Wie das Abendland christlich wurde

Harald Specht: Das Erbe des Heidentums – Antike Quellen des christlichen Abendlands. – Tectum Wissenschaftsverlag, Marburg 2015

Mit seinem Buch „Erbe des Heidentums“ hat der durch eine Reihe kulturgeschichtlicher Sachbücher bekannt gewordene Autor Harald Specht aus Köthen sein Summum opus vorgelegt. Diesmal geht es um Europas geistesgeschichtliche Wurzeln. Auf 700 Seiten erwartet den Leser eine Tour de Force durch die Kultur- und Religionsgeschichte des Abendlandes. Der Inhalt des Buches berührt sich teilweise mit der Thematik vorangegangener Werke. Die Ausführungen über die ägyptische Religion basieren auf Spechts Isis-Buch: „Von Isis zu Jesus – 5000 Jahre Mythos und Macht“ aus dem Jahre 2004 (Neuauflage 2010). Der Inhalt der Kapitel über das frühe Christentum überschneidet sich mit „Jesus? Tatsachen und Erfindungen“ (2010). Bei seiner Beschäftigung mit der antiken Zahlensymbolik konnte der Autor auf die Ergebnisse seines Buches „Der Jahwe-Code – Auf den Spuren der heiligen Zahl“ zurückgreifen.

Und doch ist etwas Neues, eine Synthese entstanden. Die verschiedenen Fäden  werden aufgenommen, miteinander verknüpft und zu einem bunten Teppich verwoben. Dem Sprachgebrauch des Autors folgend müsste allerdings eher von Puzzlesteinen gesprochen werden. Diese werden Stück für Stück, Kapitel  für Kapitel zu einer Art Gesamtschau der europäischen Kultur- und Geistesgeschichte zusammengefügt. Angesichts der überwältigenden Materialfülle sicherlich keine leichte Aufgabe. Und doch braucht dem besorgten Leser, der fürchtet, er könne darob den Überblick verlieren, nicht bange zu sein. Der Autor schickt ihn keineswegs ins „Brachland tausender Fakten“ (14). Die Ergebnisse seiner Arbeit  sind wohlsortiert und werden in übersichtlicher Form kommentiert und aufbereitet. In 12 Kapiteln werden die einzelnen Puzzlesteine zum „Bild einer neuen Welt“ zusammengefügt.

Das älteste Eckstück des Puzzles hat mit der „heiligen Geometrie“ zu tun; das Kapitel beginnt  sachgemäß im babylonischen Chaldäa. Bei dem nächsten Puzzlestein geht es um Gestirne und Gestirngötter und um die Erfindung Gottes als Naturprinzip. Das mit „Prophezeiung einer neuen Welt“ überschriebene Kapitel widmet sich der antiken Lehre von den Weltzeitaltern. In Kapitel 5 holt der Autor seinen Leser mit der Beschreibung einer Bildungsreise nach Mailand wieder in die Gegenwart zurück. Nach einem kurzen Resümee folgt ein Kapitel über die „Neuen Götter in Rom“.

Rein formal steht das Kapitel als 6. im Zentrum des 12 Kapitel umfassenden Buches. Er bildet aber auch dessen innere Mitte, da die in den vorangegangenen Kapiteln beschriebenen älteren geistesgeschichtlichen Strömungen hier, d.h. an der Wiege des Christentums, zusammenfließen. Gleichzeitig trennen diese sich wieder in der Weise, dass jene Geistesströmungen, die nicht von dieser absorbiert werden, von nun an unterirdisch weiterlaufen. Keine Frage, dass der mit Geometrie und Winkelmaß vertraute Autor dieses Kapitel mit Bedacht in das Zentrum seines Buches gestellt hat.

Kapitel 7 schließt sich fugenlos an und beschreibt den Weg von den geheimen christlichen „Elitezirkeln“ hin zur Staatsreligion. Kapitel 8 geht den Spuren  des vom Christentum verdrängten antiken Wissens- und Weisheitsstroms nach, der von nun an unterirdisch weiterfließt – oder aber (so das Thema des 9 Kapitels) im neuen christlichen Gewand weiter fortlebt. Das Letztere wird anschaulich an der Gestalt der christlichen „Gottesmutter“ dargestellt. Es folgen zwei Kapitel über die mehrheitlich gnostischen Rebellen in Kirche Kultur und Kunst und über das Fortleben neuheidnischer Geheimsymbole und Metaphern in okkulten, hermetischen Zirkeln und Gemeinschaften. Am Ende kann der Autor dem Leser das Bild einer aus  den geistesgeschichtlichen Wehen der Vergangenheit hervorgegangenen „neuen Welt“ präsentieren.

Wie man unschwer erkennen kann, handelt es sich um ein äußerst materialreiches Werk mit geradezu enzyklopädischem Charakter. Denn man darf nicht vergessen, dass die Puzzlesteine wiederum aus kleineren Einheiten zusammengesetzt sind, die ihrerseits aus noch kleineren Einheiten bestehen. Hier nicht den Überblick verloren zu haben, darf als eine besondere Leistung des Verfassers vermerkt werden.

Von besonderem Interesse ist die Darstellung der frühchristlichen Geschichte, wozu auch jene  Passagen und Kapitel gehören, die sich mit den Nahtstellen beschäftigen, an denen sich die Wandlung des heidnischen Erbes in das Christliche vollzieht. Wo hört Heidnisches auf, wo fängt Christliches an? Und wie verhalten sich Christentum und antike Religion zueinander?

Am Beispiel der christlichen Mariengestalt zeigt der Autor, dass der synkretistische Prozess der Übertragung und Verschmelzung verschiedener Glaubensinhalte keineswegs nur für die “heidnischen“ Religionen galt, sondern selbstverständlich auch das Christentum  einbezog. Wie einst die zur Großgöttin avancierte „zehntausendnamige“  Isis, die sie beerbte, hat Maria  die besten Eigenschaften ihrer Vorgängerinnen und Schwestern in sich aufgesogen und zu einer imponierenden und verehrungswürdigen Gestalt vereinigt. Wie schon Isis wird auch Maria als „Gottesmutter“ bezeichnet. Wie Isis und deren ephesinische Kollegin Artemis wurde Maria  als „Theotokos“ oder als „Himmelskönigin“ angerufen. Wie Isis und die aus dem Meerschaum geborene Aphrodite ist Maria als Stella Maris („Meerstern, dich ich grüße“)  in besonderer Weise die Schutzpatronin der Seefahrer. Wie Isis und wie einst Aphrodite war sie Hüterin der Ehen und Beschützerin der Jungvermählten usw. usw. Kurz, der Parallelen zwischen Maria und Isis sind so viele, die Ähnlichkeiten so stark, dass es schwer fällt, noch zwischen den beiden Göttinnen zu unterscheiden. Einzig die erotischen Motive blieben bei dem Überragungsprozess ausgespart.

Die Methode, derer sich die Kirche in der Auseinandersetzung mit den heidnischen Vorgänger-Religionen und deren Inhalten bediente, wird von Specht treffend beschrieben: „Anstelle der Argumentation trat die Verfälschung und statt der Entgegnung entschied man sich für die Einverleibung“ (405).  Diese doppelte Methode aus Diffamierung und Einverleibung (die inzwischen, wie es scheint,  auch in unserem heutigen Politikbetrieb angekommen ist) wurde bei der Bekämpfung sogenannter Häretiker und Ketzer ebenfalls angewendet und hat sich nun schon über Jahrhunderte bewährt.

Der Zusammenhang der verschiedenen thematischen Blöcke wird durch eine Rahmenerzählung hergestellt, durch die zugleich die Statik der einzelnen Teile aufgelockert und in Bewegung gebracht wird.  Konkret geht es dabei um die Interpretation des Bildes „Et in Arcadia ego“ des Malers Nicolas Poussin. Hier knüpft der Autor wiederum an Probleme an, die sich schon in seinem Buch über die „Geheimnisse großer Gemälde“ (mit dem Titel „Liebe, Laster Leidenschaft“) behandelt wurden; u.a. geht es um die Fragen: „Welche Bedeutung spielte Poussins Symbol der Jungfrau? Warum wird auf Arkadien Bezug genommen? Gab es wirklich  eine geheime Botschaft in Poussins Gemälde?“ oder „Was war die Ursache für den deutlichen Bezug zur pentagonalen Geometrie“ (die der Autor im Bild feststellen zu können glaubt)?

In „Das Erbe des Heidentums“ werden diese Fragestellungen zum Ausgangspunkt einer Entdeckungsreise durch die europäische Kultur- und Geistesgeschichte, deren Stationen sich in den jeweiligen Überschriften der oben beschriebenen Kapitel widerspiegeln. Ob es sich bei der Rahmenerzählung tatsächlich um den authentischen Ausgangspunkt des Buches handelt oder lediglich um ein fiktionales Narrativ, d.h. einen Regietrick des Autors, sei dahingestellt und ist auch unwichtig. Entscheidend ist, dass der Leser dadurch in einen Entdeckungsprozess hineingezogen wird, der ihn bei der Lektüre des Buches bis zum  Ende in seinen Bann zieht.  Dass er bis zum Ende „bei der Stange gehalten“ wird, verdankt sich nicht zuletzt der flüssigen Schreibweise und der besonderen Begabung des Autors, komplexe Sachverhalte ohne unsachgemäße Simplifizierung allgemeinverständlich darzustellen. Zusätzlich gewinnt das etwas sperrig anmutende ziegelsteingroße Buch auch dadurch an Lesbarkeit, dass immer wieder Reflexionen oder biographische Einschübe in die Darstellung eingeflochten werden, wie z.B. der schon oben erwähnte Bericht über eine Bildungsreise nach Mailand.

Inhaltlich setzt sich Specht vor allem an zwei Punkten von der üblichen Mainstream-Geschichtsschreibung ab:

  1. setzt er bei der Beschreibung der christlichen Anfänge nicht bei einem übermenschlichen Wanderprediger des 1. Jahrhunderts an,
  2. versteht er die frühe Gnosis nicht als Gegenbewegung gegen das Christentum. Vielmehr ist das Christentum selbst aus der Auseinandersetzung mit den bestehenden philosophisch-religiösen Strömungen, der Gnosis und den Mysterienkulten hervorgegangen (282).

Dieses Konzept ist mir aus meiner eigenen Arbeit seit Langem vertraut, und daher wird es niemand erstaunen, wenn ich der Grundidee des Buches, eine in sich schlüssige  Entstehungsgeschichte des frühen Christentums als ein ideengeschichtliches Panorama ganz ohne den Mann aus Nazaret zu entwickeln,  an dieser Stelle meinen ausdrücklichen Beifall zolle.  Aus eigener Erfahrung im Umgang mit „radikalkritischen“ Thesen weiß ich allerdings auch, dass viele der dafür vorgebrachten Argumente sich noch in einer Art Erprobungsphase befinden, ja, oftmals noch nicht einmal dies, weil die Wissenschaft sich bis heute beharrlich weigert, sie überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Dass die Paulusbriefe sämtlich unecht sind, entspricht selbstverständlich auch meiner Überzeugung; gleichwohl sollte ein kurzer Hinweis darauf, dass diese Auffassung vorerst noch keine Mehrheitsauffassung ist und daher vorläufig besser im Konjunktiv als im Indikativ stehen sollte, nicht fehlen. Ähnlich geht es mit dem von Frazer einst entworfenen Konzept der „sterbenden und auferstehenden Gottheiten“. Auch hier sollte angemerkt werde, dass dieses Konzept von Religionswissenschaftlern wie C. Colpe, J.Z. Smith und anderen inzwischen mit gewichtigen Argumenten bestritten wurde. Erst neuerdings wurde durch den schwedischen Alttestamentler Tryggve N. D. Mettinger  der Versuch einer Revision und Rehabilitierung Frazers gemacht.

Ein anderer kritischer Punkt betrifft die vom Verfasser getroffene Literaturauswahl. Nicht immer verfährt dieser dabei sehr wählerisch, oftmals werden dubiose Internetquellen oder wissenschaftliche Nonames zitiert, auch werden Sekundär-Quellen häufig etwas unkritisch aneinandergereiht. Alles in allem bietet der Autor zu viele „alternative“ Fakten. Der Christus-Name wird u.a. einmal ägyptisch (KRST), dann jüdisch (christos), dann marcionitisch  (chrêstos) erklärt. Welche Erklärung gilt? Oder gelten alle? Und wenn dies der Fall sein sollte, wie hängen sie zusammen? Argumente werden ja nicht durch Akkumulation besser, sondern durch kritische Sondierung, bei der die Spreu vom Weizen getrennt wird.

Ein eher formales Problem betrifft die Fußnoten, die aufgrund des vom Verfasser benutzten  Textprogramms keine Seitenangaben enthalten, was die Auffindung der jeweiligen Zitate sehr erschwert.

All diese Bedenken schmälern jedoch keineswegs den außerordentlichen Eindruck, den das Buch auf mich gemacht hat. Wer eine alternative Darstellung der frühen christlichen Geschichte (aus radikalkritischer Perspektive) sucht, findet sie hier –in gut lesbarer, allgemeinverständlicher Form.

Für eine wünschenswerte Neuauflage  wäre dem Verfasser der besseren Übersicht halber dringend ein Register anzuraten. Und was den letzten Abschnitt betrifft, so mag man darüber streiten, ob der Hinweis auf John Lennon und seinen Song „Imagine“ ein würdiger und angemessener Ausklang des Buches ist. Meines Erachtens hätte der Autor es bei seinen Betrachtungen über die Europaflagge belassen sollen.  Sollen wir denn wirklich „imaginieren“, dass es besser keine Religion gegeben hätte – was immerhin auch bedeuten würde, dass keine so geistreichen Werke darüber geschrieben werden könnten wie das „Erbe des Heidentums“?!

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1 Kommentar

  1. Aleth, you should write a book about your hypotheses, or at least a big article, scientific publisher, peer review, put it out there for experts to judge or ignore, then post the link to where to buy/get it here in a comment. Just one comment with one link and a short description and maybe the best argument (in short form) from your work. Better than posting all those paragraphs. You’re seriously messing up our RSS feeds, really.

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