild von Dürer lernen können. Denn der Apostel steht dort gleich rechts neben Markus, so kahl und edel, wie die ikonographische Tradition, die Dürer anders als Carrier noch kannte, es fordert.[5]

„Self-referencing signatures“

Was die Auseinandersetzung mit Herrn Carrier sehr erschwert, ist seine Vernachlässigung gewisser, allgemein üblicher wissenschaftlicher Gepflogenheiten, z.B. der, andere Positionen korrekt zu zitieren oder wiederzugeben, bevor er sie kritisiert. Dadurch kommt eine gewisse Unschärfe in seine Aussagen. Nicht immer lässt sich erkennen, worauf er sich bezieht, was er jeweils meint und worauf er hinaus will. Er schreibt zum Beispiel: „Detering seems to think self-referencing signatures commonly appear only in forgery.”

Für die Leser des Artikels wäre es ohne Zweifel hilfreich, wenn Carrier in gut wissenschaftlicher Manier ein Zitat oder einen anderen Beleg für seine Behauptung beigefügt hätte. Vermutlich bezieht sich Carrier auf den Abschnitt: Did Paul copy from himself?[6] Wie aber jedermann sehen kann, gebe ich an dieser Stelle nur die Meinung von Exegeten wider, die in den auffälligen „Selbstzitaten“ einen Hinweis auf die Unechtheit des 2. Thessalonicherbriefs sehen. In der Tat stelle ich diese Sicht nicht in Frage, da sie sich bewährt hat. Das bekannteste Beispiel für eine aus lauter Versatzstücken zusammengestoppelte Fälschung im paulinischen Gewand ist der Brief an die Laodicener.[7]

Dass ein Fälscher sich in der Regel darum bemüht, den Stil seiner Vorlage zu kopieren, ist eigentlich selbstverständlich. Stilistische Anleihen gehören nun einmal zum Wesen der Fälschung, auch wenn diese mal mehr, mal weniger gelingen. Keiner, der sich mit Fälschungen beschäftigt, kommt umhin, sich damit zu befassen. Eine andere Frage ist, ob „self-referencing signatures“ „only in forgery“ vorkommen. Aber das haben weder ich noch die zitierten Wissenschaftlern behauptet. Das Indiz ist in ihren und in meinen Augen eines neben vielen anderen, freilich ein wichtiges. Erst wenn mehrere solcher Indizien zusammenkommen, verdichten sie sich zu einer kumulativen Evidenz. Und erst wenn diese vorhanden ist, kann eine Behauptung wie die, der 2. Thessalonicherbrief bzw. der Galaterbrief sei unecht, aufgestellt werden. Auch vor diesem Hintergrund ist es vollkommen naiv, zu glauben, man könne die radikale Position, die auf kumulativen Evidenzen beruht, mit einem einzigen Argument widerlegen.

Ebenso wenig hilfreich wie Carriers Zitierweise, die dem Leser das Suchen nach den Belegen für seine Behauptungen überlässt, ist seine Antwort: „in fact, they are commonly found on real letters—I’ve seen several examples in papyrological journals.“

Wir wollen gerne glauben, dass Herr Carrier eine Menge antiker Papyri gelesen hat und möglicherweise schon beim Frühstück statt in der Tageszeitung in seinen Papyri-Journalen blättert – aber ist es unzulässig zu fragen, welche Passagen er an dieser Stelle im Sinn hat? Und ist er sich denn wirklich sicher, keiner Fälschung aufgesessen zu sein? Leider bleibt er uns die Antwort schuldig, nicht nur hier, sondern auch an vielen anderen Stellen, wo ein apodiktisches „absurd“ oder ein „ridiculous“ den Beweis ersetzen muss.

Falsche Vermischung richtiger Fragestellungen

Überhaupt erweckt bereits die Wiedergabe vermeintlicher radikalkritischer Positionen den Eindruck, als habe Carrier diese nur auf dem Second Hand-Wege, d.h. durch Forenbeiträge oder sonstiges Hörensagen kennengelernt. Er belegt sie jedenfalls nicht und das, was er uns darüber mitzuteilen weiß, ist in der Regel inkorrekt. Wie wäre es sonst möglich, dass er die Frage nach der Echtheit der paulinischen Briefe durchgehend mit der Frage der Historizität des Apostels vermischt und offenbar annimmt, dass die Verwerfung der Echtheit der Paulusbriefe notwendig die Infragestellung der Historizität zur Folge haben müsse bzw. beides ein und dasselbe sei? Offenbar weiß er nicht, dass die Mehrzahl der holländischen Theologen (A. Pierson, S.A. Naber, W.C. van Manen, A.D. Loman) an der Historizität eines Paulus historicus festhielt und nur die Authentizität der paulinischen Schriften bestritt.[8]

Was meine eigene Position betrifft, so ist diese insofern noch etwas anders, als die Briefe nach meiner Ansicht offenbar bereits an eine Pauluslegende anknüpfen konnten, und zwar eben jene, die sich später z.B. in den Acta Pauli et Theclae literarisch niedergeschlagen hat. Doch auch nach meiner Meinung könnte am Anfang dieser ganzen Legendenbildung eine historische Person, der samaritanische Simon, gestanden haben. Die Frage nach der Existenz des Apostels ist bei der Bestreitung der Echtheit einer paulinischen Briefsammlung jedenfalls irrelevant.

Carriers Vorgehensweise ist umso rätselhafter, als inzwischen auch in englischer Sprache eine Reihe von Büchern vorliegt, worin über die radikalkritische Position ausführlich informiert wird. Ich meine nicht nur die Übersetzung meine Buches, sondern das Opus magnum von Robert Price über den Amazing Colossal Apostle.[9] Und auch die Arbeiten der älteren Radikalkritiker sind teilweise in englischer Sprache erhältlich. Ich füge das auch deswegen hinzu, weil ich nach der Lektüre des Buches On the Historicity of Jesus,[10] den Eindruck gewonnen habe, dass ausländische Autoren in Carriers Bibliographie auch dann nicht berücksichtigt werden, wenn sie für die forschungsgeschichtliche Entwicklung der eigenen Thesen von Belang sind. Ich meine die holländische radikale Schule, in der nach Bruno Bauer der erste bedeutende Versuch einer wissenschaftlichen Bestreitung der historischen Existenz Jesu gemacht wurde. Aber auch J. Turmel, P.-L. Couchoud, A. Loisy und andere sucht man bei Carrier vergebens. Sein Schweigen verrät nach meiner Ansicht einen etwas verengten wissenschaftlichen Standpunkt, den man auch als ignorant bezeichnen könnte.

Justins Schweigen über Paulus

Ein weiteres Missverständnis des an Missverständnissen und Verwechslungen reichen Artikels ist Carriers Behauptung, radikale Kritiker würden das Schweigen des Kirchenvaters Justin über den Apostel in der Mitte des 2. Jahrhunderts, als Beleg für dessen Nichtexistenz betrachten. Dagegen Carrier: „That argument failing, they will resort to saying that Justin Martyr never mentions Paul, therefore Paul didn’t exist. But that’s absurd.”

Die These ist in der Tat absurd. Noch absurder ist es allerdings zu behaupten, dass es radikale Kritiker geben soll, die solche Absurditäten vertreten. Ich selber habe lediglich mit vielen anderen Exegeten darauf hingewiesen, dass Justin den Apostel in seinen Schriften nirgendwo erwähnt – und dies, obgleich er teilweise wörtliche Zitate aus den Briefen übernommen hat.[11] Meine Folgerung lautete keineswegs, dass Paulus infolgedessen nicht existiert haben könne, sondern dass Justin die paulinischen Texte wohl kannte, aber ganz bewusst ignorierte. Der Grund? Ein theologischer. Für Justin war Paulus Repräsentant des gnostischen bzw. marcionitischen Christentums. Ketzer werden in der Kirche gerne totgeschwiegen – das gilt bis heute. Justins Schweigen zeigt uns, dass die paulinischen Briefe für ihn und Seinesgleichen noch in der Mitte des 2. Jahrhunderts als ketzerische Texte galten (die erst nach entsprechender Überarbeitung von der Kirche akzeptiert wurden). Wie man also sieht, ging es den radikalen Kritikern bei der Frage nach dem Grund für das Schweigen des Kirchenvaters über den Apostel Paulus gar nicht um die Frage nach dessen Existenz. Es ging lediglich darum zu zeigen, dass „Paulus“ in der protokatholischen Kirche des 2. Jahrhunderts noch nicht „angekommen“ war.

Stilistische Gemeinsamkeiten?

Um die Echtheit der von ihm für authentisch gehaltenen sechs Briefe – den Philemonbrief hält Carrier für unecht – zu begründen, weist Carrier auf die angeblichen Gemeinsamkeiten in Bezug auf Stil, Grammatik, Wortgebrauch etc. hin. So etwas finde man bei pseudepigraphischen Texten nicht. – Hier zeigt sich nun, dass Carrier mit der Paulusforschung wenig vertraut ist. Zumindest unter Experten wusste man immer schon, wie brüchig die angebliche stilistische Einheitlichkeit, die der philologische Laie prima facie wahrzunehmen glaubt, in Wahrheit ist. Erst jüngst hat der Salzburger Philologe Günther Schwab in einer umfänglichen Untersuchung, die ich Herrn Carrier zur Lektüre anraten möchte, wieder auf diesen Tatbestand aufmerksam gemacht.[12] Unberücksichtigt bleiben bei Carriers Argumentation auch die theologischen Unterschiede, zwischen den einzelnen Briefen, auf die Carrier gar nicht eingeht, z.B. auf die in der Rechtfertigungslehre von Röm und Gal. Und unberücksichtigt bleibt schließlich die Tatsache, dass einzelne Briefe sich offenbar aufeinander beziehen, was den Verdacht erweckt, sie könnten von vornherein als Teil einer Sammlung konzipiert worden sein.

So z.B. warnt der Verfasser Gal 5:21 seine Leser: „Offenkundig sind aber die Werke des Fleisches, als da sind: Unzucht, Unreinheit, Ausschweifung, Götzendienst, Zauberei, Feindschaft, Hader, Eifersucht, Zorn, Zank, Zwietracht, Spaltungen, Neid, Saufen, Fressen und dergleichen“. Dann fährt er mit den Worten fort: „Davon habe ich euch vorher gesagt (proeipon von polegō) und sage noch einmal voraus: die solches tun, werden das Reich Gottes nicht erben.“ Da sich im vorhergehenden Teil des Galaterbriefs keine Bemerkung findet, auf die sich der Autor zurückbeziehen könnte, bleibt entweder die Möglichkeit, dass sich der Verfasser auf einen mündlichen Ausspruch bezieht oder aber auf 1 Kor 6:9-10, wo es ganz entsprechend heißt: „Oder wisst ihr nicht, dass die Ungerechten das Reich Gottes nicht ererben werden? Lasst euch nicht irreführen! Weder Unzüchtige noch Götzendiener, Ehebrecher, Lustknaben, Knabenschänder, Diebe, Geizige, Trunkenbolde, Lästerer oder Räuber werden das Reich Gottes ererben.“

Die Parallelen zwischen Gal 5:19-21 und 1 Kor 6:9-10 sind so augenfällig, dass der Schluss, die Passage sei wörtlich aus dem 1. Kor übernommen worden, kaum zu umgehen ist. Die Annahme setzt natürlich voraus, dass dem Autor des Galaterbriefes der 1. Korintherbrief bereits vorlag.

Doch selbst wenn die Briefe von einem Verfasser stammen würden, wie Carrier meint, wäre dies noch kein Indiz dafür, dass es sich dabei auch tatsächlich um Paulus handelte. Selbst Carrier schränkt ein und weist auf die Paulus-Seneca-Korrespondenz hin, die, trotz ihres einheitlichen Stils, von den Wissenschaftlern übereinstimmend als Fälschung betrachtet wird. Carrier erklärt dies damit, dass die Korrespondenz von vornherein als Sammlung angelegt war. Aber gilt dies nicht auch für die paulinischen Briefe? Oder kennt Carrier einen einzigen Paulusbrief, der außerhalb der kirchlichen Sammlung von 13 oder 14 bzw. der marcionitischen von 10 bzw. Briefen kursierte, also unabhängig überliefert ist?

Teilungshypothesen

Schließlich berührt Carrier einen wichtigen Gesichtspunkt, über den sich viele Neutestamentler, die sehr selbstsicher von sieben echten Paulusbriefen sprechen, in der Regel gar keine Rechenschaft geben: Aufgrund der inneren Widersprüche innerhalb der für echt gehaltenen Briefe sehen sie sich, selbst die konservativeren unter ihnen, schon seit langem genötigt, mit Teilungshypothesen zu arbeiten. D.h. auch jene Neutestamentler, die sich gerne auf eine „stabile gemeinsame Basis“ von sieben echten Briefen berufen und jeden, der sich außerhalb ihres Kanons stellt, am liebsten mit dem Bannfluch der Unwissenschaftlichkeit belegen möchten,[13] kennen in Wahrheit mehr als sieben Briefe. So z.B. wird der Philipperbrief heute von einer Mehrheit von Forschern für eine von einem späteren Redaktor zusammengestellte Komposition von 3 kleineren Paulusbriefen gehalten (Brief A, B. C):[14] in Bezug auf den 2. Korintherbrief gibt es noch weitergehende Teilungshypothesen. Dabei ist die genaue Anzahl häufig dem Geschmack und der Willkür der Exegeten überlassen. Konservativere Theologen, die ihre Studenten nicht verwirren wollen und ihren eigenen Biedersinn zum Maßstab dessen machen, was historisch sein soll, entscheiden sich gerne für eine moderate Lösung von, sagen wir, 9-11 Briefen; ein faustischer Typ wie z.B. mein Lehrer Walter Schmithals, schreckte auch vor der Annahme von 16 und mehr kleinen Apostel-Billetts nicht zurück.[15]

Was aber hat dies alles mit der Frage der Echtheit zu tun? Nach Ansicht von Carrier muss in der Tatsache, dass die paulinischen Briefe in Wahrheit Briefkompositionen sind, ein Argument für deren Echtheit gewertet werden. Denn: “One does not forge letters that way.” Woher weiß Carrier das? Und warum weiß er nicht, dass die Mehrzahl der von ihm in toto kritisierten Radikalkritiker, deren Werk er als „historical fiction“ bezeichnet, über den Zustand der Briefe nicht anders dachten – als er, nur dass sie eben zu gegenteiligen Resultaten gelangten. A. Pierson und S.A. Naber sprachen von der lacera conditio des Corpus Paulinum und erklärten diese durch ihre Fragmententheorie.[16] Ähnlich nahm W.C. van Manen an, dass die Briefe aus mehreren kleinen dogmatischen oder paränetischen Abhandlungen zusammengestellt seien. Für W.C. van Manen wie für Allard Pierson und Samuel A. Naber lag darin jedoch kein Argument für deren Echtheit, sondern ganz im Gegenteil, für deren Unechtheit! Denn weder werden Briefe durch redaktionelle Verbindung von nichtbrieflichen Fragmenten verfasst noch sind Redaktoren bekannt, die kohärente Briefkorpora in dieser Weise aufsplitten. Daraus lässt sich ersehen, dass die übereinstimmende Beobachtung ein und desselben Sachverhalts mitunter zu ganz gegenläufigen Folgerungen Anlass geben kann. Alternativlose Lösungen sind, wie Carrier wissen sollte, auf dem Feld der Wissenschaft eher selten.

Israels Ende

Von allen schwachen Argumenten, die Carrier zugunsten der Echtheit seiner sechs Briefe vorzubringen weiß, ist das dritte am schwächsten. Dass der Tempel noch existiert, ließe sich allenfalls aus dem 2. Thessalonicherbrief herauslesen (2 Thess 2:4). Aber abgesehen davon, dass dieses Schreiben von Carrier ja als unecht angesehen wird, könnte sich die Situation ebensogut auf die Zeit des Bar Kochba Krieges (132-135 n. Chr) und die Errichtung eines Zeusaltars und die Aufstellung einer Zeus- bzw. Kaisersäule auf dem Tempelplatz beziehen.[17] Dagegen liegt der Fall in Röm 9-11 im Grunde völlig klar. Wie schon van Manen bemerkte, blickt der Verfasser zweifellos auf das Ende Israels zurück.[18] Der Abschnitt, in dem die Frage beantwortet werden soll, warum das auserwählte Volk von den Segnungen des Christentums ausgeschlossen bleibt, setzt eine Situation voraus, wie sie nach van Manen um 59 noch gar nicht bestehen konnte. Zu diesem Zeitpunkt konnte das Evangelium kaum in der ganzen Ökumene verkündet worden sein (10,13-18); außerdem sei zu fragen, in welchem Ereignis man die „Strenge Gottes“ (11,17-21; vgl. 11,22) habe erkennen können – wenn nicht in Jerusalems Fall im Jahre 70.

Nach Carrier sollen Ansichten über Jesus, wie sie in den Evangelien vorkommen, d.h. der historisierte Jesus der Evangelien, vor 70 noch nicht existiert haben. Das mag wohl sein. Aber haben sie denn schon im Jahre 100 existiert, haben sie um 130 existiert? Walter Schmithals sprach im Anschluss an Ch. H. Weiße vom „synoptischen Manko“ und er bezog sich damit auf das Fehlen der synoptischen Tradition bei den frühen kirchlichen Zeugen bis weit in das zweite Jahrhundert hinein.[19] Soweit wir wissen, ist eine Vorstufe der Evangelien überhaupt erst bei Justin belegt. Die Existenz eines Vier-Evangelien-Kanons ist noch später, gegen Ende des 2. Jahrhunderts, bei Irenäus belegt. Mit anderen Worten: Auch im 2. Jahrhundert wäre noch viel Platz für die Entwicklung vom himmlischen Gottessohn hin zum Mann aus Nazareth. Aber da Carrier sich – offenbar unter dem Einfluss von Earl Doherty[20] – nun einmal auf das 1. Jahrhundert festgelegt hat, will er diese Position auch zäh verteidigen und dafür braucht er seinen historischen Paulus mit sechs echten Briefen. Das ist verständlich. Aber er sollte mit besseren Argumenten für ihn streiten.

Marcions Apostolikon und die Frage der Priorität

Schließlich kritisiert Carrier noch: “Most Detering-style arguments are based on claiming hundreds of interpolations in these letters that conveniently and circularly support Detering’s conclusions, all based on a series of ad hoc assumptions about the second century history of the Church, when in fact almost everything we know about that is speculation, not established fact.”

Hier zeigt sich, dass Carrier den alles entscheidenden Punkt meiner, aber auch der Argumentation vieler älterer Radikalkritiker völlig verfehlt hat. Die Interpolationen habe ich nicht erfunden, ihre Existenz ist keine bloße Hypothese, sondern Realität, d.h. philologischer Befund. Sie ergeben sich aus dem Vergleich der katholischen Textes mit dem marcionitischen Apostolikon. Wenn man das Zeugnis der Kirchenväter ernst nimmt – und ich sehe in diesem Fall keinen Grund, daran zu zweifeln – hat es neben der längeren katholischen auch eine kürzere marcionitische Version der Paulusbriefe gegeben. Die Frage, ob die kürzere marcionitische oder aber die längere katholische die authentische ist – letzteres wird von Kirche und Wissenschaft bis heute behauptet – ist die alles entscheidende Frage. Aus ihr ergibt sich alles weitere, auch die Auskunft über die mögliche Herkunft der paulinischen Briefe. Vorausgesetzt, dass nicht die Katholiken, sondern die Marcioniten recht gehabt hätten, vorausgesetzt also die Briefe stammten aus der mariconitischen Schule und wurden anschließend katholisch überabeitet, so würde dies entweder bedeuten, dass der Apostel ein ganz anderer war, als wir bisher glaubten, marcionitischer, gnostischer, der „Apostel der Häretiker“ (Tertullian) eben. Oder aber – und das ist das Wahrscheinlichere – dass die Briefe im Schoß der marcionitischen Häresie entstandene Schöpfungen des 2. Jahrhunderts sind – und eben damit keine echten Briefe aus der Hand eines Apostels aus der der Mitte des 1. Jahrhunderts.

Freilich ist bei der Entscheidung der Frage der Priorität der marcionitischen oder katholischen Rezension methodisches Fingerspitzengefühl, philologische und theologische Kompetenz erforderlich, denn es geht um textkritische und literarkritische Fragen. Mit den Naturphilosophen des frühen Römischen Reiches, mit dem Rechenschieber oder Bayles’s Theorem kommt man hier nicht weiter.

Es gäbe noch eine Reihe weiterer Missverständnisse zu korrigieren, doch ich will an dieser Stelle abbrechen. Ich habe Carriers Buch On the historicity of Jesus trotz seiner Mängel mit großem Interesse gelesen. Aber seine Auslassungen über Paulus hätte er sowohl sich wie uns lieber erspart: Si tacuisses, philosophus mansisses. Aber nein, angemessener wäre es vielleicht zu sagen, dass Herr Carrier auch nach diesem Artikel Philosoph geblieben ist: Experte für die Naturphilosophie des frühen Römischen Reiches (wie ich seiner Vita entnehme) – aber eben nicht für Paulus.

Anmerkungen

[1] Carrier, Richard: „The Historicity of Paul the Apostle“, in: The Historicity of Paul the Apostle (2015), http://freethoughtblogs.com/carrier/archives/7643 (abgerufen am 02.06.2016).. Detering, Hermann: „The Falsified Paul10/2 (2003), S. 200.

[2] “I cannot ascertain his qualifications in the field.”

[3] Detering, Hermann: Paulusbriefe ohne Paulus? Die Paulusbriefe in der holländischen Radikalkritik, Bd. 10, Frankfurt am Main, Berlin, Bern, New York, Paris, Wien: Peter Lang 1992 (Kontexte).

[4] Als Buch: Carrier, Richard: Science Education in the Early Roman Empire, Pitchstone Llc 2016., und

[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Die_vier_Apostel

[6] Detering: „The Falsified Paul“, S. 39 f.

[7] Harnack, Adolf von: Marcion, Das Evangelium vom fremden Gott: Eine Monographie zur Geschichte der Grundlegung der katholischen Kirche, Unveränd. reprograph. Nachdr. d. 2., u. verm. Aufl., Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1996, S. 134*ff.

[8] Z.B. Loman, Abraham Dirk: „Quaestiones Paulinae: Terugblik en overgang tot het tweede hoofdstuk“, in: Theologisch Tijdschrift 1886. Vgl. Detering: Paulusbriefe ohne Paulus? Die Paulusbriefe in der holländischen Radikalkritik.

[9] Price, Robert M.: The amazing colossal apostle: The search for the historical Paul, Salt Lake City: Signature Books 2012.

[10] Carrier, Richard: On the Historicity of Jesus: Why we might have reason for doubt, Sheffield: Phoenix Press Ltd 2014.

[11] Detering: „The Falsified Paul“, S. 70ff.

[12]  Schwab, Günther: Echtheitskritische Untersuchungen zu den vier kleineren Paulusbriefen. Band 1, Halbband A: Der Philemonbrief. Beobachtungen zur Sprache des Philipper- und des Galaterbriefs, Books on Demand 2011. Schwab, Günther: Echtheitskritische Untersuchungen zu den vier kleineren Paulusbriefen. Band 1, Halbband B: Beobachtungen zur Sprache des ersten Thessalonikerbriefs, Books on Demand 2011. Publikationen des Salzburger Altphilologen finden Sie u.a. auf ResearchGate.

[13] So sinngemäß Jürgen Becker: „Wer sich in verschiedener Weise so kraß außerhalb der recht stabilen gemeinsamen Basis der sonst je eigene Akzente setzenden Ausleger stellt, wird nicht erwarten, daß er viel Beifall erhält” „Der Völkerapostel Paulus im Spiegel seiner neuesten Interpreten“, in: ThLZ 122/11 (1997), S. 977–978.

[14] Schenke, Hans-Martin und Karl Martin Fischer: Einleitung in die Schriften des Neuen Testaments, Lizenzausg. Aufl., Gütersloh: Gütersloher Verl.-Haus Mohn 1978, S. I, 124ff.

[15] Schmithals, Walter: Paulus und die Gnostiker: Untersuchungen zu den kleinen Paulusbriefen: zugleich Univ., Habil.-Schr.–Marburg., Hamburg-Bergstedt: Reich 1965 (Theologische Forschung), S. 184.

[16] Pierson, Allard und Samuel Adrian Naber: Verisimilia: Laceram conditionem Novi Testamenti ; Exemplis illustrarunt et ab origine repetierunt, Amsterdam: P.N. van Kampen & Fil. 1886.

[17] Detering, Hermann: „The Synoptic Apocalypse (Mark 13 par): a document from the time of Bar Kochba“, in: Journal of Higher Criticism 7/2 (2000), S. 161–170.

[18] Manen, W. C. van: Die Unechtheit des Römerbriefs, übers. von. G. Schläger, Leipzig: G. Strübigs Verlag 1906, S. 159ff.

[19] Breytenbach, Cilliers (Hrsg.): Paulus, die Evangelien und das Urchristentum: Beiträge von und zu Walter Schmithals ; zu seinem 80. Geburtstag, Bd. 54, Leiden, Boston: Brill 2004 (Arbeiten zur Geschichte des antiken Judentums und des Urchristentums), S. 363ff.

[20] Doherty, Earl: Das Jesus-Puzzle: Basiert das Christentum auf einer Legende?, Angelika Lenz Verlag 2003.

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4 Kommentare

  1. Zum gefälschten Paulus:

    Das alle Paulusbriefe gefälscht sind geht aus den Überlieferungen der Templer hervor.
    Als in Rom bei einer Versammlung die Briefe des Paulus vorgelesen wurden,hat ein Störtrupp die Briefe verbrannt(alle).
    Die Fälscher der Paulusbriefe haben dann eine Mischung von Gnosis,Teilchristlicher Texte und alttestamentlicher Einschübe den Eindruck erwecken wollen,das das Christentum seine Wurzeln im AT hat.
    Eine der Urfälschungen des NT ist,daß Christus dort als „Sohn“ des Jahwe hingestellt wurde,während es umgekehrt so war,daß Jahwe der Teufel(Satan)oder „Jaldabaoth“ist und Christus Gott ,der Vater.

  2. Kann al jemand klären, warum diese hochlöbliche Homepage des verdienten H. Detering immer Leute magisch anzieht, die irgendwie einen „Schag“ weg haben? Das wird ja richtig lästig.

    1. Weil es (u.a.) um „Jesus“ geht, d.h. um eine literarische Figur ohne historisches Fundament (bislang), weswegen seit Jahrhunderten sich jeder seinen eigenen Jesus backen kann; und Verrückte backen sich dann halt verrückte Jesus-Theorien. Dazu ist die Skeptikerszene in Deutschland sehr klein im Vergleich zu den skepticists im englischsprachigen Raum, weswegen (so vermute ich) die esoterischen Spinner bei uns seltener in die Schranken verwiesen werden, seltener aufgeklärt werden, und so stecken viele noch irgendwo zwischen den 90er Jahren und der „Zeitgeist“-Welle fest.

      1. Man lasse sich auch niemals von der Schulweisheit,der Gelehrsamkeit und von dem augenblicklichen Wissen derer täuschen,die,als Menschen großen Geistes gepriesen,viel reden,dicke Bücher über alle Dinge schreiben und selbst so tun,als würde alle Erkenntnis und alles Können allein der Größe ihres Geistes gegeben.Sie sind insgesamt arme Toren,die in falschem Glauben an die eigene Größe alles berechnen,an den Zahlen von Maß und Gewicht,Menge und Form alles ergründen wollen und,in unendliche Fernen schweifend,dem Naheliegendem absichtlich ausweichen,weil sie sich selbst unendlich ferne stehen.
        Von dem Wahne der eigenen Durchgeistigkeit durchdrungen,werden diese armen Narren andere Narren heißen.
        Wie innen so außen!

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