Unerfindlich?

Gegen eine mythologische Evangelienerklärung wird oft eingewandt, bestimmte Passagen in den Evangelien hätte sich niemand ausdenken können, sie seien „unerfindlich“, mithin „historisch“. In unterschiedlichen Variationen war dieses Argument schon sehr früh gebraucht  – und ebenso früh widerlegt worden. Angesichts dessen ist es verwunderlich, dass es gleichwohl bis heute immer wieder in Diskussionen auftaucht.

Grundsätzlich wird man sagen müssen, dass diese Argumentation einer gewissen Willkür nicht entbehrt. Denn ob etwas „unerfindlich“ ist oder nicht, hängt immer auch von der Perspektive des jeweiligen Betrachters und nicht zuletzt von dessen eigener Phantasie ab. Falls seine Phantasie nicht besonders groß ist, wird er sich natürlich vieles nicht vorstellen können, was sich jemand mit mehr Phantasie durchaus vorstellen kann. Von einem Schriftsteller wird man eine größere Phantasie erwarten dürfen als von einem trockenen Finanzbeamten oder einem braven Universitätsprofessor, dem ein Zuviel überdies schnell zum Verhängnis werden könnte. Wenn also behauptet wird, etwas sei „nicht vorstellbar“ bzw. „unerfindlich“ sei, so will dies noch nicht viel besagen.

Das Kreuz als „Schandmal“?

In einer TV-Diskussion, die ich Ende 2014 mit den beiden Neutestamentlern Annette Merz und Klaus Wengst zum Thema: „Jesus – Mythos oder Wahrheit“ führte und in der ich die radikalkritische Position verteidigte, hielt mir der emeritierte Professor der Bochumer Ruhruniversität entgegen, dass das Kreuz in der Antike als „Schandmal“ gegolten habe und meine ganze Argumentation infolgedessen nicht stimmen könne.[1]

Damit war ein wenig schlagwortartig – wie es halt in solchen Diskussionen zu gehen pflegt – auf ein Argument angespielt, das im Zusammenhang etwa folgendermaßen lautet: Die Kreuzigung galt in der Antike als schmähliche und geächtete Todesstrafe, vergleichbar dem Tod am Galgen in späterer Zeit. Niemand, so die Argumentation, wäre darum auf die Idee gekommen, Jesus am Kreuz sterben zu lassen, wenn es nicht tatsächlich so gewesen wäre. Der Kreuzestod, so die Meinung derer, die das Argument verwenden, kann also so wenig auf eine Erfindung zurückgehen wie die Gestalt desjenigen, der am Kreuz starb, ihm musste ein historisches Ereignis zugrundeliegen.

Für die Bezeichnung des Kreuzes als „Schandmal“ bzw. die entsprechende Bezeichnung des Kreuzestodes  als „Tod der weltlichen Schande“ – so schon Hegel – hätte sich Wengst auf das Urteil antiker Autoren wie z.B. Cicero berufen können, der schon das bloße Wort Kreuz von Leib und Leben der römischen Bürger verbannen wollte.[2] Aber auch auf das „Ärgernis des Kreuzes“ (1 Kor 1,23; Gal 5,11) und den „Fluch des Kreuzes“ im Galaterbrief (3,13), wo sich der Verfasser auf ein Zitat aus den Alten Testament bezieht: „Verflucht ist jeder, der am Holz hängt“ (Dtn 21:23).

Leider fiel meine Erwiderung nicht viel ausführlicher aus als der Einwand – wie es halt in solchen Diskussionen zu gehen pflegt – und mag darum für manche Zuschauer nicht ganz verständlich gewesen sein. Ich antwortete, dass das Kreuz im frühen Christentum von Anfang an immer auch mit (positivem) symbolischem Gehalt gefüllt war und man sich dessen offenbar schon sehr früh bewusst war. Außerdem wies ich auf den platonischen Dialog „Timaios“ hin, der als frühes literarisches Dokument der Ausarbeitung einer antiken Kreuzsymbolik auch für das frühe Christentum von großer Bedeutung gewesen sei.

Bei der Behauptung, dass das Kreuz im frühen Christentum und in diesem Sinne eine positive Bewertung erfahren habe, bezog ich mich vor allem auf die frühchristlichen Apostelakten, die, wie man annimmt, im 2. Jahrhundert entstanden sind. Somit wären die Texte, wenn man die radikalkritische Datierung der Evangelien zugrundelegt, kaum jünger als die Evangelien selbst. In den von M. Hornschuh zwischen 120-200 datierten Andreassakten grüßt der Apostel Andreas das Kreuz, das zu seinem Tode bestimmt hat, mit den folgenden Worten:

„Sei mir gegrüßt, o Kreuz! Denn du darfst dich wirklich freuen. Wohl weiß ich, daß auch du künftig ausruhst, da du seit langer Zeit müde bist und aufgerichtet auf mich wartest. Ich bin gekommen zu dir, das ich als mein eigen kenne; ich bin gekommen zu dir, dem nach mir sich Sehnenden. Ich kenne dein Geheimnis, um dessenwillen du auch errichtet bist. Du bist nämlich im Kosmos aufgerichtet, um das Unstete zu befestigen. Und ein Teil von dir erstreckt sich bis zum Himmel, damit du so den himmlischen Logos, das Haupt aller Dinge, anzeigest. Ein anderer Teil von dir wurde zur Rechten und zur Linken ausgebreitet, damit du die furchtbare feindliche Macht in die Flucht jagest und den Kosmos zusammenbringest. Ein anderer Teil von dir ist in der Erde befestigt, in der Tiefe gegründet, damit du, was in der Erde und unter der Erde sich befindet, mit dem, was im Himmel ist, verknüpfest. O Kreuz, Heilswerkzeug des Höchsten! O Kreuz, Zeichen des Sieges Christi über die Feinde! O Kreuz, auf Erden gepflanzt und im Himmel Frucht tragend! O Kreuzesname, der du voll aller Dinge bist! Wohl dir, o Kreuz, daß du die Welt in ihrem Umfang gebunden hast. Wohl dir, Gestalt voller Einsicht, die du deine Gestaltlosigkeit gestaltet hast. Wohl dir, unsichtbare Züchtigung, die du das Wesen der Vielgötterlehre schwer züchtigst und ihren Erfinder aus der Menschheit verjagst. Wohl dir, o Kreuz, daß du den Herrn angezogen, den Räuber als Frucht hervorgebracht, den Apostel zur Buße gerufen und uns aufzunehmen nicht für unter deiner Würde gehalten hast…“ (ActAndr 3,8)

Der Abschnitt zeigt eindrucksvoll, dass das Kreuz nur peripher als Hinrichtungsinstrument für den Verfasser in den Blick tritt. Der Tod am Kreuz gilt ihm nicht als Schmach oder Ärgernis, sondern offenbar – am Anfang des 2. Jahrhunderts! – als Krönung und Vollendung des christlichen Daseins. Von irgendwelcher Rücksichtnahme auf die Sensibilitäten antiker Leser, die nach Ansicht vieler Historiker bei der Erwähnung des „Schandmals“ hätten erschauern müssen, kann keine Rede sein, sondern ganz im Gegenteil: das Kreuz wird in dem Hymnus triumphal, fast schon wie ein Gegenstand religiöser Verehrung glorifiziert.

Dabei sind die Gedanken, die dem Apostel Andreas in den Mund gelegt werden, keineswegs neu oder originell bzw. original christlich; sie nehmen vielmehr uralte, vermutlich bereits auf die Pythagoräer zurückgehende Kreuzesspekulationen auf – und verchristlichen sie! Ganz deutlich knüpft der Autor an den von mir in der Diskussion bereits erwähnten Dialog des Platon, „Timaios“, an. Die Betrachtungen über das kosmische Weltkreuz, das dort entsteht, wo Äquator und Ekliptik sich in Form eines liegenden Chi schneiden, boten Antike und Christentum die theoretische und astronomische Grundlage für die zahlreichen daran anknüpfenden philosophischen und theologischen Kreuzesspekulationen. In seinem sehr lesenswerten Kapitel über das „Mysterium des Kreuzes“ in seinem Buch „Griechische Mythen in christlicher Deutung“ betont Hugo Rahner zu Recht die Bedeutung des platonischen Textes für die frühe Christenheit. Der antike Christ, so Rahner, habe ihn gelesen „wie eine schon den Heiden aufgegangene Ahnung des weltbauenden Logos, der am Kreuz hängend den Kosmos zusammenfasst und um das Mysterium des Kreuzes schwingen lässt.“[3]

Ich erspare es mir, die literarischen Belege dafür, dass die Bedeutung des kosmischen Weltkreuzes im frühen Christentum offenbar von Anfang an bekannt war, im Einzelnen aufzuzählen. Die Liste der Schriftsteller reicht von Justin und Irenäus bis hin zu Kyrillos von Jerusalem und Gregor von Nyssa. Der Leser findet die einschlägigen Texte in Rahners Buch, aber auch in dem Aufsatz Wilhelm Bousets mit den Titel „Platons Weltseele und das Kreuz Christi.“

Eine ganz ähnliche Szene wie in den Andreasakten (dessen Hauptfigur übrigens auf späteren Darstellungen an ein chi-förmiges Kreuz, das sogenannten Andreaskreuz genagelt ist, was deutlich an das chi-förmige Kreuz in Platos „Timaios“ anknüpft) findet sich noch einmal in den von W. Schneemelcher zwischen 180-190 datierten Petrusakten (Actus Vercellenses). Auch hier steht die Hauptfigur der Erzählung, der Apostel Petrus, vor dem Kreuz, an dem er (mit dem Kopf nach unten) hingerichtet werden soll: „O Name des Kreuzes, verborgenes Geheimnis; o unaussprechliche Gnade, die mit dem Namen des Kreuzes ausgesprochen ist; o Natur des Menschen, die von Gott nicht getrennt werden kann; o unsagbare und unzertrennbare Liebe, die von unreinen Lippen nicht bekannt werden kann; ich erfasse dich jetzt am Ende, da ich mich von hier löse“ (ActPetr 37).[4]

Der Hymnus kann zeigen, dass die Kreuzessymbolik auch mit gnostischen bzw. dualistischen Motiven verwoben wurde, wie ja überhaupt die Gnosis eine ganz eigene Kreuzestheologie entwickelt hat. Typisch dafür ist das, was der Philosoph Hans Jonas einst als „Entweltlichungstendenz“ bezeichnet hat. Das Kreuz gilt hier als Wendepunkt und „Rückzugssignal“, das der Menschheit den Weg der weltlich materiellen zur intellegiblen göttlichen Sphäre weist. Auch dieser Gedanke war bereits vorgeprägt. Seinen literarischen Niederschlag hat er unter anderem in der gnostischen Interpretation des von Hippolyt mitgeteilten vorchristlichen Naassenerhymnus gefunden. Die Entmannung des Attis wird dort als Verlust der stofflichen Teile der niederen Schöpfung und als Eintritt zum höheren Sein interpretiert, „wo weder Weib noch Mann ist, sondern eine neue Schöpfung, ein neuer Mensch, der mannweiblich ist“. [5]

Diese Theologie hat ihre Spuren auch in den Paulusbriefen hinterlassen, nur dass die Bilder und Ausdrucksformen andere sind: Dem Verfasser des Galaterbriefes ist durch das Kreuz Christi die Welt gekreuzigt so wie er der Welt (Gal 6:14; vgl. 2:19f.; Kol 2:20). Kreuz und Kreuzigung bedeuten aber im Prinzip nichts anderes als die Verschneidung im Attis-Mythos.

In freilich sehr entferntem Zusammenhang steht damit auch Senecas Vergleich der „cupiditates“ (Leidenschaften) mit den „cruces“ (Kreuze), an die sich ein jeder eigenhändig festnagelt (De vita beata, 19,3). Und auch bei Philo „hängen die Seelen an der unbeseelten Materie, so wie die Gekreuzigten bis zu ihrem Tode an vergänglichem Holz angenagelt sind“ (De Posteritate Caini, 61).[6] In dem von Philo und Seneca gebrauchten Vergleich, der offenbar wiederum auf Plato zurückgeht, wird das das Kreuz allerdings zum Symbol des Anhaftens an der sinnlich materiellen Welt und nicht der Loslösung – wie bei Paulus.

Leider vergaß ich in der Diskussion mit Wengst auf die berühmte Stelle im zweiten Buch der „Politeia“ (361e – 362a)  hinzuweisen, in der Platon das Schicksal des vollkommenen Gerechten beschreibt. In der Wiedergabe des Kirchenvaters Clemens von Alexandrien, der die Passage wie die meisten anderen gebildeten Christen seiner Zeit kannte, lautet die Stelle folgendermaßen:

„Und ist es ferner nicht dem Schriftwort: ‚Laßt und den Gerechten beseitigen, denn er ist uns lästig’ ähnlich, wenn Platon beinahe mit einer Weissagung auf den Heilsplan des Erlösers im zweiten Buche des Staates so spricht: ‚Wenn der Gerechte sich so verhält, wird er gegeißelt, gefoltert, in Ketten gelegt, an beiden Augen geblendet und schließlich nach allen Martern noch ans Kreuz geschlagen werden?’“[7]

Von neutestamentlichen Exegeten wird häufig darauf hingewiesen, dass sich die Autoren der Passionsgeschichte in den Evangelien am Bild des „leidenden Gerechten“ orientieren. Zumeist nimmt man an, dass sie ihr literarisches Vorbild in den einschlägigen Passagen des Weisheitsbuches im Alten Testament fanden. Doch die Möglichkeit, dass die Evangelisten auch Platos berühmte Auslassungen über das Schicksal des vollkommenen Gerechten kannten, lässt sich natürlich nicht auszuschließen. Dass sie zu einer solchen literarischen Reminiszenz nicht fähig gewesen wären, ist ein Vorurteil, bei dem die alte und inzwischen überholte Vorstellung nachwirkt, das die frühe Christenheit lediglich aus einer Schar ungebildeter galiläischer Fischer, Bauern und Zöllner bestanden haben soll.

Alles in allem lässt sich also zeigen, dass die Kreuzessymbolik bereits in der vorchristlichen Antike reich entfaltet war. Die frühen Christen haben sie keineswegs erst als theologische Antwort auf das historische Ereignis einer Kreuzigung suchen oder erschaffen müssen, sondern sie war längst da und brauchte nur noch ins Christliche transponiert zu werden. Auch wenn das Kreuz von der Menge immer noch als „Schandmal“ betrachtet werden mochte, so war es doch von den Gebildeten der damaligen Zeit, den Philosophen, Theosophen, Gnostikern längst als geistreiches und geheimnisvollen Symbol erkannt und akzeptiert worden. Wie kein anderes war es mit seinem alles umspannenden Bedeutungsspektrum dazu geeignet, im Zentrum eines neuen Mysteriums – und damit einer neuen Mysterienreligion – zu stehen.

Zugespitzt könnte man sogar sagen, dass die geistige Atmosphäre in der Umwelt des frühen Christentums in einem Maße mit Kreuzessymbolik und philosophischen und theosophischen Kreuzesspekulationen angefüllt und gesättigt war, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, wann der Funke endlich überspringen und ein religiöser Schriftsteller auf den Gedanken kommen würde, daraus eine – konkrete Erzählung zu entwickeln. Dass der Held des Evangeliums als leidender Gerechter am Kreuz starb, war, wenn es denn auf diesem Gebiet überhaupt etwas gibt wie „Logik“, für einen christlichen Schriftsteller des 2. Jahrhunderts die nahezu logische Konsequenz.

Anmerkungen

[1]‚Jesus – Mythos und Wahrheit‘ – History Live vom 21.12.2014 – YouTube“, https://www.youtube.com/watch?v=oFswsEdH40E [abgerufen am 03.01.2015].

[2] Cicero, Rab. 5,16

[3] Rahner, Hugo: Griechische Mythen in christlicher Deutung, Bd. 4152, Freiburg im Breisgau, Basel, Wien: Herder 1992 (Herder-Spektrum), S. 58. Vgl. auch den Aufsatz Zur Vorstellung vom Lichtkreuz in Gnostizismus und Manichäismus von Alexander Böhlig in: Gnosis und Synkretismus : Gesammelte Aufsätze zur spätantiken Religionsgeschichte, Tübingen: Mohr 1989, 135-163.

[4] Schneemelcher, Wilhelm und Edgar Hennecke (Hrsg): Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, 4. Aufl., durchges. Nachdr. der 3. Aufl., Tübingen: Mohr 1971, S. 219.

[5] Hipp Ref 5:7

[6] Hengel, Martin und Claus-Jürgen Thornton: Studien zum Urchristentum, Tübingen: Mohr Siebeck 2008, S. 633.

[7] Strom 5.14 108.3 .

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3 Kommentare

  1. Zunächst: Der Akt des Kreuzigens wird im ältesten Evangelium des Markus nur knapp und fast wie eine Nebensache beschrieben. Man könnte vermuten, dass der Autor eine solche Schande so wenig wie möglich betonen wollte, nur fehlten einem dann weitere Argumente, und es bliebe eine Vermutung; aber man könnte genauso vermuten, dass die Interpretation als Schande eine spätere ist und eine frühere ersetzte, und tatsächlich wird das „Kreuz“ wird im Christentum in früheren wie späteren Zeiten mit einem tropaeum gleichgesetzt, also einem Siegeskreuz, was kaum zur Deutung als Schandmal passt. Vielen Dank für den Hinweis auf ActAndr.

    1. Hallo Jules! Ehrlich, ich kann Deine Meinung überhaupt nicht nachvollziehen (was auch an mir liegen könnte 😉 ) Markus schildert die Kreuzigung und Verspottung von Jesus sowohl durch die Soldaten vor der Kreuzigung als auch am Kreuz durch seine Gegner in aller Schändlichkeit. Wenn man die letzten Worte von Jesus in den Evangelien vergleicht (Markus: „Mein Gott, warum hast Du mich verlassen“. Lukas: „Vater, ich befehle meinen Geist in Deine Hände.“ Johannes: „Es ist vollbracht“) sieht man doch, dass Jesus in den anderen Evangelien noch „Herr seiner selbst“ ist, aber bei Markus in verzweifelter Agonie verstirbt und – sozusagen – „erbärmlich verreckt“. Es scheint eher unerträglich, was Markus dem Leser zumutet. Von allen Autoren des Neuen Testaments ist es doch gerade Markus, der die Schändlichkeit des Kreuzes geradezu dramatisiert. Gruße, Kunigunde

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