Robert Price: The Amazing Colossal Apostle

„It’s only words“

Price, Robert M. (2011): The Amazing Colossal Apostle: The Search for the Historical Paul. The Search for the Historical Paul: Signature Books.

Hermann Detering, 2013

Wir mussten lange warten. Immer wieder wurde es angekündigt, immer wieder wurde der Termin der Veröffentlichung verschoben. Ende 2012 war es dann soweit. Unsere Geduld wurde belohnt. Der Kinovorhang öffnete sich, ein Raunen ging durch den Saal: Price-Production proudly presents „The Amazing Colossal Apostle.“ Womit sich schon im Vorspann die Frage nach dem Starring stellt. In der Rolle des großen Apostels sehen wir – ja wen eigentlich? Geduld, lieber Leser, soweit sind wir noch nicht. Der Reihe nach…

Für ein Paulusbuch klingt der Titel recht ungewöhnlich. Bei uns heißen Paulusbücher: „Paulus: Sein Leben, sein Wirken, seine Zeit“ oder „Paulus: Leben – Umwelt – Werk – Briefe“ usw. Robert M. Price dagegen ist für rockige Buchtitel bekannt – solche, die der ehrbaren Zunft biederer Gottesgelahrten , die immer meinen, seriös könne nur sein, was langweilig ist, vermutlich das Blut in den Adern gefrieren lassen.

Der Titel von Price’s Jesusbuch “The Incredible Shrinking Son of Man” war aus demselben Holz geschnitzt. Er spielte auf den Film „The Incredible Shrinking Man“, eine alte Science-Fiction-Klamotte aus dem Jahre 1957 an, und schilderte – analog zum Schicksal des auf Puppengröße schrumpfenden Filmhelden Scott – den Prozess der Dekonstruktion des geschichtlichen Jesus, bei dem nach Abzug aller mythischen und legendarischen Weiterungen nur noch das nackte historische Dass übrig blieb – möglicherweise noch nicht einmal das. Auch diesmal bezieht sich der Titel auf einen Film aus dem „trashigen“ Genre, auf Bert Gordon’s „The Amazing Colossal Man“, in Deutschland bekannt geworden unter dem Titel: „Der Koloß“. Was das mit dem Apostel Paulus zu tun hat, erklärt uns der Autor am Ende seines Buches, als sich die sagenhafte Gestalt des Apostel nach gründlichem Examen als genauso unwirklich erwiesen hat wie die des radioaktiven Giganten aus dem Science-Fiction-Film: „it was all just a trick of the light with cheap special effect.“ Kein Superapostel, noch nicht einmal ein Autor. „It’s only words“, könnte man sagen, sagt Price auch, nur anders: „only texts.“ Auch bei dem großen Apostel Paulus beruht also alles auf Licht-, Trick- und Knalleffekten. Die freilich sind, wie ich im Gegensatz zu Price bemerken möchte, nicht ganz so billig und leicht zu durchschauen wie die in der schwarzweiß flimmernden Filmklamotte von Anno dunnemal. Wäre es anders, wäre die Forschung auf diesem Gebiet nach gut 200 Jahren sicherlich schon viel weiter. – Wie auch immer, wir nehmen zur Kenntnis: Nach dem Buch über den geschrumpften Jesus nun eines über den aufgeblasenen Paulus. Mangelnde Originalität wird man dem Andy Warhol der neutestamentlichen Kritik schwerlich vorwerfen können.

Um den Nachweis zu erbringen, dass sich die Größe des Apostels, die zumal im Protestantismus zu gigantischen Ausmaßen anschwoll, einer ebenso gigantischen optischen Täuschung, verbunden mit ein paar handfesten special effects verdankt, benötigt der Autor rund 500 Buchseiten. Das ist angemessen angesichts der Größe und des Anspruchs seines Projekts. In jedem Fall verleiht es dem Buch nicht nur in inhaltlicher Hinsicht Gewicht. Zumal in Deutschland, wo der wissenschaftliche Wert von Büchern von manchen gerne in  Kilo und Gramm bemessen wird, kein unwesentlicher Aspekt.

Price’s Buch ist in zwei Hälften geteilt, einer ersten, die neben einer Hinführung zum Thema eine Sammlung von Aufsätzen und Betrachtungen über eine Reihe von Problemen der überlieferten Paulusbiographie und

-werke enthält, und einer zweiten, in der die paulinischen Texte durchlaufend erörtert und kommentiert werden und die zur exegetischen Unterfütterung der Thesen des ersten Teils dient. Die beiden Hauptthesen lauten, vereinfacht gesagt:

  1. Kein einziger Text aus dem Corpus Paulinum stammt aus der Feder des Mannes, den die kirchliche Tradition Paulus nennt.
  2. Die Gestalt des Paulus gehört in den Bereich der Legende; die Schicksale der frühen Kirche wurden von anderen Kräften und Personen bestimmt.

Wer mit so kräftigen Schwimmzügen gegen den Mainstream der Paulusforschung rudert, tut gut daran, sich seinen Lesern vorab erst einmal kurz zu erklären. Bei Price geschieht dies in dem einleitenden Abschnitt „Deconstructing Paul.“ Die Analogie zum Titel seines Buches „Deconstructing Jesus“ ist wohl beabsichtigt. Jesus- und Paulusforschung gleichen sich in vieler Hinsicht. Je problematischer die Rekonstruktion einer zuverlässigen Jesusbiographie von vielen Wissenschaftlern beurteilt wird, umso größer der Raum für Spekulationen, umso größer auch die Versuchung für viele Autoren, sich ein Jesusbild nach eigenem Gustus zurechtzulegen und aus ihm beispielsweise  einen Vorreiter ökologischer Politik, einen Kämpfer für den Feminismus usw. zu machen. Auf ähnlichem Wege ist inzwischen auch Paulus für viele Autoren zu einem neuen „Orakel von Delphi“ geworden. Einigen ganz Gewitzten gelang es sogar, ihn zum Kritiker der amerikanischen Außenpolitik zu stylen. Das alles weist auch auf ein gemeinsames strukturelles Problem: den Zustand der Quellen – hier die Evangelien, dort die im Namen des Apostels überlieferte Literatur – , die in sich nicht weniger widersprüchlich sind als die unterschiedlichen Jesus- und Paulusbilder ihrer Interpreten. Hinter diesem Patchwork-Vorhang disparater Texte ist die historische Gestalt und das individuelle Profil ihrer Protagonisten bzw. Verfasser in beiden Fällen nur noch schwer auszumachen.

Das übliche Verfahren der meisten Paulusinterpreten besteht darin, die Ecken und Kanten der einzelnen Textstücke abzuschleifen und die Passagen zugunsten der Annahme der Autorschaft einer einzigen Person, des Apostels Paulus eben, zu harmonisieren. Dieses Verfahren ist wohl gemeindeverträglich, aber nicht ehrlich. Wie schon sein ehemaligen Lehrer Darrell Doughty lehnt auch Price es ab. Harmonisierung ist keine Exegese (vielleicht müsste man besser sagen: es ist zwar gängige Exegese, aber eben schlechte). Weist nicht die unterschiedliche Tendenz der einzelnen Textstücke in den Paulusbriefen vielmehr auf jeweils unterschiedliche Autoren mit jeweils unterschiedlichen theologischen Vorstellungen?

An diesem Punkt der Untersuchung rückte für Doughty und Price erstmals die Arbeit der holländischen Radikalkritiker ins Blickfeld. In den um die Wende zum 20. Jahrhundert erschienenen und zu Unrecht vernachlässigten Werken eines A. Pierson, S.A. Naber oder W.C. van Manen war die Prämisse, die Briefe müssten aus der Feder eines Autoren stammen, erstmals fallengelassen und zugunsten der Annahme einer Autorschaft unterschiedlicher Verfasser mit unterschiedlichen theologischen Anschauungen ersetzt worden. Mit dem Ergebnis, das damit auch die Annahme der „Echtheit“ der Briefe, die sich vielmehr als eine Art literarischer Flickenteppiche erwiesen hatten (wie Pierson/Naber zumal in ihren Verisimilia eindrucksvoll gezeigt hatten), aufgegeben werden musste. Für Doughty und Price öffnete sich damit eine faszinierende Perspektive.

Hinzu kam, dass Untersuchungen wie die von Schmithals über die Gnosis in Korinth oder auch Elaine Pagels „Gnostic Paul“ die Augen für den starken Einfluss gnostischer Vorstellungen im Corpus Paulinum geöffnet hatten. Schmithals datierte die Paulusbriefe ins erste Jahrhundert. Würde es nicht viel mehr Sinn ergeben, sie dort zu platzieren, wo sich gnostische Ideen (nach Meinung heutiger Wissenschaftler) tatsächlich erstmals nachweisen lassen, d.h. im zweiten?

Und weiter: Was war eigentlich aus dem angeblichen paulinischen Gemeindegründungen des ersten Jahrhunderts geworden (das zweite Jahrhundert kennt keine paulinischen Gemeinden mehr, die Follower-Gemeinde des Apostels besteht nur noch aus Gnostikern und Marcioniten)? Will sagen: Hatte es im ersten Jahrhundert überhaupt schon einen Paulinismus gegeben oder handelte es sich dabei am Ende nur um eine Fiktion? Noch direkter gefragt: Sollte der Paulinismus etwa mit dem Marcionitismus und der Gnosis im 2. Jahrhundert begonnen haben?

Je tiefer Price in das Werk der holländischen Radikalen eindrang, umso stärker verfestigte sich seine Überzeugung, dass hier der Schlüssel für die vielfältigen Probleme der Paulusforschung lag und dass auf dieser Grundlage ein ganz neues Verständnis der Geschichte des frühen Christentums gewonnen werden könnte. Nein, natürlich ging es nicht darum, das Rad neu zu erfinden. Aber was sollte wohl verwerflich daran sein, die schleppenden Fußes vorwärtsstolpernden Paulusexegeten am Straßenrand aufzusammeln und zu einer Probefahrt im Daimler einzuladen?

So in etwa und etwas zugespitzt Price (ohne Daimler). Mit der Schilderung seiner Entwicklung vom Mainstream der Paulusforschung zum Vertreter der Unechtheitstheorie reiht sich Price endgültig in die Zahl all jener Konvertiten (den Verfasser dieser Zeilen eingeschlossen), die irgendwann einmal als brave Theologiestudenten begannen, um nach vollzogener Kehre als Gregor Samsas ihrer Zunft zu enden. Der neueste Fall dieser Art ist der des Direktors des dominikanischen Bibelinstituts in Limerick, Thomas L. Brodie. Der kann anders als Price, bei dem sich die Hinwendung zum Radikalismus offenbar peu à peu vollzog, den Zeitpunkt seiner Bekehrung exakt datieren. Wie andere fromme Christen sich an Tag und Stunde ihrer „Wiedergeburt“ erinnern, weiß auch Brodie noch genau, wann bei ihm der Groschen fiel (The Penny Finally Drops): Es geschah an einem Maimorgen im Jahre 2008 in der Bibliothek seines Bibelinstituts in Limerick. Da traf ihn der Gedanke, dass Paulus keine historische, sondern eine literarische Gestalt sei wie ein plötzlicher Schock, „it also hit me quite simply as the truth“ (S. 147). Wohl um ihm Zeit zu geben, sich wieder von seinem Schock zu erholen, haben wohlwollende confratres ihren Direktor inzwischen von seinem Dienst dispensiert.

Einmal vom holländischen Virus infiziert, geriet Price dann immer tiefer in den Strudel des pauluskritischen Radikalismus, mit dem Ergebnis, dass er den konservativen Standpunkt, den er ursprünglich eingenommen hatte, bald weit hinter sich ließ. In seinem Buch möchte Price denselben Weg noch einmal mit seinen Lesern zurücklegen und zunächst mit der gängigen Annahme beginnen, dass die Briefe tatsächlich aus der Feder des Apostels stammen, um dann Schritt für Schritt zu zeigen, wie brüchig der Boden ist, auf dem diese Annahme basierte. Der Kühnheit mancher Thesen ist sich der Autor durchaus bewusst. Er ist großzügig genug, es dem Leser zu überlassen, bei allzu halsbrecherischer Fahrt aus seinem Zug auszusteigen, wann immer er möchte.

Ein unheiliges Wort zur heiligen Sieben

Am Rande kommt Price in seiner Einleitung auch auf die „magische Sieben“ zu sprechen, d.h. auf den von vielen Paulusforschern inzwischen für sakrosankt gehaltenen Kanon von angeblich sieben echten Briefen: Römerbrief, 1./2. Korintherbriefe, Galaterbrief, 1. Thessalonicherbrief, Philipperbrief und Philemonbrief. Price bemerkt zu Recht, dass dieser vermeintlich verlässliche Kanon bereits durch F.C. Baur, der nur noch vier Briefe als echt gelten ließ, in Frage gestellt wurde. Letztlich habe sich aber wieder die Siebenzahl durchgesetzt, vor allem aus praktischen Gründen, weil die Theologie einer breiteren Grundlage bedurfte (S. xi). Richtig! Price vergisst jedoch hinzuzufügen, dass die Siebenzahl in der exegetischen Praxis der meisten Wissenschaftler heutzutage ohnehin kaum eine Rolle spielt. Es ist gut zu wissen, dass fast alle Exegeten, die ihre vermeintlich „stabile gemeinsame Basis“  von sieben echten Briefen wie eine Monstranz vor sich hertragen (um jeden, der sich außerhalb ihres Kanons stellt, sogleich mit dem Bannfluch der Unwissenschaftlichkeit belegen), tatsächlich mehr als sieben Briefe kennen. So spricht beispielsweise auch Jürgen Becker mit Blick auf Römerbrief, 1./2. Korintherbriefe, Galaterbrief, 1. Thessalonicherbrief, Philipperbrief und Philemonbrief von einem „sicheren Grundstock“ (Paulus, Apostel der Völker, S. 10). Derselbe Theologe vertritt jedoch an anderer Stelle die Meinung, dass der Philipperbrief und der 2. Korintherbrief in Wahrheit nicht zwei, sondern eine Komposition aus 2 (Phil)+3 (2Kor) =5 Briefen seien. Damit aber hat sich Beckers vermeintlicher Sieben-Briefe-Kanon in Wahrheit auf einen Zehn-Briefe-Kanon erweitert!

Becker gehört innerhalb der neutestamentlichen Exegeten zur Fraktion derer, die ein minimalistisches Programm vertreten. Es gab und gibt Neutestamentler, die viel weitergehen als Becker und noch wesentlich mehr Paulusbriefe innerhalb der Paulusbriefe entdeckt zu haben glauben. Dabei ist die genaue Anzahl oft dem Geschmack und der Willkür der Exegeten überlassen. Konservative Theologen wie Becker, die ihren eigenen Biedersinn zum Maßstab für das machen, was historisch sein soll, entscheiden sich gerne für eine moderate Lösung von, sagen wir, 9-11 Briefen; ein faustischer Typ wie Walter Schmithals, schreckte auch vor der Annahme von 16 und mehr kleinen Apostel-Billets nicht zurück.

Es erweist sich also, dass viele Paulusbriefe, vor allem aber der 2. Korinther- und der der Philipperbrief, ohne literarkritische „Notoperationen“ von der Forschung gar nicht mehr als authentische Briefe akzeptiert werden würden, wenn man sie nicht sozusagen am „Tropf“ tiefgreifender literarkritischer Umstellungen, hypothetischer Situationsangaben und phantasievoll erdachter Handlungsabläufe am Leben erhielte.

Dass sich angesichts dieses ständigen Hin und Her und Auf und Ab der Forschungsgeschichte das Blatt irgendwann zugunsten eines anderen Echtheitskanons wenden wird, ist nicht von vornherein auszuschließen und sogar sehr wahrscheinlich. Dies auch deswegen, weil vorauszusehen ist, dass zukünftige Ausleger auf der „recht stabilen gemeinsamen Basis“, wie Becker selber einräumt, immer wieder gerne „ihre je eigenen Akzente“ setzen werden – schon allein deswegen, um nicht ganz in der grauen akademischen Masse zu verschwinden und ihren je eigenen theologischen Lehrstuhl zu erhalten.