FAQ

1. Was ist Radikalkritik?

Als „Radikalkritik” wird eine extrem kritische Richtung in der Geschichte der Erforschung des Neuen Testaments bezeichnet. Zu ihren bekanntesten Vertretern gehört eine Gruppe niederländischer Wissenschaftler aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Der letzte von ihnen war der Hochschullehrer Gustaaf Adolf van den Bergh van Eysinga (gest. 1957). Ihren Namen verdankten die Kritiker der Tatsache, dass  sie die herkömmlichen Theorien über die Entstehung des Christentums „radikal” in Frage stellten. Sie bezweifelten  nicht nur die  Echtheit sämtlicher Paulusbriefe, sondern auch die Existenz eines historischen Jesus. Viele Kritiker waren christliche Theologen. Sie bemühten sich gleichwohl um ein undogmatisches, rein historisches Verständnis der überlieferten christlichen Schriften. Die ursprünglich abwertend gemeinte Bezeichnung „Radikalkritik“ bzw. „radikale Kritik“ wurde auch von ihnen akzeptiert. „Radikal” kommt  von radix (lat.)  = Wurzel.  Eine Kritik, die an die „Wurzeln” geht, war das erklärte Ziel der niederländischen Kritiker.

2. Welches sind die wichtigsten radikalkritischen Thesen?

1) Weder kann die Gestalt eines Jesus von Nazaret noch die Existenz eines frühen Christentums im 1. Jahrhundert „n. Chr.“ historisch nachgewiesen werden. Bei den nichtchristlichen Zeugnissen (Josephus, Tacitus, Plinius, Sueton, Mara bar Serapion, Thallus, Phlegon) handelt es sich in der Regel um spätere christliche Interpolationen bzw. Fälschungen (im Fall des Sueton ist eine Interpretatio Christiana schon deswegen verfehlt, weil gar nicht von Christus, sondern von einem Chrestus unter der Regierung des Claudius,  41-54, gesprochen wird).

2) Bei den Schriften des Neuen Testaments handelt es sich um Literatur des 2. „nachchristlichen“ Jahrhunderts. Die übliche Datierung „nach 70“, d.h. zwischen 70-100, ist willkürlich. Die 4 Evangelien werden erstmals gegen Ende des 2. Jahrhunderts bezeugt (Irenäus); Vorstufen gibt es offenbar in der Mitte des 2. Jahrhunderts (Justins „Erinnerungen der Apostel”). Auf eine Entstehung nach 135 deutet auch die sog. Kleine Apokalpyse (Mk 13 par), in der offenkundig Ereignisse der Bar Kochba-Zeit geschildert werden.

Die von den Neutestamentlern als „Hauptzeugen“ für eine Datierung um 70 angesehenen Ignatiusbriefe und der 1. Clemensbrief sind (spätere) Fälschungen (so schon die Reformatoren, im Hinblick auf die Ignatianen auch Wissenschaftler wie Hübner und Schmithals).

3) Die Paulusbriefe sind im 2. Jahrhundert aus dem Schoß der marcionitischen Gnosis hervorgegangen und wurden erst nach gründlicher Überarbeitung von der Kirche in Rom übernommen. Das ist u.a. daran zu erkennen, dass die marcionitische Fassung, soweit sie uns erhalten ist, ursprünglicher ist als die katholische/kanonische bzw. der Textus Receptus. Außerdem werden gegnerische Gruppierungen bekämpft, die erst im 2. Jahrhundert existierten („Judaisten” wie Elchasai und Cerinth).

Die Paulusbriefe enthalten keine Angaben über einen historischen Jesus, sondern nur über einen vom Himmel herabgestiegenen und nach seinem Erdenleben wieder gen Himmel gefahrenen Gottessohn. Das Paulusbild der Paulusbriefe und der Apostelgeschichte widersprechen sich. Die Apostelgeschichte weiß gar nichts von paulinischen  Briefen. Die Apostelgeschichte ist der Versuch, Paulus  kirchlich zu integrieren, d.h. vor allem in die jüdische Tradition, in die er bei Marcion nicht hineingehörte.

4) Der „historische Jesus“ ist ein Phantom der neutestamentlichen Wissenschaft, das mit Hilfe der sog. „Abzugsmethode“, d.h. durch willkürliche Streichung aller unliebsamen oder wunderbaren, legendären Züge zustande gekommen ist. Die Vielzahl von Jesusbildern zeigt, dass sich jede Zeit den Jesus zurechtgemacht hat, der ihren jeweiligen religiösen/kirchlichen/politischen Erfordernissen am besten gerecht wurde (nach dem Friedens- und Frauen-Jesus jetzt der ökologische).

5) Es ist eine seit Bultmann beliebte Auskunft zu sagen, der Mythos habe die Geschichte vom Menschen Jesus (nach dessen Auferstehung) „aufgesogen”. Er sei von der christlichen Gemeinde „benutzt“ worden, um die „Bedeutung“ Jesus für die Gemeinde auszusagen. Aber das ist problematisch, da nach Abzug aller als „kerygmatisch“ angesehenen Bestandteile, aller mythischen Elemente, aller „Rückprojektionen“, aller volkstümlichen Verschiebungen und „Anreicherungen“ von einem „Leben Jesu“ nichts übrig bleibt, was uns das Recht gäbe, eine historische Person vorauszusetzen. Auch kein nacktes „Dass des Gekommenseins“. Es gibt kaum einen Zug im Jesusbild der Evangelien, für den das antike religiöse Umfeld nicht eine entsprechende Parallele böte.

6) Am Anfang des Christentums stand eine Erlösergestalt, die noch in kein Zeitschema gehörte. Ihr Ursprung liegt vermutlich in der jüdisch beeinflussten Gnosis Alexandriens/Ägyptens (Spielarten dieser Gnosis wohl auch in Kleinasien und Samarien). Aber auch die antike Logos-Religion und das antiken Mysterienwesen (Christus trägt bekanntlich viele Züge antiker Heilandsgestalten z.B. Attis und Dionysus, auch Herakles, siehe neuerdings wieder Mettinger) haben viel zu ihrer Entstehung beigetragen.

7) Das ursprüngliche christlich gnostische Christus-Metaversum wurde Mitte des 2. Jahrhunderts durch die christliche Gemeinde Roms mit dem Histoversum „abgeglichen“. Neben dem Alten Testament spielte das Geschichtswerk des Josephus dabei eine Rolle. Literarisches Resultat dieser Arbeit waren die vier Evangelien und die überarbeiteten Paulusbriefe. Dabei wurden kirchliche Auseinandersetzungen der Gegenwart (2. Jh.) in das 1. Jahrhundert zurückprojiziert.

Die Notwendigkeit zur Historisierung des gnostischen Christus ergab sich aus kirchenpolitischen Gründen: Eine doketische Scheingestalt eignete sich schlecht als Ausgangspunkt für eine auf Tradition sich gründende kirchliche Hierarchie. Da für die Mehrheit der Gläubigen (bis heute) nur das wirklich ist, was historisch ist, erkannte die Kirche früh die Chancen, die in dem „Dogma“ eines körperlich-leiblich („historisch“) existierenden Jesus liegen.

8) Der „historische Jesus“ ist das Resultat eines wissenschaftlich-historischen und religiösen Irrwegs. Es ist heute dringend geboten, sich vom „geschichtlichen Glauben“ eines Küng, Crossan, Theißen usw. zu verabschieden, um hinter der historischen Staffage der Evangelien wieder die Welt der religiösen Bilder und Symbole zu entdecken (Novalis, C.G. Jung, Eugen Drewermann). Glaube ist kein Fürwahrhalten historischer Tatbestände. In der Religion kann es nicht um historische Fakten, sondern nur um existentielle Wahrheiten gehen.

3. Wie entstand die Webseite?

Die Grundideen der damaligen „Radikalen” sind nie überzeugend widerlegt worden. Es ist wichtig, sie bekannt zu machen, weiterzuentwickeln und mit heutigen Ansätzen der Erforschung der frühchristlichen Geschichte ins Gespräch zu bringen.  Die Unkenntnis radikalkritischer Theorien war und ist leider auch in Theologenkreisen sehr groß, leider auch die Ignoranz. Da der Herausgeber weder für das eine noch das andere in den einschlägigen theologischen Foren und Medien Möglichkeiten der Publikation und Diskussion radikalkritischer Thesen fand, erwies sich das Internet als Glücksfall.  Für relativ geringe finanzielle Mittel stand dort unbeschränkter Raum zur Veröffentlichung radikalkritischer  Schriften und selbst  Bücher zur Verfügung. Es ergaben sich Möglichkeiten zur Diskussion und zum Publizieren eigener Beiträge – ohne jede Zensur und Beschränkung. Die Seite: radikalkritik.de ging im Jahr 2000 ins Netz.
Zu erwarten war, dass die Reaktion der Theologenschaft darauf eine ähnliche sein würde wie schon bei den Vorgängern und dass die Thesen entweder „radikal” abgelehnt, totgeschwiegen oder ins wissenschaftliche Abseits gestellt würden. Entschädigt wurde der Herausgeber durch Leser und Leserinnen, die ihm  bestätigten, dass sie durch die Seite neu zum Nachdenken (vor allem über Fragen zum Verhältnis von Glauben und Geschichte) angeregt worden seien. Kirchliche Mitarbeiter zogen es häufig vor, anonym zu  bleiben.  Manchen erging es auch wie dem Herausgeber selber: Die radikalkritischen Thesen wurden zum „eye-opener”, mit dessen Hilfe sich nicht nur der Nebel der frühchristlichen Geschichte ein wenig lichtete, sondern auch Glaubensfragen klärten.

4. Was sind „Mythizisten”?

Durch die Veröffentlichung des Bibelwissenschaftlers Bart Ehrman „Did Jesus exist?“ sind die „mythicists” (hier – etwas unschön – mit „Mythizisten” übersetzt) in den USA einer größeren Öffentlichkeit bekanntgeworden. Damit sind Autoren, Blogger, Forenteilnehmer etc. gemeint, die die Existenz eines historischen Jesus bestreiten und die Meinung vertreten, dass das neutestamentliche Jesusbild auf der Grundlage heidnischer Mythen entstanden sei. „Mythicism” ist mithin eine angelsächsische Variante der Radikalkritik, mit der er viele Thesen gemeinsam hat. Vielfach ließen sich  Mythizisten durch ältere, radikalkritische Werke anregen. Allerdings lassen die Veröffentlichungen einiger moderner Autoren oftmals wissenschaftliche Methode  und Sorgfalt vermissen, was man von den Radikalkritikern der alten Schule sicher nicht sagen kann. Eine seriöse Aufnahme der alten Fragestellungen findet sich unter anderem bei Robert M. Price, Darrell Doughty, Earl  Doherty, Thomas Thompson oder Richard Carrier  (vgl. http://www.centerforinquiry.net/jesusproject). Die Autoren haben zum Teil einen recht unterschiedlichen weltanschaulichen Hintergrund. Die Bestreitung der Echtheit sämtlicher Paulusbriefe, das alte Merkmal der holländischen Radikalen, findet sich heute – abgesehen von dem Herausgeber dieser Webseite  – allerdings nur bei Robert M. Price.  Zusammen mit dem inzwischen verstorbenen Darrel J. Doughty war Price Herausgeber des Journal of Higher Criticism, in  dem neben u. a. auch Robert Eisenman, Jacob Neusner, George Albert Wells, Hyam Maccoby,  Artikel veröffentlichten. Die letzte Ausgabe des JHC erschien 2003.