Albert Kalthoff – Werke

Das Christus-Problem

Grundlinien zu einer Sozialtheologie von A. Kalthoff

Verlegt bei Eugen Diederichs Leipzig 1902

 Erstes Kapitel

Man kann es für die neuere Geschichtsforschung geradezu als ein Verhängnis bezeichnen, daß die Methode des modernen wissenschaftlichen Denkens, welche doch auch für die Geschichtswissenschaft maßgebend sein muß, zuerst unter dem Namen der materialistischen Geschichtsbetrachtung und in der Gestalt, die der Begründer derselben, Karl Marx, ihr gegeben, ihre weiteren Kreise gezogen hat. Das moderne Denken ist evolutionistisch. Es sucht alle einzelnen Erscheinungen des Lebens im Zusammenhange des Entwickelungsgedankens zu erfassen. Der historische Materialismus, wenigstens in seiner ältesten ursprünglichen Form, betrachtet nun ausschließlich die in der Gesellschaft wirksamen Produktivkräfte als die alle Bewegungen der Geschichte regelnden Faktoren. Die Klassenkämpfe, welche sich in der Gesellschaft aus dem beständig sich erneuernden Widerspruch zwischen den bestehenden Eigentumsverhältnissen und den fortschreitenden Produktionsweisen des wirtschaftlichen Lebens immer wieder vorbereiten, dann in bestimmten Katastrophen zum Austrag kommen, erscheinen als die treibenden Faktoren des gesamten historischen Lebensprozesses. Es läßt sich nicht leugnen, daß der historische Materialismus in dieser Gestalt durch die Verbindung, die derselbe mit der Partei des radikalen Sozialismus eingegangen ist, schnell ein Machtfaktor im modernen politischen Leben geworden ist. Aber er hat auch durch seine dogmatische Verwertung innerhalb dieser Partei wesentlich zu den Einseitigkeiten beigetragen, die seinen Anhängern den freien Blick für die Wertung der geistigen Faktoren in der Geschichte beschränkt haben. Wenn auch Ed. Bernstein vorgeschlagen hat, die materialistische Geschichtsbetrachtung

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sicher die ökonomische zu nennen, so genügt doch auch dieser Name wohl kaum, weil auch dann, wenn zugegeben wird, daß die ideologischen Lebensgebilde: das Recht, die Philosophie, die Kunst, die Religion, durch die ökonomischen Vorgänge bedingt sind, doch um des einheitlichen Zusammenhangs der Geschichte willen auch eine Rückwirkung dieser idealen Faktoren auf den ökonomischen Prozeß behauptet werden muß, so daß erst in der Wechselwirkung beider Seiten des Lebens, der materiellen und der ideellen, das ganze Gebiet der Geschichte begriffen werden kann. Bis ein besserer Name gefunden sein wird, dürfte diese neuere, monistische Geschichtsauffassung vielleicht am besten als die realistische bezeichnet werden, weil auch die abstraktesten, geistigsten Lebensgebiete als Kulturfaktoren in der Geschichte nur in Betracht kommen, sofern dieselben Realitäten sind und dem Wirklichkeitsleben gerade so gut angehören wie die konkreten Erscheinungen des ökonomischen und sozialen Lebens.

Für die bürgerlichen, namentlich kirchlichen Kreise der Gesellschaft wurde der Name Geschichtsmaterialismus indeß noch verhängnisvoller als für die sozialistischen Kreise. Die unklaren Empfindungen, die das Wort Materialismus für den noch dualistisch denkenden Teil der Menschen im Gefolge hat, ließen eine unbefangene Würdigung dessen, was die neuere Geschichtstheorie eigentlich bedeute, nicht zu. Man dachte sich bei dem Geschichtsmaterialismus einen neuen Angriff auf die geistigen Güter der Menschheit, vielleicht gar die Proklamierung des alleinseligmachenden materiellen Genusses, und auf diese Weise wurde der historische Materialismus um seines Namens willen mit dem Bann belegt, bevor derselbe noch richtig verstanden, geschweige denn nach seinem Wert oder Unwert für die Wissenschaft, auf den es hier doch allein ankommt, ge-

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würdigt worden war. Zudem wurde der Gegensatz, der zwischen den bürgerlichen Parteien und der Sozialdemokratie sich herausgebildet, naturgemäß auch auf eine Geschichtstheorie übertragen, von der die bürgerlichen Kreise ohne weiteres annahmen, daß dieselbe gebildet sei, um dem radikalen Sozialismus sein wissenschaftliches Ursprungsattest auszustellen. Man vergaß im Eifer des Kampfes ganz und gar, daß die Grundgedanken des historischen Materialismus keiner politischen Partei angehören, sondern unveräußerliche Bestandteile des modernen wissenschaftlichen Denkens ausmachen, daß nicht Karl Marx, sondern Immanuel Kant der erste wissenschaftliche Vertreter einer Weltanschauung gewesen ist, von der die Marxistische Geschichtsbetrachtung doch nur eine einseitige Anwendung gemacht hat. Wie Kant durch den von ihm erst entdeckten Begriff des Naturgesetzes die moderne Naturwissenschaft geschaffen, so hat er durch den Begriff des historischen Gesetzes auch die moderne Geschichtswissenschaft begründet, er hat durch das Prinzip von der Einheitlichkeit aller Vernunfterfahrung, auf welches er seine ganze kritische Philosophie gegründet, auch das historische Gesetz als eine besondere Anwendung des in dem Naturgesetz wirksamen Vernunftgesetzes betrachten gelehrt. So hat Kant die Vorgänge der Menschheitsgeschichte in den organischen, das heißt naturgesetzlichen Entwickelungsprozeß des gesamten Lebens eingegliedert. Er behauptet (Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht), daß die Erscheinungen des Willens, die menschlichen Handlungen, ebensowohl als jede andere Naturbegebenheit, nach allgemeinen Naturgesetzen bestimmt seien. Er stellt die Erreichung einer allgemeinen, das Recht verwaltenden, bürgerlichen Gesellschaft als das größte Problem für den Menschen hin, zu dessen Auflösung die Natur ihn zwinge, und bezeichnet als das

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Mittel, dessen sich die Natur zu diesem Zwecke bedient, den Antagonismus der menschlichen Anlagen in der Gesellschaft. Da haben wir die Hauptbestandteile der marxistischen Geschichtstheorie: zunächst die naturgesetzliche, d. h. empirische Basis für die Totalität aller historischen Erscheinungen, dann den Klassenkampf als treibende Kraft der historischen Entwickelung, und endlich das ideale Ziel eines Vernunftstaates, zu dem die historische Entwickelung sich hinbewegt. Aber auch Kant hat nur in der für den deutschen Philosophen gegebenen Schulsprache einen Gedanken ausgesprochen, der nun einmal zu dem unveräußerlichen Inventar des wissenschaftlichen Bewußtseins der modernen Zeit gehört. So schafft Aug. Comte unabhängig von Kant, ja von ganz andern Prämissen ausgehend, den französischen Positivismus, der in der Soziologie als einer wissenschaftlichen Erforschung und Darstellung der menschlichen Gesellschaft und ihrer Entwickelungsgesetze gipfelt, und Spencer führt in England auf positivistischer Grundlage den Riesenbau seiner synthetischen Philosophie auf, in welchem wieder die auf Biologie gegründete Soziologie das wichtigste Stockwerk darstellt. Auch in Deutschland fängt die bürgerliche Wissenschaft heute an, die ihr durch das Ursprungsattest der modernen Geschichtsbetrachtung gegen dieselbe eingeflößte Abneigung zu überwinden. Rud. Stammler untersucht das organische Verhältnis zwischen dem wirtschaftlichen Leben und den jeweiligen Rechtsformen auf Kantscher Grundlage, Karl Lamprecht schreibt, von den gleichen Ideen beeinflußt seine deutsche Geschichte, insbesondere schafft die soziologische Forschung neues Licht über die Entstehung der Gesellschaft und die ursprünglichen, zum Teil noch prähistorischen Formen derselben, und Werke wie die von Morgan, Bachofen, Schurz wären ohne die durch die realistische Geschichtsbetrachtung geschaffenen Fundamente un-

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denkbar. Überall, wo neue Gesichtspunkte innerhalb der Menschheitsgeschichte gewonnen werden, sind es auch die Bahnen der soziologischen Forschung, die zu denselben geführt haben. Die Theorie von den großen einzelnen, als den Trägern der Menschheitsgeschichte, die Carlylesche Heldengeschichte, hat für die moderne Geschichtswissenschaft keine Bedeutung mehr, sie dient lediglich noch zur Befriedigung eines aus Gemüt und Phantasie seine Nahrung gebenden Bedürfnisses, sofern sie nicht das Werk einer alldurchsichtigen Interessenvertretung bedeutet. Dabei ist es doch ein Mißverständnis, wenn der Soziologie schuld gegeben wird, sie sei individuenfeindlich, sie lasse überhaupt keinen Raum mehr für menschliche Größe und wolle durchaus jedes Genie in der nivellierten Masse und den in derselben naturgesetzlich wirkenden historischen Gesetzen untergehen lassen. Das Entwickelungsgesetz der Gesellschaft ist eben ihre Differenzierung in Individuen, und das Individuum bleibt deshalb unter allen Umständen der Träger der Menschheitsgeschichte. Die geistigen Faktoren, die Ideen, die als Bewegungsfaktoren in der Geschichte auftreten, erscheinen zwar keineswegs als individuelle Gründungen, sondern als Kulturprodukte, die als Wirkungen vorangegangener Ursachen notwendig sind, aber diese Ideen haben doch immer in den Einzelnen individuelles Leben, sie erhalten in den Einzelnen, kraft der in ihnen vorhandenen Veranlagung und Ausrüstung, ihren individuellen Ausdruck. Das Individuum, auch das Genie ist aber kein Mirakel, es ist naturgesetzlich und gesellschaftlich bedingt, deshalb kann die Forschung bei den großen Männern nicht Halt machen, sie muß, wie Spencer ausführt, nun weiter fragen: woher kommen denn die großen Männer? Mit dieser Frage gelangt die Geschichtswissenschaft freilich oft zu ganz anderen Größenschätzungen als die traditionelle Geschichts-

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darstellung, weil die geschichtlichen Größen, das heißt die ausschlaggebenden, in großen Krisen der Menschheitsentwickelung Gestaltung schaffenden Größen oft genug weit abliegen von denjenigen Punkten, auf denen der nur dem Augenschein folgende Blick sie sucht.

In der Theologie hat die realistische Geschichtsbetrachtung ihren befruchtenden Einfluß noch fast ausschließlich auf dem Gebiete der alttestamentlichen Forschung bemerkbar gemacht, in der großen Revolution der alttestamentlichen Wissenschaft, die an die Namen Wellhausen und Stade sich anschließt. Für die verschiedenen religionsgeschichtlichen Phasen, die Gott Jahwe von seinen ersten Anfangen im Naturkultus des altisraelitischen Stammesleben bis zu seinen geistigsten Ausprägungen in den Ausläufern des späteren Judentums durchlaufen hat, ist der reale Untergrund in der entsprechenden Gesellschaftsgeschichte klar gelegt, so daß dem Inhalte des Gottesbewußtseins in der Jahwe-Religion jedesmal eine bestimmte Formation des lokalen und politischen Lebens parallel geht. Und der religiöse Wert dieser Geschichte hat wahrlich dadurch in keiner Weise etwas eingebüßt, daß hier an einem durchsichtigen, auch untrem Volke geläufigen Beispiel erkennbar wird, wie die Religion ein integrierender Faktor der Volksgeschichte ist, und wie das Auf- und Niederwogen, das Vorwärtsdrängen und das Zurückgestautwerden der religiösen Strömungen in einem genauen und lebendigen Zusammenhange mit dem ganzen Entwickelungsgange des Volkslebens steht. Aber was für das alte Testament recht gewesen ist, das muß für das neue billig werden. Die ganze Geschichte des Christentums fordert nach dem Stande der Dinge im kirchlichen, und mehr noch im religiösen Leben des Einzelnen, gebieterisch eine solche Darstellung, bei welcher das Christentum nicht mehr

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als eine über den Menschen schwebende Macht, nicht als eine von allen übrigen Funktionen des Menschenlebens isolierte Erscheinung behandelt, sondern in den ganzen sozialen und kulturellen Lebensprozeß der christlichen Nationen eingegliedert wird. Die Entwickelungsgeschichte des christlichen, des trinitarischen Theos muß die gleichen Gesetze aufzeigen wie die, welche in jeder anderen Religionsgeschichte wirksam sind, nur daß das geistige Leben des christlichen Theos, der die Führung in einer neuen weltgeschichtlichen Ära übernommen, in seiner dogmatischen Ausdeutung und kirchlichen Entfaltung naturgemäß ungleich verwickelter und reicher ist als dasjenige, welches irgend eine andere Religionsgeschichte aufzeigt. Das schwierigste, aber zugleich dankbarste Gebiet für eine soziologische Betrachtungsweise des Christentums ist ohne Zweifel die Geschichte des Urchristentums. Hier wird die Methode moderner Geschichtsforschung ihre entscheidende Probe abzulegen haben. Sollte dieselbe dauernd hier versagen, so würde sie nicht mehr den Anspruch erheben können, eine allgemein gültige zu sein. Aber so lange auch die Theologie noch glaubt, den Bestand und Wert der christlichen Religion darauf gründen zu müssen, daß sie sich der Einordnung des Ursprungs dieser Religion in die allgemeinen Gesetze der Geschichte widersetzt und über diesen Ursprung einen dogmatischen Schleier ausbreitet, wird eine freie und unbefangene Würdigung des Christentums für den heutigen Menschen unmöglich werden. Die Epigonen der liberalen Theologie, welche sich noch immer als Vertreter echter historischer Wissenschaft ausgeben und gelegentlich auch noch für ihren Anspruch Glauben finden, zeigen gerade an den Problemen des Urchristentums, wie wenig von ihnen für ein historisches Verständnis des Urchristentums zu hoffen ist. Soll die ungeheure Geistesarbeit,

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welche in dem Bienenfleiß der Besten unsrer protestantischen Theologen gethan ist, für eine wirklich religionsgeschichtliche Erkenntnis des Urchristentums und damit der gesamten christlichen Kirchengeschichte fruchtbar gemacht werden, so muß die Theologie wahrhaft historisch denken lernen, sie muß aus einer liberalen eine soziale Theologie werden.

Zweites Kapitel

Innerhalb der gelehrten Forschung giebt es kein Problem, auf welches sie soviel Mühe verwandt hätte, wie auf das, welches in der kritischen Untersuchung der neutestamentlichen Evangelien beschlossen liegt, es giebt aber auch keines, welches sich bis jetzt so hartnäckig jeder befriedigenden Lösung widersetzt hätte wie dieses. Die alte protestantische Theologie mit ihrem Dogma von der göttlichen Inspiration der Bibel las naturgemäß über alle historischen Anstöße in den Evangelienschriften hinweg. Was Gott den biblischen Schriftstellern eingegeben, was er ihnen diktiert bis zu den einzelnen Worten und Buchstaben, ja bis zu den vorhandenen Fehlern der Grammatik und der Übersetzung, das konnte der Mensch nur lesen und gläubig hinnehmen. Seitdem aber das Fundamentaldogma der protestantischen Orthodoxie auf der ganzen Reihe der heutigen Theologen wenigstens der Sachen nach fallen gelassen ist und nur noch von vereinzelten Vertretern derselben dem Namen nach, d. h. als theologische Phrase festgehalten wird, haben die Evangelien der Bibel der gelehrten Forschung ein Rätsel aufgegeben, das beispiellos in der Geschichte der Littera-

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tur dazustehen scheint. Vier verschiedene Berichte schildern einen und denselben Vorgang, aber der Vorgang selbst will sich aus den Berichten nicht darstellen lassen. Wie müssen die Evangelien angesehen und behandelt werden, um aus ihnen einen richtigen und zuverlässigen Bericht über das von ihnen Erzählte entnehmen zu können? Zur Beantwortung dieser Frage hat die Theologie in mehr als hundertjähriger Arbeit die ganze Reihe aller möglichen Kombinationen durchlaufen, von der alten naiven Harmonistik, die alle vier Evangelien ineinander arbeitete, weil man annahm, daß jedes derselben von einem Augenzeugen der darin enthaltenen Erzählungen herrühre und also jedes derselben eine Ergänzung für die Lücken des andren darbiete, bis zur Behauptung der vollen Unglaubwürdigkeit aller Evangelien, von denen kein einiges auf Authenticität Anspruch machen könne. Nachdem die Schleiermachersche Schule die höhere Dignität des vierten Evangeliums gegen die drei ersten, die sogenannten Synoptiker ausgespielt, wandte sich das Blatt ebenso energisch zu Gunsten der zurückgesetzten drei gegen das vierte. Aber die Frage nach dem Verhältnis des vierten Evangeliums zu den Synoptikern ist heute noch offen. Daß zwischen dem Johannes-Evangelium trotz seiner eigenartigen, der neuplatonischen Gedankenwelt entlehnten Darstellungsweise und den Synoptikern eine innere Verbindung bestehen muß, ist klar, denn alle vier Evangelien gehören dem Gedankenkreise des Christentums an. Aber niemand hat bis jetzt einleuchtend zu machen gewußt, welcher Art diese Verbindung ist, und wie weit sich dieselbe erstreckt. Die Zusammenfassung der drei ersten Evangelien unter die gemeinschaftliche Bezeichnung der Synoptiker unterstellt zudem, daß diese drei Evangelien unter sich eine Einheit bilden, während doch jede derselben eine selbständige Evangelienschrift

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sein und sich als solche von den andern unterscheiden will. Hinter diesen drei Evangelien soll deshalb die denselben zu Grunde liegende Einheit erst wieder gesucht werden. Aber obgleich nun eine wilde Jagd nach einem Ur-Evangelium entstanden ist, muß sie heute als verloren preisgegeben werden. Die Annahme eines mündlichen Urevangeliums hat sich ebenso unhaltbar erwiesen wie die von einem Bischof Papias bei dem Kirchenhistoriker Eusebius erhaltene Überlieferung von einer hebräischen Spruchsammlung des Matthäus, des Ur-Markus ebenso wie die einer namenlosen Urschrift, die alle denkbaren Urevangelien in sich vereinigt. Doch nimmt die Leben-Jesu-Theologie als ausgemacht an, daß den synoptischen Verschiedenheiten unter allen Umständen die Identität einer historischen Persönlichkeit zu Grunde liegen müsse, sie läßt sich also durch die Mißerfolge der theologischen Forschung auf dem Gebiete der Quellenlitteratur nicht in ihrem Bestreben beirren, auf dem Siege der schriftstellerischen Rekonstruktion ein Bild des Mannes herzustellen, dessen Leben in den Evangelien so verschieden aufgefaßt und dargestellt sein soll. Aber so lange ein sichrer Maßstab für die kritische Beurteilung der literarischen Quellen nicht gefunden ist, sind alle diese Leben-Jesu-Schriftsteller darauf angewiesen, entweder nun die Synoptiker in der gleichen Weise harmonistisch zu verarbeiten, wie es früher mit allen vier Evangelien geschah, oder auf Grund ihrer persönlichen Vorliebe einen Ausschnitt aus einzelnen Evangelien zu machen und für diesen Ausschnitt dann die historische Ursprünglichkeit und Richtigkeit in Anspruch zu nehmen, wobei dann eben Vorliebe gegen Vorliebe steht.

Wie das Prinzip der Einheit, so spottet bis jetzt auch das der vorhandenen Verschiedenheiten jeder Erklärung. Man hatte eine Zeit lang geglaubt, in dem Schema der durch Ferd. Baur

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begründeten Tübinger Schule von dem Gegensatz der Judenchristen und Heidenchristen das Differenzierungsprinzip der synoptischen Evangelien zu besitzen. Aber das Schema versagte, sobald die Evangelien in ihren Einzelheiten nach demselben geprüft und klassifiziert werden sollten. Da standen in einem Evangelium, das auf den ersten Blick ganz gesetzesfrei, heidenchristlich erschien, die härtesten Dogmen des Judenchristentums zu lesen und umgekehrt. Ja die ganze Voraussetzung dieses Schemas, die zentrale Bedeutung des von demselben herangezogenen Gegensatzes für die ältesten Christengemeinden, erscheint heute mehr als fraglich. So bleibt als Resultat der ganzen Evangelienforschung im großen und ganzen nur das Eingeständnis übrig, daß die unsägliche Mühe, die auf die Lösung des Problems verwandt worden ist, ihr Ziel nicht erreicht hat. womit ja noch keineswegs gesagt ist, daß dieselbe vergeblich gewesen sei. Nach dem heutigen Stande der Dinge dürfte die von Holtzmann in Straßburg scharfsinnig verteidigte Hypothese von der historischen Ursprünglichkeit eines Markusevangeliums am meisten Anhänger in der liberalen Theologie Deutschlands gefunden haben, aber auch die Herrlichkeit der Urmarkus-Hypothese zeugt nur noch von verschwundener Pracht, und schon ist ihr in Wrede: das Messiasgeheimnis in den Evangelien, der Gegner erwachsen, der die schon geborstene Säule zum völligen Sturze zu bringen berufen erscheint. Es entsteht also nun die Frage, was weiter zu thun ist? Soll die Sisyphusarbeit der Theologie fortgetrieben werden? Es läßt sich ja vielleicht mit einigem Scharfsinn noch eine bis jetzt vergessene Hypothese entdecken, die auf das Schicksal ihrer Vorgängerinnen wartet, als Zeugnis für die Unverdrossenheit der deutschen Gelehrten den Akten der Geschichte einverleibt zu werden, ein reeller Erfolg für die Lösung des Problems läßt sich nach

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Lage der Dinge von keiner dieser Ursprungshypothesen mehr erwarten. Oder sollen wir das ganze Problem auf sich beruhen lassen und mit seiner Unlösbarkeit uns abfinden, wie wir ja auch den Stein, den wir nicht heben können, an seiner Stelle liegen lassen? Aber der Stein liegt uns doch gar zu sehr im Wege. Ihn liegen lassen, heißt drauf verzichten, eine weltgeschichtliche Erscheinung, wie das Christentum, in seinem Ursprunge überhaupt zu begreifen, es heißt, in der Geschichte der Völker gerade da, wo ein neues Licht hervordringt, einen Punkt festhalten, der in ein undurchdringliches Dunkel gehüllt sein soll. Zu solcher Resignation haben wir keiner geschichtlichen Erscheinung gegenüber ein Recht. Was wir Erscheinung nennen, muß auch innerhalb der Grenzen unsrer Erkenntnis liegen. Deshalb wird uns nichts übrig bleiben, als eine Revision des ganzen Problems vorzunehmen, vielleicht, daß gerade das rein negative Gesamtresultat aller bisherigen Forschungen uns einen Fingerzeig für eine neue Behandlung des Problems bietet.

Die bisherige kritische Forschung wurde, oft genug vielleicht unbewußt, von einem bestimmten theologischen Interesse geleitet: von dem Gegensatz gegen die Theologie der römisch-katholischen Kirche. Es sollte eine Quelle ausgesucht werden für die geschichtliche Persönlichkeit Jesu, um auf Grund dieser Quelle zu beweisen, daß die protestantische Auffassung vom Christentum die einzig richtige, die katholische also eine Trübung und Entartung des Christentums darstelle. Man suchte, und sucht auch heute noch nach echten und ursprünglichen Jesusworten, oder nach dem echten und ursprünglichen Sinn, den Jesus mit seinen Worten verbunden haben sollte, und will damit ein Argument für das eigene und gegen das anders geartete Kirchentum und seine konfessionelle Ausprägung gefunden

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haben. Der historische Jesus ist deshalb der Strohhalm, an den das Autoritätsbedürfnis sich anklammert, von welchem die liberale Theologie doch nicht loskommt: Im Verfolg des Lessingschen Wortes, daß die Religion nicht wahr sei, weil die Evangelisten und Apostel sie lehrten, sondern daß diese Männer sie gelehrt hätten, weil sie wahr sei, machte die protestantische Theologie doch vor dem historischen Jesus Halt. Sie wagte nicht, die Religion durchaus auf ihre innere Kraft und Wahrheit zu gründen, sie mußte für dieselbe ein historisches Argument haben, und ist damit dem Schicksal aller nach rückwärts gewandten Geistesrichtungen verfallen: Sie ist reaktionär geworden! An diesem historischen Jesus hängt deshalb die innere Unfreiheit des kirchlichen Freisinns. Er braucht eine Autorität für sich, weil er kein Vertrauen hat zu den in der Volksseele pulsierenden Lebenskräften und deshalb das Fundament seines Glaubens, statt in der Gegenwart, in der Vergangenheit sucht. An dem historischen Jesus hängt aber auch der nicht unbedeutende Rest hierarchischen Bewußtseins, von dem die liberalen Kirchenmänner sich nicht frei machen können. Indem der freisinnige Pfarrer seine eigene Theologie im Namen des historischen Jesus verkündigt, fällt auf ihn selber noch ein Strahl des kirchlichen Nimbus, mit dem der Fromme alten Stils seinen Christus umgeben hat. „Christus ist groß, und ich bin sein Prophet“ — so lautet kurz und bündig das Argument, auf welches hin der liberale Pfarrer um Gläubige für seinen Jesus wirbt. Die der freisinnigen Theologie von Hause aus innewohnende Tendenz hat dieselbe zu einer rein wissenschaftlichen, objektiv historischen Betrachtungsweise ihres Problems nicht kommen lassen. Wer von der Voraussetzung ausgeht, daß unsre gegenwärtige christliche Kultur an der Person eines gewissen Jesus hänge, der wird jeden Versuch,

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zu dem echten und ursprünglichen, d. h. dem historischen Jesus vorzudringen, als eine das Christentum rettende That betrachten. Aber es ist eine Selbsttäuschung, wenn die kritische Theologie für ihre Leben-Jesu-Darstellungen eine mehr als temporäre Bedeutung beansprucht. Diese Theologie mag sich selbst mit ihrem historischen Jesus in dem Bestand des modernen Kulturlebens den Platz für eine freisinnige Kirche sichern wollen, aber es wäre um das historische Verständnis und den historischen Wert der christlichen Kultur schlecht bestellt, wenn wir für dieselbe kein anderes Fundament auffinden könnten als den Christus, mit dem der theologische Freisinn die Welt beschenkt, von dem die ganze patristische Litteratur, das ganze deutliche Mittelalter, ja noch das Zeitalter der Reformation nichts gewußt. Gegen diesen liberalen Christus, der im Grunde nichts ist als ein rationalisierter Jude, bleibt selbst die Orthodoxie im Recht, wenn sie statt eines willkürlichen Excerptes aus den Evangelien den ganzen Christus der Evangelien haben und behalten will. Dieser excerpierte Christus hat zudem dem kirchlichen Christus gegenüber nicht einmal die Präsumption des besseren und solideren wissenschaftlichen Fundamentes für sich. Die zahlreichen Stellen in den Evangelien, die von dieser Theologie bei Seite geschoben, für ihren historischen Jesus gestrichen werden müssen, stehen litterarisch genau auf einer Linie mit denjenigen Stellen, aus denen die Theologie ihren historischen Jesus zusammensetzt, sie beanspruchen also auch den gleichen historischen Wert wie diese. Der synoptische Christus, in dem die moderne Theologie durchweg die Züge des historischen Jesus zu haben meint, steht einer wirklich menschlichen Auffassung des Christentums nicht um ein Haar breit näher als der Christus des vierten Evangeliums. Der Jungfrauen-Sohn, der Auferstandene und gen Himmel Gefahrene

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ist als historische Persönlichkeit genau so unvorstellbar wie der johannische Christus, und was die Epigonen der freisinnigen Theologie aus diesem synoptischen Christus als historischen Extrakt glauben herausdestillieren zu können, das hat historischen Wert nur als Denkmal der virtuosen Sophistik, die unter dem Namen der theologischen Wissenschaft ihre üppigsten Schößlinge getrieben.

Die meisten Vertreter der sogenannten modernen Theologie brauchen bei ihren Excerpten die Schere nach der von David Strauß beliebten kritischen Methode: das Mytische in den Evangelien wird weggeschnitten, was übrig bleibt, soll der historische Kern sein. Aber dieser Kern ist den Theologen schließlich selber unter den Händen zu dünn geworden. Ein jüdischer Rabbi, der nach Schleiermachers Ausdruck einige artige Gleichnisse und Gnomen vorgetragen, schien doch zu wenig, um das leidenschaftliche Interesse zu rechtfertigen, das diesem Jesus auch heute noch von Anhängern und Gegnern entgegengebracht wird. Und wenn nur der Sinn der Gleichnisse und Sprüche nach dem Wortlaut der Evangelien über jeden Zweifel erhaben wären! Aber auch hier finden sich so bedeutsame Abweichungen, daß es unmöglich erscheint, im Einzelnen festzustellen, welche Fassung auf Jesus zurückzuführen sei, welchen Sinn Jesus mit seinen Worten ursprünglich verbunden habe. Wenn z. B. Matthäus von den Armen im Geiste, den nach Gerechtigkeit hungernden redet, so spricht Lukas von den Armen und den hungernden im allgemeinen, also im ökonomischen Sinne. Wenn Jesus bei Matthäus sagt, man könne nicht zween Herren dienen, nicht Gott und dem Mammon, so fordert er bei Lukas von seinen Jüngern, daß sie sich mit dem ungerechten Mammon abfinden und mit demselben sich Freunde machen sollen. Zeigt sich nun endlich,

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daß die grundlegenden Gedanken dieser Jesusworte, der Glaube an Gott als den Vater der Menschen, die Bruderliebe und Feindesliebe, die individuelle Wertschätzung des Menschen, die Befreiung der Religion von der Last statutarischer Bestimmungen, die Zurückführung der Moral auf die Gesinnung, beim Ausgang der alten Zeit längst vorbereitet, daß sie sogar schon feste Bestandteile der damaligen geistigen Kultur geworden waren, Produkte sowohl der aus dem prophetischen Judentum hervorgegangenen religiösen Entwickelung, wie der durch den Weltverkehr und die philosophischen Schulen bewirkten Humanisierung der Gottesidee, so kommt die Theologie immer mehr in Verlegenheit, wenn sie für ihren historischen Jesus immer noch an der alten liberalen Vorstellung eines bahnbrechenden Genius und Religionsstifters festhalten will. Man hat geglaubt, dem Rabbi Jesus dadurch etwas nachhelfen zu können, daß ihm wenigstens die Heilung der Dämonischen als historisch reserviert wurde. Es sollte feststehen, daß Jesus als ein wandernder Therapeut solche Nervenkranke geheilt, die nach den Anschauungen der Zeit als von einem Dämon besessen betrachtet wurden. Allein derartige Heilungen, in denen die Pharisäer zudem ihm arge Konkurrenz gemacht haben würden, wären, auch wenn dieselben noch so sehr zu geistigen Kraftwirkungen aufgebauscht würden, doch jedenfalls keine bahnbrechenden Thaten, die über Jahrtausende hinweg ihrem Vollbringer einen Namen in der Geistesgeschichte der Menschheit zu sichern imstande wären, zumal die Massenhaftigkeit, in der diese Dämonischen überall, in den Städten wie in den Dörfern auftreten, doch einigen Verdacht gegen die vulgäre Annahme, daß unter denselben einfach nervöse Menschen zu verstehen seien, erregen muß. Es bleibt noch der Kreuzestod Jesu, von dem freilich die theologische Kritik wieder alles

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abstreicht, was irgendwie an das Mirakulöse erinnert, d. h. alles das, was nach den Evangelien eigentlich den besonderen Eindruck bei demselben gemacht haben soll. Aber Gekreuzigte gab es in den Zeiten der Evangelien nur allzuviele, denn das Kreuz war der Galgen der Sklaven, und am Kreuze haben es damals Tausende gebüßt, daß sie es gewagt, aus ihren Sklavenketten eine Erlösung zu hoffen oder gar das an ihnen und ihren Schicksalsgenossen verübte Unrecht beim rechten Namen zu nennen. Unter diesen Gekreuzigten wird sicher auch mancher Jesus gewesen sein, der im Geiste prophetischer Frömmigkeit sein armes Märtyrerleben beschlossen und von dem die römische Soldateska bei ihrem Henkerdienste doch bekennen mußte: „wahrlich, dieser ist ein frommer Mann gewesen!“

In Ermangelung jeder historischen Bestimmtheit ist dann der Name Jesus für die protestantische Theologie ein leeres Gefäß geworden, in welches jeder Theologe seinen eigenen Gedankeninhalt hineingießt. So macht der eine aus diesem Jesus einen modernen Spinozisten, der andre einen Sozialisten, während die offizielle Kathedertheologie ihn naturgemäß in der religiösen Beleuchtung des modernen Staats betrachtet, ja ihn neuerdings immer durchsichtiger als den religiösen Repräsentanten aller derjenigen Bestrebungen darstellt, die heute in der großpreußischen Staatstheologie eine führende Stellung beanspruchen. Es ist die berüchtigte Kunst der alten Alexandriner gewesen, historische Typen aus der Vergangenheit für die Bedürfnisse der eigenen Zeit zurechtzudeuten und sich dann einzureden, diese Deutung geschehe im Interesse der historischen Forschung. Alexandrinismus ist allemal das Ende jeder Geistesrichtung, die keine Kraft in sich fühlt, sich offen zum Werdenden zu bekennen und den schaffenden Geistern der Zeit sich zu vermählen, sich

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aber doch den Mächten einer neuen Kultur nicht völlig zu verschließen im stande ist. So ist auch die Methode, durch welche die protestantische Theologie ihren historischen Jesus zu stande bringt im Grunde noch ganz und gar alexandrinisch, und an dem Maßstabe wirksicher Wissenschaft gemessen ist der Jesus, auf den das moderne „Wesen des Christentums“ gegründet werden soll, ebenso historisch, wie der Moses, den Philo, der Meister in Alexandrien, als Weltenheiland feiert. Da kommt es vor allen Dingen darauf an, einen Jesus zu konstruieren, der für die herrschenden politischen Strömungen völlig ungefährlich ist, und der doch den auseinanderstrebenden Tendenzen der Zeit möglichst weit entgegenkommt, um dieselben zusammen halten zu können. Dieser Jesus ist so elastisch, daß er Konservative und Liberale unter seiner Fahne vereinigen könnte: er ist nach Harnack kein Wundertäter und hat doch Wunder gethan, er ist nicht auferstanden und doch auferstanden, er ist kein Messias und doch der Messias! Jesus erscheint in diesem „Wesen“ des Christentums durchweg als die einzige Ausnahme von der allgemeinen Regel des Philosophen, daß der Mensch ein politisches Wesen fei. Er ist so ganz „innerlich“ in seinem Glauben, so ganz unpolitisch und weltentrückt in seinem Denken, daß alle seine konkretesten Ausdrücke nur abstrakt, geistig gemeint sein können, und er wirklich in dieser Welt nur als ein großes Kind erscheint, mit den Kindesaugen nach den Sternen schauend, ein geborener Metaphysiker. Auch die Moral dieses Jesus wird so „geistig“, so kryptogam, daß die christliche Welt vollständig gerechtfertigt erscheint, wenn in der harten Wirklichkeit des Lebens nichts von derselben zu merken ist. Höchstens bekommen die „wohllebenden Pfarrer“ einen Spruch ins Stammbuch, daß sie wenigstens, als berufsmäßige Diener Jesu, besser thäten, jene Regel des Herrn, die

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den Dienern am Worte Besitzlosigkeit vorschreibe, zu befolgen, oder sich doch um den Besitz und irdische Güter nur so weit zu bekümmern, daß sie selbst nicht andren zur Last fielen, darüber hinaus aber sich ihrer zu entäußern — eine Exegese, die sicher in den Kreisen des wohllebenden protestantischen Bürgertums durchaus beifällig aufgenommen werden wird. Da doch aber einige hervorstechende revolutionäre Züge in dem Christusbilde der Evangelien nun einmal unverkennbar sind, so statuiert das „Wesen des Christentums“ eine doppelte Obrigkeit: „In jedem Volke etabliert sich neben der befugten Obrigkeit eine unberufene, oder vielmehr zwei unberufene. Das ist die politische Kirche und das sind die politischen Parteien.“ Natürlich hat sich dann Jesus nur gegen den Terrorismus der „unberufenen“ Obrigkeit aufgelehnt, während wir bisher geglaubt hatten, die national-jüdische Obrigkeit, die Ältesten, das Synedrium, Herodes, seien in Palästina die „berufene“, und die usurpatorische der römischen Cäsaren sei die „unberufene“ Obrigkeit gewesen. Unverhüllter kann das Wesen“ dieses Christentums nicht hervortreten, als es in dieser Stellungnahme Harnacks zur Frage der Obrigkeit geschieht: es ist der Kultus des absoluten Staates, dem dieses Christentum huldigt. Wahrlich, der Weltgeschichte müßte hier einmal ein großartiges Versehen passiert sein, wenn sie aus diesem so ganz und gar unpolitischen, dem absoluten Staat auf den Leib zugeschnittenen Jesus, das reine Gegenstück dieses Staates, die politische, absolute Kirche geschaffen hatte! Die Theologen der alten und mittelalterlichen Kirche müßten arg unwissende oder ebenso böswillige Menschen gewesen sein, wenn sie ihren Gläubigen beständig von einem Jesus gepredigt, der gerade das Gegenteil von dem gewesen wäre, was jetzt als das Wesentliche an ihm entdeckt worden! Ein protestantisch-

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liberaler Christus wäre ins Grab gelegt worden, und ein katholischer Christus wäre aus denselben auferstanden! Diese historische Theologie ist deshalb so ganz und gar unhistorisch, weil sie die neutestamentliche Litteratur nicht aus den treibenden Kräften ihrer Zeit, der werdenden katholischen Kirche, der werdenden mittelalterlichen Gesellschaft, sondern aus der Bildungsperspektive der Gegenwart erklärt, also vom Standpunkte der heutigen bürgerlichen, verstaatlichten Gesellschaftsform aus beurteilt.

So hat sich der orthodoxe Liberalismus bei der Christusfrage in eine theologische Sackgasse festgerannt. Dieser Ausgang ist nicht durch einzelne Irrtümer oder Unvollkommenheiten der Forschung zustande gekommen, er ist von vornherein durch einen Grundirrtum notwendig geworden. Um aus dem Menschen Jesus — und ein bloßer Mensch soll ja dieser Jesus unter allen Umständen bleiben — eine weltgeschichtliche Erscheinung wie das Christentum abzuleiten, mußte die liberale Theologie sich von der Methode der modernen Geschichtsforschung, von ihren sichersten Ergebnissen und elementarsten Gesetzen vollständig unberührt erhalten, sie mußte in dem alten liberalen Heroenkultus weiterleben, in dem Glauben an die auf sich selbst gestellten Individuen als die treibenden Faktoren der Weltgeschichte, während die Wissenschaft wie überall, so auch in dem Entwicklungsgange der Geschichte die inneren Zusammenhänge aussucht und auch die Individuen nicht als vom Himmel gefallene Wunder, sondern als natürliche Wirkungen natürlicher, namentlich soziologischer Ursachen betrachtet Der Glaube an den isolierten Heros, dieser Todfeind jeder wissenschaftlichen Geschichtsauffassung, lebt in der Theologie noch fort als der Rest des Glaubens an den dogmatischen Gottmenschen. Nachdem die liberale Theologie nicht mehr

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den Mut hat, sich zu dem dogmatischen Glauben zu bekennen, soll der Heros Jesus im Bewußtsein der Kirche dieselbe Stelle einnehmen wie einst der Gottmensch. Diese Unterschiebung eines modern-liberalen Menschenbildes unter einen ganz anders gearteten Begriff ist der Fundamentalirrtum der liberalen Theologie, der durch alle Verwickelungen der Evangelienforschung und alle Verlegenheiten der Leben-Jesu-Darstellungen nur sich selbst offenbart. Um aus dem Menschen Jesus das Christentum abzuleiten, bleibt nur eine doppelte Möglichkeit: entweder hat dieser Jesus selber ein Religionsstifter sein wollen, er hat sich für den Messias, den Begründer eines Weltreiches und einer Weltreligion, eben des Christentums, gehalten. Dann ist er als Mensch ein Schwärmer gewesen, der höchstens noch ein pathologisches Interesse beanspruchen kann, aber sein Werk ist dann die katholische Kirche, nicht die protestantische. Oder dieser Jesus war wirklich der, als den die liberale Theologie ihn beschreibt, dann hat aber sein „Wesen“ etwas lange Zeit gebraucht, um bekannt zu werden: fast neunzehn Jahrhunderte! Achtzehn Jahrhunderte christlicher Kirchengeschichte wären verstrichen in dem Glauben, daß der Messianismus wesentlich zum Christentum gehöre, bis endlich erkannt wäre, daß dieser Messianismus bei dem ersten christlichen Bekenner desselben entweder gar nicht vorhanden oder nur eine unwesentliche Schale gewesen wäre, ja daß die heutigen Theologen Jesum viel besser verständen als ihn seine Jünger verstanden, denen diese abstrakte, transzendente Auffassung des Messiasgedankens bei ihrem Meister so vollständig entgangen wäre, daß sie gerade die allerkonkreteste, weltlichste Anwendung von demselben hatten machen können! Das aussichtslos Dilemma, in, dem die liberale Theologie sich befindet, wird am deutlichsten bei dem Auferstehungs-

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glauben, der als das Bindeglied zwischen dem Messianismus der Jünger und dem wie auch immer gearteten Messianismus Jesu gelten soll. Die psychologische Voraussetzung dieses Auferstehungsglaubens wäre unter allen Umständen der pharisäisch-rabbinische Messiasgedanke, nicht eine nebensächliche Begleiterscheinung, sondern das eigentlich konstitutive Element dieses Glaubens, ohne welches derselbe schlechterdings keinen Sinn haben würde. Die physiologische Realität dieses Glaubens müßte dann die Vision sein, so daß wir also ein Christentum bekämen, dessen Lebensfähigkeit von Hause aus nur in der Selbstzersetzung seiner ursprünglichen Bestandteile gelegen hätte, und welches heute, um Christentum zu sein, alles das negieren müßte, was es in seinen Ursprüngen bejaht und umgekehrt. Die Illusion des Messianismus hätte die Vision von der Auferstehung des Gekreuzigten hervorgerufen, durch die Verkündigung dieser Vision wären immer mehr Leute in den Bannkreis der Messianischen Vision gezogen worden, und so wäre die erste christliche Gemeinde in Jerusalem entstanden, mit ihr der Grundstein gelegt zur christlichen Kirche, zum Christentum überhaupt. Daß die christliche Orthodoxie einen solchen Ursprung des Christentums aus den denkbar trübsten und krankhaftesten Erscheinungen des menschlichen Geisteslebens ablehnt, ist wohl zu begreifen. Die Visionshypothese, die wissenschaftlich hier allein in Betracht kommen könnte, ist zudem für die Erklärung großer historischer Realitäten völlig unbrauchbar. Visionen mögen spiritistische Klubs schaffen, die solange zusammenhalten, als der Glaube an die Medien derselben dauert. Neue soziale Gebilde, wie das christliche Mittelalter in seinen kirchlichen Organisationen aufzeigt, bauen sich nicht auf Visionen auf, sie bedürfen eines solideren Bodens für ihre Entwicklung. Die

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realistische Geschichtsbetrachtung weist uns aber auch einen wesentlich anderen Weg zu den Ursprüngen des Christentums.

Drittes Kapitel

Der Punkt, an dem der Irrweg der protestantischen Theologie in der Wissenschaft begonnen, liegt gleich am Anfang der protestantischen Lehrentwickelung, in dem sogenannten Formalprinzip des Protestantismus, in der Voraussetzung, daß die Bibel, insbesondere auch das neue Testament mit seinen vier Evangelien, gegenüber der Kirche das ursprüngliche, Normative bedeute, die Kirche also den Evangelien gegenüber das später Gewordene, Abgeleitete und Sekundäre darstelle. Es waren nicht wissenschaftliche, sondern rein konfessionelle Gründe, die diese Position der protestantischen Theologie geschaffen haben. Der Autorität des Papsttums sollte eine andere, höhere gegenübergestellt werden, und da nach den Anschauungen der Orthodoxie diese höhere zugleich eine ältere sein mußte, ein Teil der Bibel aber, das alte Testament, diese Bedingung des höheren Alters unbesehen erfüllte, so wurde nun die ganze Bibel mit der Aufgabe betraut, eine protestantische Instanz gegen die katholische Kirche abzugeben. Damit aber wurde der wirklich historische Sachverhalt gerade umgekehrt, und die katholische Theologie hat in der Frage der Bibel stets an dem richtigeren Standpunkt festgehalten, daß sie die Kirche als das Ursprüngliche, die Bibel als das Abgeleitete betrachtet. Wie das Leben unter allen Umständen ursprünglicher ist als die Schule, so hat auch die Kirche, wenn auch in ihrem

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Werden, als eine lebendige Realität die Bibel geschaffen, nicht umgekehrt. Es ist der kritische Scharfblick Lessing’s gewesen, der diese Einstellung der protestantischen Orthodoxie in dem Verhältnis von Kirche und Bibel wieder richtig zu stellen versucht hat in dem Satze: „Das Christentum war, ehe Evangelisten und Apostel geschrieben hatten; es verlief eine geraume Zeit, ehe der erste von ihnen schrieb, und eine sehr beträchtliche, ehe der ganze Kanon zustande kam“, und auch Schleiermacher hat in seiner Glaubenslehre den für das Verständnis der Evangelien Ausschlag gebenden Gesichtspunkt aufgestellt, indem er auf die katholische Auffassung zurückgehend die Schriften des neuen Testaments als das erste Glied in der fortlaufenden Reihe aller Darstellungen des christlichen Glaubens bezeichnet. Wenn der Kirchenhistoriker der Constantinschen Ära, Eysebius, die Schriften der alten Kirche einteilt in solche, die allgemein als zum neuen Testament gehörig anerkannt seien, und solche, denen widersprochen werde, um dann von beiden Gruppen die der unechten Schriften, zu denen er in der Hauptsache die sogenannten apostolischen Väter rechnet, zu unterscheiden, so wäre nichts verfehlter als die Annahme, daß bei dieser Einteilung Gründe der historischen Kritik mitgesprochen hätten. Wie Eysebius in der betreffenden Stelle (III, 25) ausdrücklich sagt, sind es lediglich kirchliche, in erster Linie dogmatische Gründe, die bei dieser Rangstellung der einzelnen Bücher bestimmend waren. Wo eine Schrift irgendwie für eine Abweichung von der in der Glaubensregel der Kirche dogmatisierten Tendenz der Kirche Anhalt gab, oder auch nur zu geben schien, wurde ihr widersprochenen, sie wurde in einzelnen kirchlichen Kreisen wenigstens mit Mißtrauen angesehen, bis der Widerspruch entweder überwunden, oder die Schrift auf den Index gesetzt war. Daher gehören für die

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wissenschaftliche Forschung auch die als „unecht“ bezeichneten Schriften doch durchweg dem werdenden kirchlichen Gedankenkreise an, sie unterscheiden sich von ihren bevorzugteren neutestamentlichen Gefährten keineswegs durch eine geringere historische Glaubwürdigkeit oder gar spätere Abfassung, sondern lediglich dadurch, daß sie von der kirchlichen Entwickelung überholt wurden, oft auch nur dadurch, daß ihnen von Hause aus die Firma eines apostolischen Namens oder des Namens eines unmittelbaren Apostelschülers fehlte, unter der die neutestamentlichen Schriften sämtlich sich eingeführt. So sagt auch Ferd. Baur (Kirchengeschichte I, 130), daß nur die überspannteste Vorstellung von der Theopneustie der sämtlichen Schriften die Schriften der apostolischen Väter von denen des neuen Testaments durch die unermeßliche Kluft zweier völlig verschiedener Perioden geschieden sehen könne. Die Kirche hat im neuen Testament sich ihren eigenen Kanon gegeben, sie hat hier von vornherein festgesetzt, was kanonisch, d. h. kirchlich rechtsgültig sein solle. Die kanonischen Erfordernisse, die bei der Sammlung der Bücher ausschlaggebend gewesen sind, haben auch schon die Abfassung dieser Bücher sowohl dem Inhalte wie der Form nach bestimmt Das „Evangelium“, das nur als der technische Ausdruck für die gesamte kirchliche Lehrentwickelung gebraucht wird, hat durchaus seine Basis an der Kirche, wie Augustin bekennt, er würde dem Evangelium nicht glauben, wenn ihn nicht die Autorität der Kirche dazu bewöge. Evangelium im Sinne der alten Kirche ist nie das von der Reformation angeblich wieder entdeckte und auf den Leuchter der protestantischen Theologie gestellte, sondern immer das katholische Evangelium, wie schon im ersten Korintherbriefe des Clemens als der Anfang des Evangeliums die Warnung vor der Spaltung, die Mahnung zur Einheit mit den kirch-

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lichen Oberen bezeichnet wird (V—VII). Dieses „Evangelium“ ist es auch, das in den neutestamentlichen Evangelienschriften seine prägnante litterarische Ausprägung gefunden hat. Dabei kann nun gar kein Zweifel darüber bestehen, daß in den Schriften der apostolischen Väter Christus, oder wie er noch öfter genannt wird „der Herr“ kein historisches Individuum, sondern die personifizierte Idee, das trancendente Prinzip der Kirche bedeutet Wie die Kirche sich als den wahren Erben des alten Testaments betrachtet, so ist es nach dem Barnabasbrief überall der „Herr“, es ist Jesus Christus, der im Gesetz und den Propheten der Juden schon zu den Menschen geredet. Im ersten Korintherbrief des Clemens ist „der Herr Jesus Christus“ der Urheber aller kirchlichen Ordnungen, selbst derjenigen, die sich auf die äußeren Umstände, auf Zeit und Ort des Kultus beziehen. Es ist schon eine Abirrung von der Disziplin Christi, wenn jemand sagt, er werde nur das glauben, was er in den alten Schriften, d. h. dem Evangelium finde, einem solchen antwortet Pseudo-Ignatius im Philipperbriefe, daß ihm Jesus Christus an Stelle der alten Schriften stehe. Jesus Christus ist in der katholischen Kirche gegenwärtig, er stellt sich dar in der Jurisdiktion der Bischöfe und dem mit dem Bischöfe zusammen hängenden Klerus. Deshalb ist der Gehorsam gegen Christus eben der Gehorsam gegen den Bischof, eine Trennung vom Bischof ist eine Trennung von Christus. Wie im Johannesevangelium von Christus gesagt wird, er sei vor aller Zeit gewesen und alle Dinge seien durch ihn geschaffen, so wird im Pastor Hermae ganz dasselbe von der Kirche gesagt. Besonders lehrreich ist auch die erste kirchliche Polemik gegen die doketische Ketzerei, also gegen die Lehre, daß Christus nicht reelles Fleisch gehabt habe. Gegen diese Doketen eifert Pseudo-Ignatius im Brief an die Gemeinde

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zu Smyrna, indem er bekennt, daß Christus noch immer im Fleische sei. Das kann gar nichts anders heißen, als daß die Realität und Sichtbarkeit der Kirche, die durch die Doketen in Frage gestellt war, behauptet wird. Die Frage, ob ein Individuum Christus, das vor etwa zwei Jahrhunderten gelebt haben sollte, wirkliches Fleisch gehabt, hätte ganz und gar außerhalb des Gedankenkreises der Väter gelegen, wogegen eine doketische Auffassung der Kirche, die ihre irdische Wirklichkeit und Machtfülle in Frage stellte, das Fundament des Katholizismus untergraben mußte, so daß die Energie begreiflich wird, mit der nicht nur hier am Anfang, sondern Jahrhunderte hindurch die doketische Ketzerei bekämpft wurde. Christus wahrer Gott: das bedeutet bei den Vätern durchgängig die göttliche Absolutheit und Machtvollkommenheit der Kirche. Christus wahrer Mensch — das heißt, daß diese Absolutheit der Kirche nicht für den Himmel, sondern für die Erde gilt, daß sie nicht metaphysisch, sondern durchaus real, für die Sichtbarkeit wirksam aufgefaßt werden soll. Wenn deshalb in der protestantischen Schultheologie die Dogmatiker noch darüber streiten, wie die vielumstrittene Lehre von den zwei Naturen in Christus, der göttlichen und menschlichen, zu verstehen sei, so haben sie den historischen Sinn dieser Lehre noch gar nicht erfaßt, die Sprache der Kirche noch nicht verstanden. Die zwei Naturen in Christus sind nichts als der dogmatische Ausdruck für die Doppelnatur der Kirche, die in dieser Lehre ihren eigenen göttlichen Charakter, ihre Absolutheit behauptet, und doch zugleich dieser Absolutheit volle irdische Realität beigelegt wissen will. — Aber auch in einzelnen Büchern des neuen Testaments ist Christus ganz unzweifelhaft die werdende Kirche. Im ersten Johannesbriefe wird die Salbung in der Kirche als Kraft und Grund aller Lehr-

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Erkenntnis bezeichnet. Durch die Salbung, das Chrisma, bleibt der Gesalbte, der Christus, in ihr, daß sie nicht nötig hat, sich von jemand belehren zu lassen, sondern durch die Salbung über alles belehrt wird, und was gemäß dieser Salbung gelehrt wird, das ist wahr. Im Epheserbrief wird die ganze hierarchische Organisation der Kirche auf den „Christus“ den einen Herrn zurückgeführt, wie später Eyseb. I,1 ausführt, daß Christus den apostolischen Episkopat geregelt, oder III, 5, daß Christus für Jerusalem als seinen unmittelbaren Nachfolger im Bischofsamt den Jakobus eingesetzt habe. Aber auch in den Korintherbriefen des neuen Testaments ist Christus das Einheitsprinzip der Kirche, das heißt das personifizierte Lebensprinzip der Kirche. Christus darf nicht zerteilt werden, das heißt: es darf in der Gemeinde keine Spaltungen geben. Christus ist der Leib, der aus vielen Gliedern besteht, das heißt: es giebt in der einen Gemeinschaft viele geistliche Beamtungen und Begabungen. Ja die Gemeinde wird im Kolosserbrief kurzweg der Leib Christi genannt: Sie ist die wahre Realität, die Sichtbarkeit, die Menschwerdung des transcendenten kirchlichen Einheitsgedankens.

Steht es aber fest, daß die ganze altchristliche Litteratur, bis bin zu den Episteln des neuen Testaments, in der Person Christi die Idee der werdenden Kirche darstellt, so dürfte der Schritt kaum noch gewagt erscheinen, auch den Christus der Evangelien unter dem gleichen Gesichtspunkte anzuschauen. Zunächst steht auch für die Evangelien das Eine fest, daß in ihnen Jesus gar nichts bedeutet ohne den Christus. Die Evangelien lassen darüber gar keinen Zweifel, daß sie nicht geschrieben find, um von einem Jesus zu erzählen, sondern um einen, d. h. ihren kanonischen Christus zu schildern. Damit aber reihen sich diese Evangelien ein in die Erzeugnisse

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der messianischen Litteratur, wenn sie auch ein eigenartiges Genre derselben darstellen. Die litterarischen Produkte eines Zeitalters lassen ja immer ihre gemeinsame Physiognomie wieder erkennen, und wenn die Darstellungsform einer bestimmten Gruppe dieser Produkte klar geworden ist, so lassen sich die gewonnenen Einsichten für alle einzelnen Glieder dieser Gruppe verwerten. Hier z. B. die Natur der utopistischen Staatsromane des 17. u. 18. Jahrhunderts an einigen Beispielen derselben verbanden hat, wird ohne große Schwierigkeit auch die übrigen Werke dieses litterarischen Genres verstehen. Die typische Form der messianischen Litteratur aber war die Apokalyptik, die durch den Gang der politischen Ereignisse zu Stande gekommene Metamorphose der älteren Propheten. Die Propheten von Amos bis Jesaja hatten aus der Jahwe-Religion die Forderung einer sittlichen und sozialen Wiedergeburt des Volkes abgeleitet. Den Unterdrückten sollte Recht geschaffen, der Ausbeutung der Schwachen durch die geistlichen und weltlichen Machthaber sollte ein Ende bereitet werden. Dann versuchte die unter dem Namen Mosis eingeführte deuterononistische Gesetzgebung die prophetischen Forderungen in einem bürgerlichen Gesetzbuche zu kodifizieren und damit den Versuch einer praktischen Sozialreform einzuleiten. Endlich aber schuf der Widerspruch zwischen der historischen Wirklichkeit und dem in der prophetischen Gesetzgebung niedergelegten ethisch-sozialen Programm die messianische Apokalyptik, eine religiöse Betrachtungsweise der Dinge, bei welcher die einzelnen Zeitverhältnisse in das Licht der durch die prophetische Gesetzgebung geschaffenen, durch griechisch-römische Bildungselemente beeinflußten Gedankenwelt gerückt wurden. Die hervorstechendsten Merkmale dieser jüdischen Apokalyptik, die ihre bekanntesten litterarischen Denkmäler im Danielbuch, den

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Orakeln der Sibylle, dem Henochbuche und der Apokalypse des Esra gefunden, sind durch den Gedanken eines Endgerichts bestimmt, in welchem die durch die prophetische Gesetzgebung geschaffenen Ideen ihre zeitgeschichtliche Erfüllung finden sollen. Die Katastrophe in diesem Endgericht erfolgt als eine Allmachtsthat Gottes von weltgeschichtlicher Bedeutung, deshalb bildet eine himmlische Welt die Umrahmung für alles irdische Geschehen. In visionären Erscheinungen werden die bezüglichen Offenbarungen den Sterblichen durch Engel kund gethan und das Gericht selbst wird durch den Auserwählten Gottes vollzogen, durch den Messias, der entweder als das Jahwe treu gebliebene Volk, oder, was nur eine andere Darstellung desselben Gedankens bedeutet, als der in den Wolken des Himmels kommende Menschensohn gedacht wird. Dabei liebt es die Apokalyptik, die ihr zu Grunde liegenden Zeitverhältnisse rückwärts zu datieren, oder auch in eine anders geartete geographische Umgebung zu verlegen. Das Danielbuch führt den Leser aus der Zeit der Syrerherrschaft, die mit ihren makkabäischen Freiheitskriegen das Signal zu dieser apokalyptischen Schreibweise gegeben, in diejenige des Nebukadnezar und verpflanzt seine Visionen nach Babylon, Henoch kündigt sich sogar an als ein Zeitgenosse Noahs, der angebliche Esra verletzt uns in die Ausgangszeiten des babylonischen Exils. Aber immer dient die fremdländische Scenerie zur Veranschaulichung messianischer Erwartungen, die, wie Hilgenfeld an den Orakeln der Sibylle nachweist, je weiter sie schon vom Danielbuch abliegen, ihre gespannte Überweltlichkeit, welche uns im Daniel entgegentritt, mildern und mehr Anknüpfung in der Wirklichkeit finden. Daß auch die christliche Ära ihre Apokalyptik besessen, wird ohne weiteres durch die Offenbarung Johannis, die wir wahrscheinlich als eine Überarbeitung einer jüdischen Apokalypse

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zu betrachten haben, erwiesen. Aber auch die Briefe des neuen Testaments sind ganz und gar eingetaucht in die apokalyptische Gedankenwelt, und in gewissem Sinne kann sogar die Hauptschrift Augustins über den Gottesstaat noch zu dieser Litteraturgattung gerechnet werden, freilich als der letzte kirchliche Abschluß derselben, in dem dann die Apokalyptik vorläufig zur Ruhe kommt. Von diesem Ende der Apokalyptik fällt dann ein sehr bedeutsames Licht auf die ganze Entwickelung, die zu diesem Ende hingedrängt hat. Das Ende ist die konsolidierte Kirche geworden. Die ursprünglich noch ganz verschleierte realistische Tendenz der Apokalyptik ist hier völlig zum Durchbruch gekommen. Wir sehen, wie unter dem Spiegel der Jenseitigkeitsvorstellung sich eine durchaus praktische soziale Wirksamkeit verbirgt, die die Apokalyptik als Erbe ihres prophetischen Ursprunges bewahrt hat. Ihr Messianismus zielt auf ein politisches Gebilde, dessen Reichsgrundgesetz der prophetische Rechtsgedanke in seiner allseitigen Ausbildung und völligen Durchbildung sein soll. In der civitas dei ist nun der christliche Messianismus katholische Kirche geworden, das apokalyptische Jenseitigkeitsideal ist mit dem sozialen Wirklichkeitsgedanken der Propheten zusammengeschlossen. Die civitas dei hat sich im Gegensatz gegen die civitas huius saeculi, die römische Weltmonarchie, konstituiert, sie ist mit den höchsten Attributen eines menschlichen Lebensideals ausgestattet, in ihr ist alles geistig, himmlisch, ihr geistlicher Ursprung ist Christus, ihr Werk die Vermittelung der Beseligung für die zum Heil erwählten Menschen. Aber diese himmlische civitas ist doch zugleich etwas sehr reelles, nämlich die in der Einheit der Lehre und des Bischofsamtes beschlossene, den Glauben mit unbedingter Notwendigkeit gebietende und in ihren kanonischen Ordnungen das Leben heiligende, katholische

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Kirche, die gottmenschliche Einheit der himmlischen und der irdischen civitas.

Es kann nur die Nachwirkung scholastischer Überlieferungen sein, wenn die Theologen Bedenken tragen, die neutestamentlichen Evangelienschriften in die Litteratur der messianischen Apokalyptik einzugliedern und damit das doch von vornherein fast selbstverständliche Argument für das Verständnis dieser Schriften anzuwenden, daß die litterarischen Kräfte, welche bei der Abfassung der Evangelien thätig gewesen sind, nur im Zusammenhange mit der ganzen kulturgeschichtlichen Lage des Zeitalters erfaßt werden können. Die altchristlichen Schriftsteller haben das Schreiben in der jüdischen Synagoge gelernt. In den litterarischen Produkten der Synagoge aber war es gang und gäbe, Personifikationen zu schaffen, die als Träger der rabbinischen Gedankenwelt erscheinen. Der ganze alttestamentliche Kanon hat durch diese litterarische Eigentümlichkeit der Synagoge sein Gepräge erhalten. Stammesgeschichte und Volkssage wird erzählt in der Form der Einzelgeschichte, vor allen Dingen ist die Idee der Synagoge selbst personifiziert in der Gestalt und Geschichte Mosis. Wie der leidende Knecht Jahwes im zweiten Teil des Jesajas, der für den Glauben der Kirche geradezu typisch geworden ist, eine Personifikation der frommen israelitischen Volksgemeinde darstellt, so läßt auch das Messiasbild des späteren Judentums unter der individuellen Hülle leicht den nationalen und politischen Kern erkennen. Dieser Mensch, der bei Gott verborgen war, ehe die Welt geschaffen wurde, ist eben kein Mensch, kein Individuum, sowenig wie der König, der eine immerwährende Herrschaft über die Völker der Erde ausübt, ein individueller König ist. Deutlich tritt dieser Sinn des Messias in einer Partie des Henochbuches hervor, von der noch nicht feststeht, wie weit dieselbe

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von späteren christlichen Gedanken beeinflußt ist. Hier hat der Messias, der Menschensohn, ehe er aus seiner Verborgenheit bei Gott heraustritt, bereits eine Gemeindeversammlung von Gläubigen auf der Erde, der Auserwählte ist das Haupt einer Gemeinde von Auserwählten, der auf Erden erschienene Menschensohn ist nur durch die Gründung einer Gemeinde das Licht der Völker. (Hilgenfeld, jüdische Apokalyptik 157). Dieser Eigentümlichkeit jüdischer Schreib- und Redeweise verdanken verschiedene außerkirchliche Gemeindebildungen ihre persönlichen Repräsentanten: Ebjon für die Sekte der Armen, der Ebjoniten, Elksai für die Elksaiten. Besonders aber ist der Magier Simon zu nennen als Personifikation aller widerkirchlichen Sektenbildungen, als Vater aller Häresie. So mußten die treibenden Kräfte der Zeit von selbst dahin drängen, die Idee der neuen Synagoge, als welche doch die altchristliche Gemeinde sich betrachtete, ebenfalls zu personifizieren: Christus, der größere Moses, der in der Welt erscheint, um ihr das Evangelium, eben die frohe Botschaft von dem werdenden Gottesstaate zu bringen. Diese Darstellungsweise der Synagoge ermöglicht dann der Apokalyptik, in ihren messianischen Personifikationen ein Stück Sozialgeschichte zu schreiben.

Mit dieser Apokalyptik teilen die Evangelien nicht nur die Form, sondern auch die Tendenz der Darstellung. Engelerscheinungen umrahmen die Erzählungen der Evangelien, die Geschichte des messianischen Menschensohnes soll gegeben werden, bei der die apokalyptische Jenseitigkeitsperspektive des Endgerichts zusammengeht mit dem Wirklichkeitsdrang prophetischer Lebensbetrachtung, und die civitas dei, der Gottesstaat, tritt schon deutlich genug als das Ziel hervor, zu dem die in den Evangelien dokumentierte Entwickelung hindrängt; denn der als die Königsherrschaft Gottes aufgefaßte Gottesstaat ist der

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Mittelpunkt, um den sich in den Evangelien alles dreht. Und diese Königsherrschaft ist gar nicht das, wozu die Theologen der protestantischen Kirche sie „vergeistigt“, d. h. verflüchtigt haben, nicht „das Reich Gottes“, dieses abstrakte Gedankending, das vollständig außerhalb des Gesichtskreises eines Schriftstellers der werdenden Kirche gelegen haben würde. Sie ist auch in den Evangelien schon das, wenn auch als Keim, als werdendes, was sie später geworden ist; der Riesenbaum der Weltkirche, in dessen Zweigen die Völker der Erde wohnen sollen. Dieser Gottesstaat und Christus gehören zusammen wie Erscheinung und Idee, wie Wirklichkeit und Prinzip, und der Christus der Evangelien verbirgt unter dem Schleier einer apokalyptischen Darstellungsweise ein Stück Geschichte aus der zum Gottesstaate auswachsenden Bewegung, zu der die ersten Anfänge in der von den Propheten angestrebten Sozialreform zu suchen sind.

 Viertes Kapitel

Insofern die biblischen Evangelien zu der großen Gruppe der apokalyptischen Litteratur zu rechnen sind, läßt sich auch das charakteristische Merkmal dieser Litteratur, die Verschiebung der geschichtlichen und geographischen Beziehungen, in den Evangelien wiederfinden. Bestimmte historische Notizen bringen die Evangelien nur in Bezug auf die Geburt und den Tod Jesu. Lucas verlegt die Geburt in die Tage der Schätzung, die Kaiser Augustus veranstaltet haben soll zu der Zeit, da Quirinius Landpfleger in Syrien war. Aber welche Mühe haben sich die Gelehrten gegeben, diese Schatzung herauszurechnen, die

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doch in der von Lucas angegebenen Weise nie stattgefunden haben kann! Denn „für Judäa“ — so sagt Holtzmann in seiner neutestamentlichen Theologie — „konnte eine römische Schatzung unter allen Umständen erst angeordnet werden, nachdem es zur römischen Provinz geworden war, also namentlich nicht unter Herodes dem Großen, der als rex socius galt und selbständig über das Abgabenwesen in Palästina verfügte. Ebenso aber stand das Land auch unter seinem Nachfolger Archelaus nur mittelbar unter römischer Oberherrschaft“. Statt nun aber mit Holtzmann einen Gedächtnisfehler bei Lucas anzunehmen, durch den die ganze Chronologie der Geburtsgeschichte, namentlich auch durch das Hereinziehen des Quirinius, zu einem unauflöslichen Knäuel von Verwirrungen geworden sein würde, dürfte die andere Vermutung am Platze sein, ob nicht diese ganze Zeitbestimmung nach Art der apokalyptischen Schilderungen gebildet, das heißt in freier Dichtung als Rahmen für die weitere Darstellung geschaffen sei, mithin gar nicht den Anspruch eines historischen Datums erhebe. — So bleibt noch die Nachricht von dem Kreuzestode Jesu unter Pontius Pilatus, und der Name dieses Landpflegers geht ja auch durch das Credo der Kirche: gelitten unter Pontius Pilatus. Aber gerade dieses Credo macht die Sache einigermaßen verdächtig. Daß eine solche rein historische Notiz in einem sonst ganz dogmatisch gehaltenen kirchlichen Symbol steht, ist jedenfalls auffallend und hat den Theologen von jeher als Rätsel gegolten. Geschichtliche Facta brauchen nicht geglaubt, noch weniger durch ein kirchliches Dekret zu Glaubensartikeln gestempelt zu werden, vorausgesetzt, daß dieselben sonst urkundlich feststehen. Und es wäre doch an und für sich gar zu gleichgültig, wie gerade der Landpfleger geheißen, der Christum zum Tode hätte führen lassen, wenn sich nicht

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ein bestimmtes kirchliches Interesse hinter dieser Bestimmung des Credo verbergen sollte. Alle Lehrbestimmungen dieses sogenannten apostolischen Glaubensbekenntnisses sind eben Kontroversen gegen irgend eine von der kirchlichen Regel abweichende Lehre. Gegen ein feststehendes, noch dazu amtlich beglaubigtes historisches Faktum giebt es aber keine Kontroversen mehr, und um die Realität des Leidens Christi gegen die Doketen, die nur ein Scheinleiden des Scheinmenschen Christus behaupteten, zu verteidigen, genügte das vere passus, das sich sonst in der alten Glaubensregel der Kirche findet, der Name des Pontius Pilatus würde da gar nichts bedeuten, weil sein Name ja kein Argument gegen die Behauptung der Doketen gewesen sein würde. So muß also die historische Notiz im Credo notwendig geworden sein, weil es Leute gab, die an dieses Leiden unter Pontius Pilatus nicht glaubten. Zu denken giebt auch eine Stelle im Martyrium S. Ignatii, einer zu den apostolischen Vätern gehörigen Schrift. Da verhört Trajan in allerhöchster Person den Bischof von Antiochia, und nachdem der Angeschuldigte den Namen Jesu Christi genannt, fragt ihn der Kaiser: „Meinst Du den, der unter Pontius Pilatus gekreuzigt ist?“ worauf Ignatius antwortet, er meine den, der die Sünde gekreuzigt und alle Werke des Teufels zerstört habe. Wenn nun feststeht, daß Trajan durch Plinius, den Statthalter von Bythinien, die erste, noch ganz und gar unbestimmt gehaltene Kunde von der dem Statthalter selber noch rätselhaften Sekte der Christen erhalten hat, so merkt man doch bei diesem ostentativen Hineinziehen des Pontius Pilatus in das fingierte Verhör eine bestimmte Absicht des Verfassers der Schrift. Offenbar soll die kaiserliche Majestät selbst als Zeuge dafür angeführt werden, daß Christus unter Pontius Pilatus gekreuzigt sei. Der Sache selbst wird

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eine solche Wichtigkeit beigelegt, daß sogar der Kaiser dieselbe sofort in seinem Gedächtnis gegenwärtig gehabt haben soll, obwohl in Wirklichkeit Trajan damals eben erst die erste Nachricht von der Existenz der Christen erhalten hatte. Liegt da nicht der Gedanke nahe, daß dem „Leiden Christi“ ganz andere historische Daten zu Grunde zu legen seien, die nur in bekannter apokalyptischer Manier in eine andere Zeit versetzt sein könnten? Wenn Antiochius Epiphanes unter der Maske des Nebukadnezar im Danielbuch auftritt, kann dann nicht der Statthalter Plinius unter der Maske des Pontius Pilatus eingeführt sein? Unter Trajan ist den Christen zuerst von Staatswegen das Todesurteil gesprochen worden, und Plinius war der Exekutor des Urteils. Die früheren Verfolgungen unter Nero und Domitian hatten keinen staatsrechtlichen, sondern einen privaten Charakter. Jetzt erkennen die christlichen Apo-logeten den ganzen Ernst der Situation, dem sie in ihren Schriften beredten Ausdruck geben. Wohl hat Plinius den Christen das Zeugnis ausgestellt, daß sie eigentlich nichts schlechtes thun, wie Pilatus im Evangelium bekennt: „ich finde keine Schuld an ihm“. Um so schlimmer erscheinen die Maßnahmen der Staatsräson, einen frommen Glauben unter Anklage zu stellen und seinen Anhängern zu sagen: ihr dürft nicht sein! Sollte hier nicht der wahre historische Pontius Pilatus zu suchen sein? Zudem dienten die unter Trajan ausgebrochenen furchtbaren Judenrevolten ohne Zweifel dazu, die Maßregeln gegen die Christen zu verschärfen, und der seit der Zerstörung Jerusalems maßlos gesteigerte Haß der Juden gegen die Sekte der Abtrünnigen, der Gotteslästerer, stellte die Christen zwischen zwei Mächte, die wiewohl unter einander Todfeinde, doch in dem unversöhnlichen Haß gegen die Christen sich zusammenfanden. Die viel zitierte Notiz des Tacitus aus

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den Annalen, die bei der Erzählung der neronischen Verfolgung den Kreuzestod Christi unter Pontius Pilatus erwähnt, kann nichts anderes beweisen, als daß eben schon Tacitus von der christlichen Überlieferung, die an sich gar nichts Unwahrscheinliches hatte, gehört und dieselbe sich angeeignet. Denn daß Tacitus noch eine andere Quelle für seine Notiz gehabt haben sollte, ist bei dem völligen Schweigen aller römischen Chronisten über das Ereignis, das ja auch in den Hekatomben, die am Kreuze geschlachtet wurden, spurlos untergegangen sein würde, völlig ausgeschlossen. Bemerkenswert dagegen ist es, daß Eyseb. II, 2 einen Brief erwähnt, den Pilatus an Tiberius geschrieben haben soll, in welchem sich mit Leichtigkeit eine Rückbildung des von Plinius an Trajan geschriebenen Briefes erkennen läßt. Auch hier gelangt ein Bericht an den Kaiser über die göttliche Verehrung Christi, nach welchem der Kaiser einen Senatsbeschluß herbeigeführt haben soll, daß niemandem göttliche Ehre zuteil werden dürfe ohne Sanktion des Senats, für die Einrichtung eines Christus unter Pontius Pilatus, oder auch nur für das Leben eines Mannes, das den Erzählungen der Evangelien zu Grunde liegen könnte, findet sich in der zeitgenössischen und der der Zeit zunächst liegenden Profanlitteratur kein einziger zuverlässiger Beleg. Philo, der gelehrte Alexandriner, der die Ära des Pontius Pilatus zum Gegenstande eingebender Darstellung gemacht und die Verhältnisse in Palästina genau gekannt hat, erwähnt von dem, was nach den biblischen Berichten das Land und seine Leute so tief erregt haben soll, keine Silbe. In den Schriften des etwas späteren Josefus, des Geschichtsschreibers des jüdischen Kriegs, finden sich zwei Stellen, in denen der christliche Jesus wenigstens genannt zu sein scheint. Aber die eine derselben ist anerkanntermaßen unecht, und die andere ist so stark angezweifelt, daß

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selbst die Theologen der historischen Schule von Keim an auf dieselbe nicht mehr viel Gewicht legen. Es ist dort die Rede von „Jakobus, dem Bruder Jesu, des sogenannten Christus“. Möchte nun Josefus von einem solchen Jesus wirklich gehört haben, so wäre die Sache für den Jesus der Evangelien doch völlig belanglos, da es sich gar nicht um die Frage handelt, ob einmal ein Jesus gelebt, der der sogenannte Christus geheißen, sondern wie derjenige Jesus, den die Evangelien als Christus einführen, und auf den die christliche Litteratur allein Wert legt, zu verstehen sei. Es ist nur die ärgste Verlegenheit der historischen Theologie, wenn sie schließlich, um ihren historischen Jesus in den Evangelien zu retten, ihre Zuflucht dazu nimmt, in den Evangelien eine spätere Schale und einen ursprünglichen Kern zu unterscheiden, oder schließlich sogar nicht eine Schale, sondern eine ganze Reihe übereinander gearbeiteter Schalenschichten. Da gilt das Wort des neuesten Markusforschers Wrede: Das Messiasgeheimnis. S. 91): „Wenn man mit einem historischen Kern arbeiten will, so muß man wirklich auf einen solchen stoßen. . . . Wo ist ein Anzeichen verschiedenartiger Schichten? Wir haben den nackten Ausdruck der Gemeindeanschauung vor uns und weiter nichts.“

Was die Theologen verführt hat, in der Evangelienlitteratur verschiedene übereinander gelagerte Schichten, deren jede eine besondere Abfassungszeit und einen eigenen Überarbeiter gehabt haben soll, anzunehmen, das ist in Wirklichkeit ein historisches Dokument für die Thatsache, daß der Messianismus von seinen ersten rohesten Anfängen bis zu seiner Ausgestaltung im katholischen Christentum gar verschiedene Entwickelungsstufen durchlaufen hat, von denen keine in einer als kanonisch anerkannten Schrift fehlen durfte. Um ihrer kanonischen Geltung

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willen mußte der ganze Bewegungsprozeß, den der Messianismus durchgemacht, in den Evangelien zu der Einheit eines evangelischen Lebensbildes zusammengearbeitet werden: enger Rationalismus und weiteste Internationalität, utopistische Schwärmerei und nüchterne Erfassung der Wirklichkeit, Betonung der konkreten wirtschaftlichen Lebensinteressen und ein rein geistiger religiöser Idealismus. Eine nicht zu unterschätzende Instanz gegen die historische Theologie bieten auch die alten christlichen Katakombenbilder. Der gute Hirte, wie er hier regelmäßig wiederkehrt, ein bartloser, fast knabenhafter Jüngling, kann unmöglich einen historischen Jesus, den Zimmermannssohn aus Nazareth, darstellen sollen, wie ihn die protestantische Theologie als das aus den synoptischen Evangelien excerpierte Individuum auffaßt. Das Bild, das seinen Typus vielleicht dem Hermes entlehnt, symbolisiert vielmehr die jugendliche Christengemeinde, die als der wahre Christus die Schwachen trägt und die Irrenden führt ebenso geht aus den Katakombenbildern hervor, daß der Christus der alten Kirchen nicht als der historische Stifter des protestantischen Abendmahls, sondern als der mystische Träger des kirchlichen Sakraments, der Eucharistie, zum Mittelpunkte der Glaubensdarstellungen gemacht wurde. Die Katakombenbilder geben nicht, wie später Leonardo da Vinci, Bilder der letzten Passahfeier, die Jesus vor seinem Tode mit seinen Jüngern begangen haben soll, sie zeigen vielmehr das Mahl am galiläischen Meere, das der auferstandene Christus nach Joh. 21, 12 zur feierlichen Installation des Petrus gehalten. Hier wird also das vierte Evangelium ein Argument gegen die behauptete Geschichtlichkeit der Synoptiker. Wäre das kirchliche Sakrament ursprünglich so zustande gekommen, wie die Leben-Jesu-Theologie voraussetzt, daß ein Religions-

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stifter Jesus die Erinnerung an sein Leben und Sterben in der Anordnung dieser Abendmahlsfeier für die kommenden Zeiten der Kirche niedergelegt hätte, dann wäre es unverständlich, wie die Kirche das vierte Evangelium in ihre kanonischen Schriften hätte aufnehmen können, da dieses Evangelium von einer solchen Einsetzung gar nichts weiß, ja dieselbe in seiner Chronologie der Leidensgeschichte — Christus wird hier schon vor dem Passahfeste gekreuzigt und begraben — geradezu ausschließt. Öfter ist in den Katakombenbildern Christus der Fisch, der sich im Sakrament, der christlichen Fortsetzung des Mysteriums der Mithrasdiener, den Seinen zur Speise der Unsterblichkeit darbietet (Victor Schulde: Die Katakomben. S. n4 M.). So scheint die liberale Theologie selber von der lange behaupteten historischen Ursprünglichkeit der Abendmahlsfeier zurückzukommen. In einem Hauptorgan dieser Theologie, den Protestantischen Monatsheften, schreibt Rud. Schultze (Januar 1902): „Ob das Abendmahl — als sakramentale Feier — von Christo selbst eingesetzt sei, ist übrigens eine Streitfrage oder vielmehr keine Streitfrage mehr; daß das nicht der fall gewesen, dürfte in wissenschaftlichen Kreisen eine ausgemachte Sache sein.“ — Die Kirche als Leib Christi symbolisiert sich selber in Brot und Wein, die sie in der Eucharistie den Gläubigen zur Seelenspeise darbietet. Noch im Zeitalter Hadrians denkt kein christlicher Apologet daran, den Vorwurf der Römer, daß die Christen bei ihren Liebesmahlen Menschenfleisch äßen und andre Greuel trieben, mit der Berufung auf eine Stiftung Jesu zu widerlegen, wodurch doch der Widersinn der heidnischen Anklage am handgreiflichsten dargethan wäre. Gegen die Anschuldigung der thyesteischen Mahlzeiten berufen sich die Apologeten lediglich auf Gründe der allgemeinen Moral und der in ihren Kreisen

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herrschenden religiösen Anschauungen. So kann die Eucharistie, das altkirchliche Herrenmahl, nicht aus der Wiederholung eines von Jesus mit seinen Jüngern geübten frommen Brauches, wie ihn die synoptischen Evangelien in der Abendmahlsscene darstellen, entstanden sein, und auch der vorsichtige Engländer Hatch (Griechentum und Christentum, S. 223) ist doch der Meinung, daß kein Verständiger seinen Beweis für die Bestandteile des Herrenmahles auf die Stellen des neuen Testamentes bauen werde. Die kirchliche Eucharistie ist eben älter als die Erzählung von der synoptischen Passahfeier, sie ist die kirchliche Umbildung der in den eleusinischen Mysterien begangenen Lebensfeier, mit der sie nicht nur den religiösen Grundgedanken, das Auferstehungsleben in der Natur, sondern auch die Elemente der kultischen Feier gemeinsam hat. Das synoptische Abendmahl dagegen ist eine freie litterarische Nachbildung der eucharistischen Feier im Sinne evangelischer Apokalyptik: Die messianische Gemeinde hat im Angesichte der, drohenden Verfolgung ihr Passah-, ihr Freiheits- und Freudenfest gefeiert und in demselben ihre feste Hoffnung der messianischen Parusie ausgesprochen. Die Evangelien sagen in dieser Abendmahlsscene dasselbe aus wie Justin, wenn er im Angesichte der durch das Trajansche Edikt geschaffenen Sachlage seinen Glauben bekennt, daß Christus bei seiner Ankunft in Jerusalem mit den Seinen essen und trinken werde, ein Gedanke, der auch in einer messianischen Stelle der Henoch-Apokalypse angedeutet wird (Hilgenfeld: Jüdische Apokalyptik. S. 177). Der Gedanke der messianischen Parusie ist also die Hauptsache bei der synoptischen Abendmahlsfeier, und der kanonische erste Korintherbrief in seiner die Parusie mit der kirchlichen Gegenwart schon vermittelnden Tendenz hat mit seinem: „Das thut zu meinem Gedächtnis“, das sich sonst

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nur bei Lukas findet, die scharfe eschatologische Spitze der ganzen Scene schon umgebogen.

Es ist ja auch unmöglich, die den synoptischen Evangelien zu Grunde liegenden Daten der Leidensgeschichte mit dem jüdischen Gesetz und den Gepflogenheiten des jüdischen Gerichtswesens in Übereinstimmung zu bringen, wie in überzeugender Weise von Brandt: „Die Evangelische Geschichte“ dargethan ist. In den synoptischen Evangelien erscheinen die heiligsten Festtage der Juden während der Leidenszeit Christi als die regulärsten Arbeitstage, während das Johannes-Evangelium wenigstens die Gefangennahme und das Verhör vor dem jüdischen Obergericht ebenso wie die Verbandlungen mit Pilatus vor den Beginn der Passahfeier verlegt. Diese historisch unmögliche Chronologie der Leidensgeschichte wird indes vollständig verständlich, wenn es sich in dieser Geschichte um eine apokalyptische Schilderung der unter Trajan verhängten Verfolgung bandelt. Die Opfer dieser Verfolgung waren für die messianische Bewegung ein Passahlamm, ein Bundes- und Befreiungsopfer, wie auch im ersten Korintherbrief der Bibel Christus das für seine Gemeinde geschlachtete Passah genannt wird.

Der eigentümlichen Chronologie entspricht eine ebenso eigentümliche Geographie der Evangelien. Die Scenerie im allgemeinen ist wohl Palästina, aber wie unbestimmt und fließend, wie widerspruchsvoll wird dieselbe im Einzelnen! Nach den drei ersten Evangelien ist der Schauplatz der eigentlichen Wirksamkeit Jesu Nordpalästina, besonders Galiläa, Jesus ist in Jerusalem noch so unbekannt, daß, als er bei der Reise zum letzten Passah dorthin kommt, das Volk erst fragt, wer der Mann sei, und die Antwort gegeben wird, das sei Jesus, der Prophet aus Nazareth in Galiläa, nach dem vierten Evan-

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gelium dagegen liegt der Schwerpunkt der Erzählung in Südpalästina, besonders Jerusalem, und der dritte Evangelist verlegt sogar einen Hauptteil der Ereignisse nach Samarien, dem mittleren Teile Palästinas, dem Lande der Unreinen, von deren Bewohnern kein frommer Jude ein Stück Brod nehmen durfte, wo aber Jesus so gut zu Hause zu sein scheint wie nur in allen übrigen Gebieten. Auch fehlt für eine Anzahl evangelischer Ortsbezeichnungen jede geographische Spur, und die spätere Überlieferung hat in vielen Fällen erst nach den Evangelien eine Geographie konstruiert, die für die Evangelien eingerichtet ist. Das alles macht die größten Schwierigkeiten, wenn den Evangelien eine Geschichte zu Grunde liegen soll, die sich in Palästina abgespielt hat, es wird aber leicht begreiflich, wenn die evangelischen Erzählungen in bekannter apokalyptischer Darstellungsweise von anderswoher nach Palästina projiciert sind, von wo doch sowohl die realen wie die idealen Impulse der Bewegung ausgegangen waren, so daß die Schilderung in freier Weise mit den geographischen Verhältnissen schalten konnte.

Daß nun diese Projektion von Rom aus erfolgt lein muß, scheint sich vor allem aus der Rolle zu ergeben, die der Gestalt des Petrus in den Evangelien zu erteilt wird, Petrus ist für die Evangelien fast ebenso wichtig wie Christus. Ihm wie seinem Bruder Andreas wird gleich bei dem ersten Erscheinen Jesu die Mission, Menschen zu fischen, erteilt. Aber Petrus ist unverkennbar die Personifikation der römischen Gemeinde und ihrer weltgeschichtlichen zentralisierenden Tendenz. Schon sein Name ist symbolisch: Petrus, der Felsen, auf den die christliche Gemeinde sich gründet. Am durchsichtigsten ist diese Symbolik im vierten Evangelium. Die Erinnerung an die böse Verleugnungsgeschichte wird hier nur ganz flüchtig gestreift, dafür steht der

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Apostelfürst im Vordergrunde der Scene bei der Fußwaschung, und er wird zuletzt sogar feierlich installiert, die Schäflein Christi zu weiden. Das Schlußkapitel, welches diese Sanktion der zentralen Machtstellung Roms enthält, ist freilich ein späterer Anhang zum ganzen Evangelium, aber dasselbe bringt doch nur die Tendenz des ganzen Buches zum Abschluß, und diese Tendenz ist eben römisch-katholisch: Ein Hirt und Eine Herde! Die starke Betonung des kirchlichen Einheitsgedankens in diesem vierten Evangelium steht durchweg im Dienste der Zentralisationsbestrebungen des römischen Bischofs, der eben im Streite über die Feier des Osterfestes den ersten Sieg über die kleinasiatische Kirche davongetragen hat. Aber auch in der Geschichte von dem Stater, den Petrus nach dem Matthäus-Evangelium einem auf Christus Geheiß gefangenen Fisch entnimmt, um die heidnische Münze den römischen Beamten als Steuer zu entrichten, ist Petrus unverkennbar die römische Gemeinde, die im Zeitalter Domitians vor die Frage gestellt war, ob die Christen, die noch als nach jüdischer Weise lebend betrachtet wurden, verpflichtet seien, die den Juden auferlegte Kopfsteuer zu zahlen. Doch durchsichtiger ist die Maske, die hinter der Gestalt des Petrus den römischen Episkopat verbirgt, in der Matthäus-Stelle, wo Petrus als der Fels der Kirche mit der Gewalt zu binden und zu lösen für Himmel und Erde, der sogenannten Schlüsselgewalt der Kirche belehnt

wird.

Auch für das Messiasbekenntnis des Petrus, das den Theologen der historischen Schule die allergrößten Schwierigkeiten bereitet, ergiebt sich ein historischer Hintergrund des römischen Gemeindelebens, durch welches dasselbe durchaus verständlich wird: „du bist Christus“, das ist die erste Anerkenntnis des katholischen Kirchenideals von Seiten der römischen

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Gemeinde, der Übergang des ebjonitisch – partikularistischen Judenchristentums in Rom zum kirchlichen Universalismus, als deren Träger von nun an die römische Episkopatkirche erscheint. Die evangelische Apokalyptik verlegt bezeichnend genug dieses Zusammenwachsen der Petrusgestalt mit der universalen Christusidee, also die Entstehung des kirchlichen Zentralbewußtseins der römischen Gemeinde, in die Gegend von Caesarea Philippi. Diese Stadt bedeutete für Palästina die politische Gegenwart Roms, hier war der Sitz der römischen Verwaltung. In Caesarea Philippi soll nach Eyseb VII, 18 das Haus des blutflüssigen Weibes gestanden haben, das durch Berührung des Kleides Jesu Teilung von seiner unreinen Krankheit gefunden haben soll, und bei dem Hause sollen zwei Statuen gezeigt worden sein, von denen die eine das geheilte Weib, die andere Christum dargestellt habe. Sollte sich vielleicht unter der Gestalt dieser Frau die der Poppäa Sabina verbergen, der anrüchigen und sittenlosen Gemahlin Neros, die wegen ihrer starken Hinneigung zum Judentum für eine apokalyptische Schreibweise wohl als die Frau, die den Saum des Gewandes Jesu berührte, gelten konnte? Ist diese Deutung des Messiasbekenntnisses Petri im allgemeinen richtig, dann weist die Erzählung selber bin auf die Gestalt des römischen Clemens, der nach Hilgenfelds Untersuchungen der pseudoclementinischen Schriften den ersten Impuls zu einer fortschrittlichen, universalistischen Bewegung in die bis dahin noch arg partikularistisch gesinnte römische Gemeinde getragen hat; und die noch heute nicht völlig aufgeklärten Wirren in der an den Namen des Clemens sich anschließenden Litteratur geben dann auch einen Anhalt für die Verleugnungsgeschichte, sie zeigen, wie bald nach dem im dritten Jahre der Regierung Trajans erfolgten Tode des Bischofs

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Clemens unter dem Einfluß der durch Plinius veranlaßten Christenverfolgung ein energischer Rückfall in den alten Partikularismus stattgefunden hat, der aber bald wieder überwunden worden ist. Auf diese Weise löst sich auch ganz natürlich die bittere Fehde zwischen katholischer und protestantischer Theologie, den römischen Aufenthalt des Petrus betreffend, in Frieden auf. Von dem evangelischen Individuum Petrus führen keinerlei Spuren nach Rom, darin hat die protestantische Theologie ganz recht. Aber hinter diesem Individuum verbirgt sich von Anfang an die römische Gemeinde mit ihrer zentralistischen Tendenz, also ist Petrus immer in Rom gewesen, er ist nur der Name für das Kirchenideal der römischen Gemeinde, das die schriftstellerische Eigentümlichkeit der apokalyptischen Schreibweise nach Palästina projiciert. Dafür, daß die biblischen Evangelien außerhalb Palästinas verfaßt sein müssen, spricht auch die Sprache derselben. Das Griechisch der Evangelien ist zweifellos original, nicht eine Übersetzung aus dem Aramäischen. Selbst wo alttestamentliche Stellen citiert werden, liegt dem Citat der Text der griechischen Bibelübersetzung, der Septuaginta, zu Grunde. Wohl weiß der Bischof Papias bei Eyseb (III, 39) von einer Spruchsammlung zu berichten, die Matthäus in hebräischer Mundart verfaßt haben soll. Was aber diese Spruchsammlung, die nicht einmal als eine Sammlung von Aussprüchen Christi angeführt wird, enthalten hat, weiß heute kein Mensch mehr. Jedenfalls ist die theologische Wissenschaft heute darüber einig, daß das neutestamentliche Matthäus-Evangelium nicht eine griechische Übersetzung oder auch nur eine einfache Überarbeitung der von Papias erwähnten syrischen Logia sein kann. So kommt auch Holzmann in seinem Evangelien-Kommentar zu dem Zugeständnis, daß mindestens das Markus- und Lukas-Evan-

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gelium, vielleicht auch der von ihm angenommene Ur-Markus, in Rom die Gestalt angenommen hätten, die späterhin die in der Kirche herrschend gewordene Auffassung des Christentums vertreten.

Nach Rom weist auch die Erzählung vom Zinsgroschen, den sich Jesus zeigen läßt, um an dem der Münze aufgeprägten Kaiserbilde den Grundsatz zu entwickeln, man solle dem Kaiser geben, was des Kaisers, und Gott, was Gottes sei. Diese Stelle ist eine gefährliche Klippe für die Leben-Jesu-Theologie. Die Kaiser ließen ja, wie Holtzmann in seinem Evangelien-kommentar sagt, „um das auf diesem Gebiete so empfindliche Gewissen der Juden zu schonen, für Palästina Münzen ohne Kopfbild schlagen“. Nun soll, nach Holtzmann, Jesu bei dieser Gelegenheit eine der Kopfmünzen in die Hände gefallen sein, die der Zufluß von auswärtigen Juden um die Osterzeit in Umlauf hätte bringen müssen! Aber die Evangelien rechnen mit der Kopfmünze nicht als mit einer Ausnahme, sondern als mit der selbstverständlichen Regel, ja der ganze Effekt der Erzählung würde illusorisch werden, wenn es lediglich ein Spiel des Zufalls gewesen wäre, der auf die Forderung Christi, ihm den Denar zu zeigen, gerade eine der verhaßten Kopfmünzen zur Stelle geschafft hätte. Auch paßt der von Christus anempfohlene Grundsatz mit der in demselben statuierten Trennung der Gewalten lediglich in die unter Trajan geschaffene Situation. Dieser Grundsatz enthält kurz und bündig das Hauptargument, das die christlichen Apologeten bis zu Tertullian gegen die über sie verhängte Verfolgung geltend machen.

Nach Rom weist ferner die Anrede Kyrios, lateinisch Dominus, Herr, für Christus. Wie Friedländer (Darstellungen aus der Sittengeschichte Roms I, IV.) überzeugend nachgewiesen, ist diese

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Anrede eine konventionelle Form des Verkehrs, als welche sie uns in den Evangelien entgegentritt, erst in dem Rom der Kaiserzeit geworden und vorwiegend in dem Verhältnis der Klienten zu ihrem Patron gebräuchlich gewesen. Dieses Verhältnis lag ja auch der Anschauung der Christengemeinde in Bezug auf ihren Kyrios zu Grunde: er galt als ihr idealer Sachwalter und Schutzherr, aber erst der heilige Geist, das heißt der Geist der kirchlichen Gemeinschaft, der katholischen Einheit, gab dem einzelnen die Möglichkeit, Jesum „Herrn“ zu heißen (I. Cor. 12).

Endlich schildern die Evangelien lokale Zustände, wie dieselben in dieser Gestalt nur auf die Agrarverhältnisse Italiens in der römischen Kaiserzeit passen, nicht auf diejenigen Palästinas, denen die ökonomischen Vorbedingungen einer solchen agrarischen Entwickelung vollständig fehlten. Jm Handwörterbuch der Staatswissenschaften stellt Georg Adler (die soziale Reform im alten Rom) die Ausbildung des Kolonats als eine spezifische Form der Agrarwirtschaft in Italien kurz dar: Der kleinbäuerliche Grundbesitz war in Italien der Latifundienwirtschaft gewichen. Als aber die Sklavenzufuhr mit dem Aufhören der Eroberungspolitik seit Tiberius zu stocken anfing, wurde der landwirtschaftliche Großbetrieb auf die Dauer unhaltbar. An seine Stelle trat unter dem Kaiserreiche die Ausbildung des auch früher schon vereinzelt vorhandenen Kolonats, die pachtweise Austeilung kleinerer Landparzellen an fronpflichtige Bauern, die dadurch wieder eine gewisse ökonomische Selbständigkeit erhielten, sodaß diese Wirtschaftsform den Ausgangspunkt für die wichtigsten ökonomischen Institutionen der folgenden Epoche der zivilisierten Welt zu bilden vermochte. — Diese Kolonenwirtschaft haben die Evangelien im Auge, wenn sie in mehrfachen Wendungen von dem Menschen

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erzählen, der über Land zieht und seinen Knechten seine Güter austhut, und der dann zurückkehrt, um selbst den Ertrag der Güter zu fordern, oder seine Beamten sendet, um die fällige Pacht einzustreichen. Auf Palästina mit seinen ganz und gar kleinbäuerlichen Verhältnissen würde dieser dem Betriebe der italienischen Landwirtschaft entnommene ökonomische Hintergrund in keiner Weise paffen. In Rom allein waren auch die organisatorischen Kräfte vorhanden, die den Gottesstaat nach dem Muster des römischen Weltstaates zu schaffen im stande waren. Dach Rom zielte durchweg jener Zusammenfluß internationaler Kultur, der die drei Geistesströme der damaligen Zeit, lateinisches Recht, jüdischen Glauben und griechische Weisheit in dem großen Bette des mittelalterlichen Katholicismus vereinigte. Von diesen Strömen sind aber auch schon die Evangelien des neuen Testaments so sehr durchflutet, daß sogar die Vermutung immer wieder auftaucht, der Held dieser Evangelien müsse arisches Blut in seinen Adern gehabt oder wenigstens in seiner Jugend eine internationale Geistesbildung erhalten haben. Wie der Jesus des vierten Evangeliums die Sprache der neuplatonischen Philosophie in alexandrinischer Auffassung redet, so ist auch der Jesus der übrigen Evangelien über die Gedankenwelt des palästinensischen Judentums weit hinausgewachsen, sein Menschenideal ist weit mehr das der Stoa als das des jüdischen Nationalismus, sein Gott, der die Sonne Scheinen laßt über Böse und Gute und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte, hat die sittlichen Schranken des alten Jahwe überwunden.

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Fünftes Kapitel

Mommsen (röm. Geschichte 8, 10) schildert die Lage der Juden im römischen Kaiserreiche folgendermaßen: „Schlossen sich diejenigen Juden, die eine Heimat außer Palästina gefunden hatten, außerhalb derselben nicht ihren Wohnsitz-, sondern ihren Religionsgenossen an, wie das nicht anders hat sein können, so verzichteten sie damit auf die Geltung und die Duldung, welche den Alexandrinern und den Antiochenern und so weiter im Ausland entgegenkam und wurden genommen, wie sie sich gaben, als Juden. Die palästinensischen Juden des Occidents aber waren zum größten Teil nicht hervorgegangen aus der kaufmännischen Emigration, sondern kriegsgefangene Leute oder Nachkommen solcher und in jeder Hinsicht heimatlos. Die Pariastellung, welche die Kinder Abrahams vor allem in der römischen Hauptstadt einnahmen, der Betteljude, dessen Hausrat in dem Heubündel und dem Schacherkorb besteht und dem kein Verdienst zu gering und zu gemein ist, knüpft an den Sklavenmarkt an. Unter diesen Umständen begreift es sich, weshalb im Occident die Juden während der Kaiserzeit neben den Syrern eine untergeordnete Rolle gespielt haben. Die religiöse Gemeinschaft der kaufmännischen und der Proletariereinwanderung drückte auf die Gesamtheit der Juden noch neben der allgemeinen mit ihrer Stellung verbundenen Zurücksetzung“. — Wie groß die Zahl dieser jüdischen Bevölkerung schon allein in der Hauptstadt gewesen sein muß, geht daraus hervor, daß der bei Augustus an der Spitze einer jüdischen Gesandtschaft erscheinende Herodes nach Josefus von ungefähr 8000 seiner in Rom ansässigen Glaubensgenossen geleitet worden sein soll, und Tacitus berichtet (Annalen II, 85), daß im Jahre

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19 unter Tiberius 4000 waffenfähige Freigelassene, die von egyptischem und jüdischem Aberglauben angesteckt waren, zur Deportation nach Sardinien verurteilt worden seien. Die unterste Schicht dieses jüdischen Proletariats gehörte der Sklavenklasse an. Viele von ihnen trugen noch an Leib und Seele die Spuren eines Daseins, in welchem sie das Vieh beneidet haben mochten, wo sie heerdenweise zusammengekettet, das Brandmal der Sklaven an der Stirn, unter der Peitsche des Aufsehers den Tag über den Acker bestellen und nachts im unterirdischen Zwinger zusammengepfercht wurden. Und doch lebte auch in ihnen der Stolz der Abrabamssöhne weiter, das Gefühl, „Glieder des auserwählten Volkes zu sein, ihre Knechtschaft galt ihnen als Frevel gegen Jahwe, ihr Sklavendienst beraubte Jahwe des Dienstes, den seine Getreuen ihm hätten leisten können am Sabbath und allen anderen heiligen Tagen des Jahres. Mit diesen Sklaven fühlten sich durch religiöse und nationale Gemeinschaft solidarisch verbunden die kleinen Händler, die ihre Holzbuden am Zirkus, im römischen Ghetto, aufgetragen hatten, aber ebenso auch die Großkaufleute und Geldmakler, die durch günstige Konjunktur und ererbtes Talent sich zur haute finance emporgearbeitet, in deren Schuldkonten mancher Name von Prinzen des kaiserlichen Hauses verzeichnet stand, die aber trotz, und vielleicht gerade wegen des Einflusses, den ihnen die Kapitalmacht verschaffte, von dem privilegierten agrarischen Adel mit Verachtung angesehen wurden und staatsrechtlich doch immer unter dem Ausnahmegesetz blieben. Diese reiche Judenschaft, die namentlich in Alexandrien ihren Sitz hatte, war wohl auch von den Bildungselementen ihrer Zeit berührt, mit der griechischen Sprache hatte sie auch die Hauptgedanken der damaligen Weltanschauung, platonische Metaphysik und stoischen Kosmopolitismus,

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in sich aufgenommen, aber sie war dabei doch den Traditionen und Dogmen der Synagoge durchaus treu geblieben, sie war gegebenen Falles bereit, mit ihren Volksgenossen zu leiden, aber auch die Kräfte ihrer geistigen Bildung und ihres Kapitals in den Dienst derselben zu stellen. So war das Judentum im römischen Reiche der eigentliche Explosivstoff, bei dem die unbezwingbarsten Mächte des Menschenwesens, politische, soziale und religiöse Ideen sich miteinander verbündeten, um der Stunde zu warten, wo sie die Gegner die ganze Flucht ihrer Überlegenheit fühlen lassen konnten.

Was ein Sklavenaufstand in Rom zu bedeuten hatte, das hatte schon Pompejus erfahren, als er gezwungen gewesen war, seine besten Legionen zu entbieten, um in furchtbarem Blutbade die heldenmütigen Scharen des Spartakus niedermetzeln zu lassen. Mochte auch die kluge Politik der Cäsaren eine ähnliche Eruption im Großen nicht wieder aufkommen lassen, so hatte doch das Blut der Zehntausende, die als Märtyrer der Freiheit niedergehauen und gekreuzigt waren, den proletarischen Boden vorbereitet und mit neuen Zukunftsgedanken besät. Auf der einen Seite ging die Propaganda der revolutionären That ihren unterirdischen Weg weiter, auf der andern lernten auch die Führer der proletarischen Bewegung von ihren Gegnern: Sie lernten negativ, daß gegen die militärische Disziplin der römischen Legionen das kriegerische Handwerkszeug der Sklaven ohnmächtig sei, sie lernten aber auch positiv, die organisatorische Kraft und die geistige Bildung der Gegner in den Dienst der eigenen Sache nehmen. Beide Strömungen fanden ihre beste Nahrung und ihre mächtigsten Impulse an der religiösen Ideenwelt des Judentums, in der seit den Tagen der Propheten der Kampf gegen jede Art von Unterdrückung und Ausbeutung in den verschiedensten Weisen

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gepredigt worden war. Die Prediger der revolutionären Gewalt brauchten nur die Geister der Makkabäer zu beschwören, so hatten sie die frommsten Motive für jeden die Unterdrückung mit bewaffneter Faust sich erhebenden Widerstand, und die Vertreter des langsameres Tempos, des passiven Widerstandes und der durch denselben frei werdenden sittlichen Menschenkräfte fanden in der älteren Prophetie reichlich Anhalt, um auch ihr Vorgehen mit den reichsten und idealsten Gedanken des frommen Glaubens zu begründen. Der ganze Messianismus war ja von Hause aus nichts als die religiöse Ausprägung des sozialen Rechtsgedankens, und das religiöse Recht ist immer ein allgemeines, ein Menschenrecht, es hat immer und überall einen demokratischen Untergrund, ja kommunistischen Zug in sich. Dieser demokratische Untergrund der messianischen Bewegung ist selbst in ihren kleinbürgerlichen Vertretern in Palästina, den Pharisäern, unverkennbar, er schafft in der essenischen Gemeinde einen ersten religiösen Kommunismus und ruft dann in den radikaleren Elementen der Bewegung stark utopistisch gefärbte, mit schwärmerischer Ekstase verbundene Erscheinungen hervor, die bis in das Zeitalter der Gnosis hineindauern, wie die gnostische Sekte des Karpokrates eine solche Vermischung prophetischer Ekstase und kommunistischer Ideen bis zur völligen Verwerfung des Privateigentums und der Ehe in ihren Grundsätzen darstellt. Aber mit dieser Unterströmung kämpft von Anfang an eine andere, die von demselben proletatischen Ursprung ausgehend das messianische Ziel auf anderem Wege zu erreichen sucht und dabei naturnotwendig auch bei einem anderen Ziele, dem realen Gottesstaate der organisierten Kirche anlangt. So müssen wir das werdende Christentum als eine soziale Bewegung großen, ja größten Stiles, betrachten, zu der eine

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elementare Kraftentfaltung einer aufwärtsringenden, unterdrückten Menschenklasse den Anstoß gegeben, die dann im weiteren Verlauf eine so gewaltige historische Metamorphose durchgemacht, daß das Gewordene, die katholische Kirche, auf den ersten Blick als das direkte Gegenteil seines eigenen Ursprungs erscheint, während doch auf dieser Stufe der kirchlichen Entwicklung die ursprünglich treibenden Kräfte der ganzen Bewegung dem tiefer Schauenden noch unverkennbar erscheinen. Die eruptiven Kräfte des alten Gesellschaftslebens sind kirchlich organisiert, sie sind damit ihrer elementaren Wucht ledig, aber in das breite Bett des die große, allgemeine Kultur schaffenden Lebens geleitet. Im Klosterleben, der sozialen Grundform des mittelalterlichen Kirchenlebens, ist Arbeit und Besitz genossenschaftlich organisiert, aber der klösterliche Kommunismus soll nur den großen katholischen Weltenkommunismus vorbilden, in welchem die Kirche als die wahre Besitzerin der Erde alle irdischen Güter, alle Eigentumsverhältnisse in Staat und Gesellschaft nach ihren kommunistischen Ordnungen regelt. Dieser internationale Kommunismus der Kirche hat indes seinen Schwerpunkt im Jenseits, er gründet sich auf metaphysische Voraussetzungen, nicht auf ökonomische Wirklichkeiten, er ist ein religiöses Programm, das seine praktische Auslegung und Anwendung findet durch die kirchlichen Kanones, durch Encyklika und Syllabus des Papstes. Ihm erwächst deshalb in den realen Völkergebilden, die sich zum modernen Staat ausreifen wollen, der entschlossene Widersacher, der zunächst alle seine Kraft daran setzt, den kirchlichen Kommunismus zu zertrümmern, dann aber in seinem eigenen Schoße die Keime einer neuen sozialen Bewegung trägt, die auf eine neue, eine ökonomische Organisation der Welt abzielt. War nun auf der einen Seite der Ausgang des jüdischen

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Messianismus eine soziale Bewegung, war auf der andern Seite der erste Kristallisationspunkt der kirchlichen Entwickelung, die gewordene katholische Kirche, wieder ein durchaus praktisches, sozial-politisches Gebilde, so liegt es in der Natur der Sache, daß die treibenden Faktoren, welche die Verbindung zwischen jenem Ausgang und diesem Anfang hergestellt haben, nur in der gleichen Bewegungslinie gearbeitet haben können: das Christentum, welches mit seinen Wurzeln hineinreicht in die messianische Apokalyptik und in seiner weiteren Entwicklung sich zunächst zum katholischen Gottesstaate ausgestaltet, ist das Produkt des Kampfes der religiösen, von den Propheten proklamierten Rechtsidee mit zwei entgegengesetzten Polen, der Gewalt von oben und der Gewalt von unten. Aber wie es bei allen historischen Kämpfen der Fall ist, so ist auch hier der Kampf ein Kompromiß, in welchem der Sieger von seinen Gegnern alle die Kräfte und Fertigkeiten in sich aufnimmt, die die eigentliche Stärke, weiterhin aber auch die Schwäche derselben ausmachen, hier also von der einen Seite die staatsmännische Weisheit, den Universalismus des geistigen Lebens, von der andern den Enthusiasmus des Ideals und die Glut des religiösen Empfindens. Die Geschichte dieses Kampfes, das ist die Geschichte Christi, eine Geschichte, die durch Jahrhunderte sich hindurchzieht, von der jedes Stück der kirchlichen Litteratur zu erzählen weiß. Deshalb aber müssen wir auch die biblischen Evangelien als historische Dokumente dieses Kampfes zu verstehen lernen, und wenn wir nur diese Schriften nicht loslösen von ihrem großen religionsgeschichtlichen Zusammenhange, in welchem dieselben entstanden sind, so geben uns dieselben scharf geschnittene, auch unter der Hülle apokalyptischer Schreibweise noch durchsichtige Zeichnungen von den Kämpfen und

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Leiden, den Bestrebungen und Hoffnungen der werdenden Kirche.

Der proletarische Grund und Ausgang der großen Bewegung, die die alte Gesellschaft zur christlichen Kirche umwandelte, ist in den Evangelien noch ganz unverkennbar. Wie in der Epistellitteratur des neuen Testaments den Reichen gesagt wird, daß die Tage der Abrechnung für jeden dem Arbeiter vorenthaltenen Lohngroschen gekommen seien (Jacob. 5), und daß Gott die Schwachen, Unedlen und Verachteten, die nichts seien, erwählt habe, um zu nichte zu machen, die etwas seien (I. Cor. 1), so steht auch in den Evangelien das „Wehe euch Reichen!“ und „selig die Armen!“ Nicht die Vornehmen und Großen, die gnädigen Herren bilden die Bürger des Gottesstaats, sondern die Kleinen und niedrigen, die der Gemeinde sich zu ihren Diensten widmen. Schätze sammeln ist ein Götzendienst, und Sorge um die Güter der Erde eine heidnische Gesinnung. — und im Hintergrunde der Evangelien stehen noch ganz andere Erscheinungen. Die Ideen eines religiösen Kommunismus, verschmolzen mit denjenigen eines philosophischen Kommunismus, die im letzten Jahrhundert der alten Zeit immer mehr die Gemüter ergriffen, hatten in Nordafrika und Unteritalien ebenso wie in Palästina festen fuß gefaßt und sich in praktischen Gemeindebildungen versucht unter der Ägide die Neupythagoräer und Essäer. Das religiöse Symbol aller dieser kommunistischen Klubs war die Taufe, wie auch im Reformationszeitalter unter diesem Symbol der alte radikale Kommunismus wieder auflebt in den Anabaptisten. Getauft wurde am Nil, an der Tiber ebenso wie am Jordan, und im mystischen Zeichen der Askese kam der schwärmerische Geist über die Getauften, der dann immer weitere Kreise in seinen Bann zog und in der Gestalt des Jordantäufers seinen

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biblischen Typus gefunden. Aber schon hier zeigt sich die praktische Tendenz, mit welcher das werdende Christentum den ursprünglich radikalen proletarischen Kommunismus zur Kirche Christi umgebildet hat. Wie auch später, so hat die Kirche ihren Universalismus von Anfang an dadurch bewährt, daß sie aus allen Bewegungen, die sie bezwungen, sich selbst ein lebenskräftiges Reis auf ihren Stamm gepfropft Sie stößt den proletarischen Kommunismus der Täufergemeinde von sich aus, nachdem sie doch das Haupt derselben, Johannes, einen älteren Knipperdolling oder Johann von Leiden, kanonisiert. Bezeichnender Weise lassen die Evangelien auch Christus aus der Täufer- Gemeinde hervorgehen. Dieser Christus hat wohl in den Evangelien Geburtsgeschichten, aber keine jugendgeschichtliche Entwickelung. Die Geburtsgeschichten haben dann eine eigentümliche Wandlung durchgemacht. In dem älteren ebjonitischen Evangelium ist Jesus durchweg der Sohn Josefs und der Maria, und die Gemeinde „der Armen“ hält mit jäher Energie das Bewußtsein ihres eigenen proletarischen Ursprungs fest: Josef, der Zimmermann, als Vater Christi, wird ein ständiger Artikel ihres Gemeindeglaubens. Aber mit dem stets sich steigernden Selbstbewußtsein, mit dem die Kirche in die Bewegungen ihrer Zeit eingreift, wird ihr Christusbild, das Bild ihres eigenen idealen Wesens, transscendent; eben der Geist, der in der Gemeinde der Taufgesinnten lebendig gewesen, wird nun der „heilige“ Geist, der in der Jurisdiktion der Bischöfe und ihrer apostolischen Succession sich kirchlich realisiert, und dieser heilige Geist ist jetzt der eigentliche Erzeuger Christi, der an seinem lieben Sohne Wohlgefallen hat. Eine Jugendgeschichte, deren Fehlen in den Evangelien den Theologen so viel Kummer bereitet, braucht dieser Christus garnicht, höchstens, daß von ihm gesagt wird,

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daß er schon als Knabe hätte sein müssen in dem, was seines Vaters sei. Eine Jugendgeschichte hat dieser Christus gar nicht, wohl aber eine Vorgeschichte, und diese Vorgeschichte ist in den Evangelien deutlich genug zu lesen. — Das Werk Christi stellt sich in den Evangelien zunächst dar als ein Kampf mit den Besessenen und eine Austreibung der bösen Dämonen aus den mit derselben Behafteten. Es unterliegt nun keinem Zweifel, daß diese Dämonischen, die in den Evangelien meistens massenweise auftreten, in enger Verbindung mit dem Messianismus ihrer Zeit gelebt haben. Sie sind es, die Jesum zuerst als Messias proklamieren und ihm anmerken, daß er gekommen sei, sie zu verderben. Ein Oberster dieser Dämonen, Satan, versucht, auch Jesum in die trüben Gewässer dieser utopistischen Schwärmereien, die den radikalen Messianismus überall umfluten, hineinzuziehen: er soll zu den Steinen sprechen, daß sie Brot werden, von der Zinne des Tempels herabspringen und den Dämon anbeten. Auch von dem Führer der Taufgesinnten am Jordan sagt das Volk, er habe den Dämon. Wenn nun die Evangelien diese Dämonischen zugleich als nervös überreizte, ekstatische Phantasten schildern, so können wir auch diese Schilderung nur in Zusammenbang bringen mit ihrem sonstigen Wesen: es sind dämonische Messianisten, die durch sozial-revolutionäre Ideen in einen apokalyptischen Rausch versetzt worden, wie solche Messiaserscheinungen als Vorboten und Symptome tiefgebender lokaler Gärungen auch sonst auftreten, z. B. in den Geißlerbrüderschaften des Mittelalters. Mit der Ablehnung dieser unklaren utopischen Schwarmgeister erwächst dann die Aufgabe, der Bewegung positive Ziele und Aufgaben zu stellen und dieselbe sicher alle Fährnisse, die von rechts und links ihr drohten, hindurchzuführen. Diese asketisch-anarchistischen Elemente stößt die

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werdende Kirche von sich aus, sie überwindet die in den ekstatischen Tendenzen derselben liegenden Gefahren, indem sie zugleich die revolutionären Kräfte derselben in ihren Dienst nimmt, so daß es den ängstlichen Zeitgenossen so aussieht als ob der Christus eigentlich das schlimmere Übel sei, und Christus die Dämonen austreibe durch Beelzebub, den Obersten der Dämonen. Zugleich aber beginnt der Kampf nach der anderen Seite, gegen die von oben her der kirchlichen Entwickelung sich entgegenstellenden Mächte, um in der modernen Sprache zu reden: gegen die eine große reaktionäre Masse der bei der vergangenen und vergehenden Welt interessierten Bevölkerungsschichten, gegen die geistlichen und weltlichen Ausbeuter. Hier liegt die ungleich schwierigere Aufgabe der messianistischen Bewegung. Sie muß verneinen und zugleich bejahen, sie muß einer alten Hierarchie und privilegierten Gesellschaftsordnung den letzten Stoß geben und dabei den Grundstein legen für eine soziale Neuordnung der Dinge im Gottesstaate, der klösterlich organisierten Kirche. Da erweisen die alten prophetischen Reformgedanken ihre noch immer nicht erloschene Lebenskraft. Sie werden wieder hervorgeholt aus der Vergessenheit der Jahrhunderte und den veränderten sozialen Verhältnissen der Zeit angepaßt. Die Propheten hatten ja ursprünglich zu ihrer Zeit im kleinen Rahmen des nationalen Lebens den gleichen Kampf zu kämpfen gehabt, der jetzt internationale, weltgeschichtliche Dimensionen angenommen. Sie hatten den Gedanken des sozialen Rechts schon ethisiert, jetzt wird der ethische Rechtsgedanke noch humanisiert, er wird auf die allgemeine Menschennatur angewandt, ein neues Menschenideal wird mit denselben geschaffen. Und wenn die alten Propheten das Volk als ein Ganzes betrachten, so hatte die weitere Entwickelung des jüdischen Lebens unter den Ein-

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Wirkungen der griechischen, namentlich der epikurischen Gedankenwelt auch das Individuum ins Auge gefaßt und seinem Rechte in der individualistischen Ethik der alttestamentlichen Spruchlitteratur eine Basis geschaffen. So entsteht nun innerhalb der messianischen Bewegung eine neue Spruchlitteratur, die Logia Christi, in denen die sozialen Gedanken der Propheten mit den individualistischen Anschauungen des späteren Judentums sich assimilieren. Diese Sprüche Christi sind praktische Anweisungen, taktische Regeln, wie der Einzelne aus dem großen sozialen Kampfe als Sieger hervorgehen, wie er durch sein sittliches Verhalten auf exponiertem Posten der werdenden civitas Dei am besten dienen könne. Da finden sich Anweisungen für die Gesindeordnung der damaligen Zeit wie für den Normallohn der Arbeiter, über Schulden machen und Borgen wie über die Stellung des Einzelnen im allgemeinen Kampfe um das Recht. Alle diese Sprüche und Gleichnisse, in die die spätere Theologie unglaubliche Mysterien hineingeheimnißt hat, erweisen sich bei einer realistisch-historischen Betrachtung als die maßgebenden ethischen und sozialen Gesichtspunkte, unter denen die messianische Bewegung sich allein zur Kirche Christi ausweiten, ausreifen und konsolidieren konnte. Alle diese Logia Christi zielen eben doch unverkennbar auf die civitas Dei hin, sie geben ein Menschheitsideal, das in seinen Grundzügen schon das Ideal des Klosterheiligen erkennen läßt. Das Lebensideal der biblischen Evangelien liegt durchweg auf der gleichen Linie mit demjenigen der apostolischen Väter, es ist das in der Urzelle des katholischen Gottesstaates, dem Klosterlehen wirksame organisatorische Prinzip, die Trias des Gehorsams, der Armut und der Keuschheit. Wie der erste Clemensbrief an die Korinther in Analogie mit dem ersten neutestamentlichen Briefe an die Korinther die

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Vermeidung des Schismas als die erste Christenpflicht hingestellt, wie Christus dort als der Heerführer geschildert wird, dem die Christen in strenger Subordination Heeresfolge zu leisten haben, so sind es besonders die pseudoignatianischen Briefe, die in der unbedingten Unterwerfung des einzelnen unter den im Bischof gegenwärtigen Christus das Zeichen der Zugehörigkeit zu Christus erblicken. Ebenso aber verlangt der Christus der Evangelien eine bedingungslose Nachfolge, einen Gehorsam, der absagt allem, was der Mensch hat. Gegen die Pflicht dieses Gehorsams gilt keine Instanz des Lebens, nicht Vater, Mutter, Weib und Kind dürfen in Betracht kommen, wenn Christus etwas fordert. Der gleiche Gehorsam ist aber auch den Aposteln an Christi Statt zu erweisen: wer Sie hört, der hört ihn, wer sie verachtet, verachtet ihn. Wie Christus in den biblischen Evangelien als ein Muster der bei den Vätern (im Barnabasbrief, dem I. Clemensbrief a. d. Kor.) so hoch gepriesenen Niedrigkeit dasteht, so verlangt er auch die Armut, die Entäußerung des irdischen Besitzes, um den Erlös den Armen zu geben. Wie im Pastor Hermae der Arme der fruchttragende Weinstock, so ist auch im Evangelium der arme Lazarus der fromme, der nach seinem Tode ewiger Seligkeit teilhaftig wird und für den reichen Mann Fürbitte leisten soll. Und die Keuschheit der Evangelien ist ebenfalls ganz die kanonische Keuschheit, wie sie in der Introduktion zum Pastor Hermae gepredigt wird, die Pflicht, kein weibliches Wesen anzublicken, ihrer zu begehren. Alle diese Klostertugenden aber stehen im Dienste der christlichen Caritas, der Klosterthätigkeit, eben des Palliativmittels, das die civitas Dei für alle Schäden der civitas hujus saeculi bereit hatte. Diese Wohlthätigkeit wird in den Evangelien gemäß den Tendenzen der werdenden Kirche kanonisiert: das Almosengeben wird

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der Sphäre aller irdischen Beziehungen entrückt und zum Fundament der Lebensordnung der civitas Dei gemacht. Die Moral der Evangelien ist also durchweg Kampfesmoral, sie sammelt die sittlichen Kräfte der Zeit und richtet dieselben alle auf einen bestimmten Punkt: auf die werdende Kirche und ihre neue Lebensordnung. Diese Kampfesmoral bedeutet im sozialen Werdeprozeß der katholischen Gesellschaft etwa dasselbe, was heute formulierte Programme der politischen und sozialen Parteien bedeuten. Wichtige Punkte dieser sozialen Moral der Evangelien lassen sich noch leicht als ethisierte Umbildungen der im Kaiserreiche geübten sozialen Praxis erkennen. Die großen organisierten Kaiserspenden des Augustus, bei denen an durchschnittlich 200 000 Arme im Jahr Geld und Getreide verteilt wurde, gaben ja das weltliche Vorbild für die christliche Wohlthätigkeit. Und wenn das von Nerva und Trajan geschaffene Institut der Alimentation als eine Jugendversicherung bezeichnet werden kann, als die Übernahme der Versorgung und Erziehung unbemittelter Kinder auf den Staat mittels gewaltiger fundierter Kapitalien, die durch Stiftung fortwährend vermehrt wurden (G. Adler: Sozialreform im alten Rom), so haben wir an diesen ökonomischen Maßregeln, um dem Rückgang der Bevölkerung Einhalt zu thun, das Muster für die kirchliche Fürsorge an den Kindern, denen nach den Evangelien das Gottesreich gehört, und die man deshalb zu Christus kommen lassen soll. Die eminenten praktischen Erfolge dieser von führenden Geistern ersten Ranges der ganzen Bewegung vorgesteckten Moral lassen sich in den Evangelien schon deutlich erkennen. Die evangelische Litteratur kündigt sich selbst durchweg als eine zeitgenössische an, unter deren Augen die Entwickelung der katholischen Gesellschaft begonnen hat und mit Riesenschritten ihrem Ziele un-

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aufhaltsam entgegeneilt. Der Gottesstaat ist als Gottesherrschaft erschienen, unter die Menschen getreten; die Zeit ist erfüllet, ein neues Leben ist in die Geister gefahren, seitdem den Armen frohe Botschaft verkündigt wird. Schon fühlen die Gefangenen ihre Freiheit, die Mißhandelten und Zerschlagenen Heilung, und Christus kann sich freuen im Geiste und Gott danken, daß er solches den Klugen Weisen und Klugen verborgen hat und hat es den Unmündigen geoffenbart. Es ergeht ein Gruß stolzester Freude an das Zeitalter, in dem ein mächtiger Lebensaufschwung unter den Augen des Beschauers vor sich gebt, wo’s eine Lust wird zu leben: „Selig die Augen, die da sehen, was ihr sehet! Wahrlich, viele Könige und Propheten wollten sehen, das ihr seht, und haben es nicht gesehen!“ Da war die aufatmende Menschheit von einer Siegeszuversicht ohnegleichen ergriffen: sie sah den Christus über die Wasser dahinwandern, ohne von ihren Tiefen verschlungen zu werden, Sie hörte, wie er dem Sturm gebot, daß er ganz stille wurde. Der gute Hirte trug und weidete seine Schäflein, wie das Katakombenbild ihn darstellt, die jugendfrische Christengemeinde, ein großes Liebesmahl, eine Eucharistie, war die Welt geworden, wo Tausende sich herzudrängen und mit wenigen Broden und Fischen satt gemacht wurden. Auch nach einer andern, der rein religiösen Seite hin ist der Ausgang der messianischen Bewegung schon in den Evangelien ersichtlich. Der Messianismus hatte von Hause aus eine partikulare und eine universale Seite. Die letztere aber bedurfte nur eines wirksamen Anstoßes durch den sich entwickelnden Weltverkehr, um in ihrer religiösen Kraft als monotheistischer Glaube die erstere zu besiegen. Der universale Messianismus tritt jetzt in einen praktischen Gegensatz zu dem partikularen, Christus beginnt den Kampf mit Phari-

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säern und Schriftgelehrten, den Vertretern des nationalen Messianismus. Es ist die Naivetät der individualistischen Theologie in der Behandlung historischer Verhältnisse, daß dieselbe die Überwindung des jüdischen Ritualgesetzes als das Werk einzelner Individuen auffaßt. Als ob die Umwandlung Jahrhunderte alter Volkssitten und Institutionen, wie des Sabbaths und des ganzen jüdischen Rituals, durch theologische Debatten in der Synagoge, oder dadurch, daß ein Einzelner sich als Herr des Sabbaths proklamiert, zu bewerkstelligen gewesen wäre! Gegenüber diesen religiös-sozialen Institutionen mußten wieder religiös-soziale Kräfte wirksam werden. Der Weltverkehr, die Verschmelzung mit griechischen Ideen und lateinischen Wirtschaftsbetrieben haben die Formen des jüdischen Gesetzes gesprengt, die für die neuen Lebensbedingungen zu eng geworden waren. Aber erst die Erhebung der neuen Lebensbedingungen zu einem neuen, dem monotheistisch-trinitarischen Glauben der Kirche hat mit der Sprengung der alten auch neue Formen geschaffen, die dem gesellschaftlichen Zustande des Katholizismus einen religiösen Ausdruck verliehen. So versteckt sich hinter dem Gegenlatz der gesetzesstrengen und der freier gerichteten Messianer zwar ein lokaler Gegensatz, nämlich der zwischen einer zünftlerisch-rabbinisch gebundenen und einer zu neuen wirtschaftlichen Bildungen sich herausarbeitenden Gesellschaftsschicht, aber dieser soziale Gegensatz konnte zum Austrag gebracht werden nur als ein religiöser Kampf, und die biblischen Evangelien lassen die erste Phase dieses Kampfes, sowie die in denselben wirksamen Kräfte deutlich erkennen: durch die Aufnahme der monotheistischen Gottesidee hat das dem internationalen Verkehr sich erschließende Wirtschaftsleben den Sieg davon getragen über die rabbinisch-nationale Theologie, die dem in ihren Traditionen gebundenen

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Verkehrsleben den Stempel der Rückständigkeit aufdrücken mußte, und an dem Christus der Evangelien wird Kampf und Sieg der neuen religiös-sozialen Bildung, der katholischen Gesellschaft, anschaulich.

Aber während die Evangelien die messianische Entwickelung durch den Kampf der offenen Gegner von oben und unten siegreich hindurchschreiten sehen, droht der ganzen Bewegung eine andere, schlimmere Gefahr: die Gegenströmung äußerlich verwandt erscheinender, innerlich aber anders gearteter messianischer Bewegungen. Diese Gefahr wurde akut in der Zeit des jüdischen Krieges, als während desselben der Messianismus seine üppigsten Blüten trieb. Die Stücke der Evangelien (Matth. 24, Mark.. 13, Luk. 21), in denen unverkennbare Beziehungen auf die der Zerstörung Jerusalems vorhergehenden Ereignisse sich finden, haben der theologischen Forschung eigentümliche Schwierigkeiten bereitet. Da nach der traditionellen Voraussetzung der Christus, von dem die Evangelien handeln, unter Tiberius um das Jahr 34 gestorben sein soll, so konnte er eine Rede, die frühestens aus den Jahren 66—70 herstammt, nicht gehalten haben, sofern man nicht der Auskunft der orthodoxen Theologie zustimmen wollte, daß Jesus hier vor seinem Tode eine Vorhersagung dessen, was später geschehen war, geliefert habe. Deshalb wurden die betreffenden Partien der Evangelien als kleine Apokalypsen betrachtet, die von fremden Überarbeitern später in die Evangelien hineingefügt sein sollten. Man wollte sicher diesen Überarbeitern, die doch nicht allzu spät ihr Werk getrieben haben dürften, die ungeheure Verwirrung ihres historischen Gedächtnisses zutrauen, die bei einer solchen Einfügung zu Tage getreten wäre, als aus diesen offenkundig apokalyptischen Stücken eine den „historischen Jesus“ in frage stellende Konsequenz ziehen. Dazu

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kommt noch ein zweites. Diese den jüdischen Krieg zum Hintergrunde habenden Kapitel der Evangelien werden eingeleitet mit einer Frage der Jünger an Christus nach seiner Parusie. Parusie aber heißt Ankunft, Erscheinung. Unter den Voraussetzungen der Leben-Jesu-Theologie war es aber doch zu sinnlos, daß die Jünger den leibhaftig vor ihnen zu denkenden Meister nach seiner Ankunft fragen sollten. Aus der Parusie wurde deshalb eine „Wiederkunft“ gemacht, den Jüngern wurde der Glaube imputiert, der nachweisbar einer viel späteren Zeit angehört, daß ein gekreuzigtes Individuum nach seinem Code vom Himmel her wiederkommen und alle die Funktionen übernehmen werde, in denen die zeitgenössische Apokalyptik das Kommen des Messias, das Werden und Wachen des Messiasreiches angeschaut hatte. Diese apokalyptischen Stücke, die nach dem jüdischen Kriege hinschauen, stehen aber in den Evangelien keineswegs isoliert da. Von dem Kommen des messianischen Menschensohnes redet der Christus der Evangelien öfter, aber nirgends von einem Wiederkommen, zuletzt kurz vor der Kreuzigung, bei Gelegenheit des Verhörs im Synedrium. So scheint in diesen Parusiereden, die in ihren wichtigsten Stücken an den jüdischen Krieg anknüpfen, wieder ein Argument gegen die von der individualistischen Theologie dem Leben Jesu zu Grunde gelegte Chronologie gefunden zu werden müssen: um’s Jahr 70 hätte die Frage nach der Erscheinung des Christus nicht mehr so durchaus offen sein können, wie es nach den Parusiereden der Fall war, wenn nach dem unter Pontius Pilatus erfolgten Tode des historischen Jesu sich eine Gemeinde gebildet hätte, die auf diese Katastrophe gerade ihren Glauben gegründet. Die sogenannten Wiederkunftsreden, die aber mit der „Wiederkunft“ nichts zu thun haben, sondern lediglich von dem Kommen

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des messianischen Menschensohnes im Sinne der jüdischen Apokalyptik handeln, zeigen eben die Thatsache, daß bis ums Jahr 70 die messianische Bewegung, deren Ziele und Aufgaben den führenden Geistern wohl klar gewesen, sich noch in lebendigem Fluß befunden haben muß, und diese Thatsache barg die erste große Gefahr für den Entwickelungsgang der werdenden Kirche in sich. Messianische Bewegungen mit eigenartig gebildeten religiös-sozialen Programmen und Zielen entstanden in dieser Zeit der kriegerischen Verwirrungen in großer Zahl, jede derselben sagte: „ich bin der Christus“, sie verkündigte sich selbst als Retterin der Gesellschaft und warb mit Energie für ihre Sonderbestrebungen, um „so es möglich wäre, auch die Auserwählten zu verführen“. Da mußte Christus diesen Sozialreformern entgegentreten und ihnen sagen, sie seien falsche Christi; die ihres universalen Zieles klar bewußten Führer der Bewegung mußten vor gefährlichen Abirrungen, vor brutaler Gewalt oder schwächlicher Kompromißbildung warnen. Wie aber auch diese Stücke der Evangelien in römischer Beleuchtung dargestellt wurden, zeigt das bei Matthäus aus diesen Parusiereden herausgewachsene Gleichnis von den 10 Jungfrauen, in welchem deutlich der römische Hochzeitsbrauch der Einholung der Braut beim Aufgang des Abendsternes beim Scheine leuchtender Fackeln als Bild für die zu erwartende Parusie des Messias verwandt wird.

Nachdem diese Gefahr, die der jüdische Krieg der messianischen Bewegung gebracht hatte, glücklich überwunden war, war die christliche Gemeinschaft unter Trajan soweit erstarkt, daß sie aus der über sie hereinbrechenden Katastrophe nur gefertigt hervorgeben konnte: der gekreuzigte Christus erstand aus seinem Grabe, und die an den Namen des Paulus sich anschließende Epistellitteratur führt nun den inneren Ausbau der werdenden

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Kirche weiter; sie setzt auch in ihren ältesten Erscheinungen, den beiden Korintherbriefen, schon so entwickelte Gemeindeverhältnisse, eine einheitlich organisierte Verfassung, feste liturgische und kultische Gepflogenheiten voraus, daß eine Revision der herkömmlichen Chronologie dieser Briefe unausbleiblich sein wird. Kennt doch der erste Korintherbrief schon die Idee des katholischen Klerus, die Idee eines Kollegiums, dessen Glieder alle als Diener Christi und Haushalter der göttlichen Mysterien von jedermann gehalten sein wollen. In diesem Klerus giebt es schon hierarchische Grade, und jedem einzelnen Grade soll seine Rolle im ganzen angewiesen und gewahrt werden. Der erste Korintherbrief setzt auch einen liturgisch entwickelten christlichen Kultus voraus und kennt sogar die Sitte, daß Christen sich für Verstorbene taufen lassen, eine Sitte, die erst vom Zeitalter Trajans an unter dem Eifluß der beginnenden Gnosis in einigen häretischen Sekten, namentlich denjenigen des Kerinth, vorübergebend Gebrauch wurde. So wird der alte Streit um die Glaubwürdigkeit und Authentie der biblischen Evangelien allein vom Standpunkte realistischer Geschichtsbetrachtung aus seine Erledigung finden, indem dieselben aus dem Zusammenhange mit dem Kulturleben ihrer Zeit heraus verbanden werden. Wenn wir nur den vom Rationalismus uns angezüchteten Begriff des Geschichtlichen den Gesetzen der modernen Geschichtsforschung gemäß umbilden, so sind die Evangelien in der That durchweg als Geschichtsquellen zu verwerten; nur sind sie nicht Urkunden der Geschichte eines Individuums, sondern der einer sozialen Bewegung, der werdenden katholischen Gesellschaftsordnung. Dabei bilden alle vier Evangelien eine zusammengehörige Gruppe, und daraus, daß das vierte Evangelium einem anderen Ideenkreise angehört als die drei ersten, ist noch nichts be-

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wiesen für oder gegen seine historische Bedeutung. Wie die spätere Apokalyptik sich selbst hellenisierte, so ist das vierte Evangelium solch ein hellenisiertes Werk der apokalyptischen Litteratur. Alle vier Evangelien aber enthalten als Selbstzeugnisse der werdenden Kirche nicht nur ein Spiegelbild der Zeitereignisse, die die Hauptpunkte in der großen sozialen Umwälzung zum Beginn der christlichen Ära markieren, sie geben, was mehr ist, eine authentische Darstellung der geistigen Strömungen, die bei dieser Umwälzung zusammengetroffen und, sowohl um sich gegenseitig zu unterstützen, wie um sich zu bekämpfen, jedenfalls aber um eine neue Ära der Menschheitskultur zu schaffen, von deren Wellen wir alle heute noch umspült sind. Das ist die innere Einheit und Zusammengehörigkeit dieser Evangelien, daß sie alle den Werdeprozeß der Kirche darstellen. Das ist ihre Verschiedenheit, daß sie verschiedene Phasen in diesem Prozeß vor Augen haben, den Prozeß selbst von verschiedenen Standorten aus betrachten. Wie heute im sozialen Kampfe die Parteiprogramme sich modifizieren je nach dem Tempo und dem Charakter der Bewegung, so modifizieren sich auch in der alten Bewegung die Christusworte, die Bilder und Erzählungen, die dieser Bewegung ihre Ziele und Aufgaben vorhielten. Nur ein Symbol bleibt unverändert, weil es das Symbol derjenigen Bevölkerungsschicht ist, von der die große sozial-religiöse Umwandlung des Lebens ausgeht: das Kreuz, das Marterinstrument der Sklaven, das Bild alles Elends der Enterbten, das dann von dem Proletariat als Kampfes- und Siegeszeichen verwandt wird, wie auch die Bauern im Reformationszeitalter den Bundschub, das Zeichen der Hörigkeit, in gleichem Sinn gebrauchten. Das Christentum ist von Haufe aus die Religion des Kreuzes gewesen. Auch die Evangelien sind von vorn-

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herein auf den Kreuzestod Jesu angelegt. Daß Christus litt und starb, war nach den Evangelien nicht ein Irrtum der Zeitgenossen, die eine rein geistige Lehre nicht zu würdigen verstanden, auch nicht ein Fehlgriff der weltlichen oder geistlichen Justiz, die ein Jesusgemüt von liberal-theologischer Harmlosigkeit so gröblich verkannte, daß sie ihn wegen revolutionärer Gesinnung ans Kreuz schlug; es war eine soziale Notwendigkeit für die aus der absoluten Rechtlosigkeit emporringende Bevölkerungsschicht. Und daß Tod und Auferstehung Christi durchweg als Fundament des Christenglaubens betrachtet wurden, ist keineswegs, wie die liberale Theologie die Welt gerne glauben machen möchte, ein Mißverständnis der paulinischen Theologie, die den lehrenden Christus, den religiösen Volksprediger, durch ihr Leidensdogma verdrängt, sondern es ist die Bezeugung der für den Fortbestand des Christentums ausschlaggebenden Tatsache, daß die messianisch-soziale Bewegung ihre erste Feuerprobe bestanden und dadurch erst den religiösen Glauben an ihre eigene Unüberwindlichkeit, an ihre gottmenschliche Mission gewonnen hatte. Dieser Glaube mit seinen im Zeitalter Trajans gemachten Erfahrungen gab erst der noch unklaren, zersplitterten und allen impulsiven Eindrücken folgenden Bewegung die feste, klare Richtung auf ein weltgeschichtliches Ziel, er schuf damit in der tat das Fundament für die in der christlichen Kirche organisierte mittelalterliche Gesellschaft. Die Evangelien kennen auch schon Verfolgungen, die über die Christen um ihres Christennamens willen kommen, sie kennen ein geordnetes prozessuales Verfahren, dem die Christen vor den römischen Gerichtshöfen unterworfen werden, und geben praktische Anweisungen, wie die Christen dabei verhalten sollen. Das alles sind historische Notizen, die zuerst nur auf die unter Trajan geschaffene

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staatsrechtliche Lage der Christen passen. Durchweg liegt auch die Aufgabe der Jünger in den Evangelien nicht in der Annahme einer theologischen Lehre, einer theologischen Glaubensmeinung, wie der theologische Liberalismus statuiert, sondern in einer Glaubensthat, in der Nachfolge Jesu auf seinem Leidenswege. In dieser Kreuzesgeschichte der Christen unter Trajan findet dann auch der vielbesprochene Judas seine historische Deutung. Er war eben die Personifikation der Zunft der Delatoren, die ihre Vertreter bis in die Reihen der Christen hinein entsandte, und deren sauberes Handwerk, Unschuldige um Geld anzugeben, sich unter Domitian so furchtbar entwickelt hatte, daß Trajan den ärgsten Auswüchsen dieses professionierten Verrats entgegenzutreten sich gezwungen sah, ohne doch das Übel an der Wurzel fassen zu können. Wie das an Plinius gerichtete Edikt Trajans und der weitere Verlauf der Verfolgungen gezeigt hat, sind es ja gerade die Christen gewesen, die unter diesem bösartigen Treiben zu leiden hatten.

Bei dieser realistischen Geschichtsbetrachtung ist der Streit über die größere oder geringere historische Dignität und Ursprünglichkeit der einzelnen Evangelien belanglos geworden. Die charakteristischen Merkmale in der Stellung der Evangelien zur messianischen Bewegung sind auch in historischer Hinsicht wichtiger als die chronologische Reihenfolge der Schriften oder gar der Name ihrer Verfasser.

Bei Markus findet Wrede das Charakteristische darin, daß das Evangelium den Messianismus bei seinem Träger unter den Gesichtspunkt des kirchlichen Mysteriums stellt, Christus selbst erscheint als Verkörperung des kirchlichen Mysteriums. Das stimmt dazu, daß bei Markus die soziale Seite des Messianismus hinter der rein religiösen zurücktritt: das Evangelium von Jesu

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Christo, dem Sohne Gottes soll dargestellt werden, die metaphysische Seite, nach der die kirchliche Bewegung notwendig sich hinwenden mußte, ist hier zuerst ausschlaggebend geworden. Deshalb hat das Markusevangelium auch keine Geburtsgeschichte. Zwischen Matthäus und Lukas besteht der bemerkenswerte Unterschied darin, daß die Front des messianischen Kampfes sich bei Matthäus mehr gegen die Hierarchie, bei Lukas mehr gegen die Vertreter des Kapitalismus wendet. Bei Matthäus erscheinen sogar die Magier und bringen dem Christkinde ihre wertvollen Gaben dar, während die mit dem Lukas-Evangelium zusammenhängende Apostelgeschichte den Geld darbietenden Magier mit dem Bannfluche belegt. Nun hat sich das Matthäus-Evangelium in der Erzählung von der Flucht des Jesuskindes nach Ägypten wohl noch eine Erinnerung daran bewahrt, daß die totale Bewegung, die ihre messianischen Fluten von Palästina aus über die Welt ergossen, mit der einen ihrer Quellen nach Nordafrika hinüberwies, wo alexandrinisches Judentum, durch die religiösen und philosophischen Reformideen ergriffen, für die revolutionär-messianische Propaganda so günstig vorbereitet war wie nur irgendwo sonst auf der Erde. Lukas hat die schärfsten Worte und Gleichnisse gegen die Reichen, Matthäus gegen die Schriftgelehrten und Pharisäer. — Lukas und Johannes haben das Gemeinsame, daß in ihnen der kleinbürgerlich-partikularistische Standpunkt schon überwunden ist, daß sich die neuen Ideen der Zeit schon als eine siegreiche Macht für das öffentliche Leben erwiesen haben. Bei Lukas hat sich das Proletariat schon durchweg Anerkennung errungen. Er beginnt mit dem großen Magnificat der Kirche, dem Lobgesang der Maria: „Er stößt die Gewaltigen vom Stuhl und erbebt die Niedrigen! Die Hungrigen füllet er mit Gütern

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und lässet die Reichen leer!“ Die große Sünderin sitzt mit Jesu zu Tisch, von der Straße werden die Blinden, die Lahmen und Krüppel hereingeholt zum gastlichen Mahle, und niemand fragt mehr, ob sie ein hochzeitliches Kleid anhaben; der verlorene Sohn ist nicht enterbt, sondern in seine Rechte eingesetzt im Vaterhaus. Aber nun entsteht die neue, schwierige Frage: wenn die Armen selig gepriesen werden und in der civitas Dei zu Tische sitzen sollen, was wird mit den Reichen? Lukas hat auf diese Frage noch eine schroff ablehnende Antwort: der reiche Mann gehört an den Ort der Qual. Aber die Antwort war unhaltbar, sobald das Christentum wirklich katholisch, allumfassend werden wollte. So übernimmt es denn auch Rom, hier eine versöhnende, vermittelnde Antwort zu geben. Wurde der Reichtum noch als ein Übel betrachtet, so wurde er doch immer mehr ein notwendiges Übel, je weiter sich die soziale Sphäre der christlichen Gemeinde er-streckte. Deshalb sucht schon der ganz nach Rom hinweisende Pastor Hermae in dem Gleichnis von der Ulme und dem Weinstock die Lehre zu verbreiten, daß der Reiche, wenn er auch wie die Ulme von Natur unfruchtbar sei, doch um des Armen willen notwendig sei, damit der Arme, der fruchttragende Weinstock, an der Ulme emporranken und sich halten könne, so daß also der Reiche seinen Wert durch den Armen, durch die Gebete und frommen Werke, die der Arme für ihn thue, erhalte. Jm vierten Evangelium ist die Situation noch anders. Der proletarische Hintergrund ist verschwunden, der Kampf gegen die Dämonischen liegt schon außerhalb des Gesichtswinkels dieses Evangeliums. In der Scenerie der Hochzeit zu Cana befinden wir uns nicht mehr in der Umgebung der enterbten, sondern im Haufe eines im Überflusse lebenden Gastgebers. Wohl ist die alte demokratische Erinnerung

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noch lebendig, daß niemand der Obersten an Christus glaube, sondern nur das Volk, das bei den Obersten verflucht ist, weil es nichts vom Gesetz versteht Aber es kommen doch auch schon die Vertreter des Ranges und des Besitzes, Josef von Arimathia und Nikodemus, um wenigsten den toten Christus mit allen Ehren zu bestatten, vielleicht eine historische Reminiscenz an den Konsul Flavius Clemens, den ersten bekannten Patrizier, der zur Gemeinde der Christen gehalten haben soll, oder vielleicht an den Astyrius, der als reicher römischer Senator den christlichen Märtyrern nach Eyseb VII, 16 ein ehrenvolles Begräbnis verschafft haben soll.

Sechstes Kapitel

Das diesjährige Januar-Heft der von Hans Delbrück herausgegebenen preußischen Jahrbücher bringt einen Aufsatz von Dr. Ferd. Jac. Schmidt in Berlin über „Worte Christi“. Der Verfasser vertritt gegen Chamberlain und die heutige historische Theologie darin den Standpunkt, daß das theologische Unternehmen, aus den vorhandenen Quellen den historischen Jesus zu rekonstruieren, auf der ganzen Linie gescheitert sei, und fügt gleich hinzu, daß es nicht eine Vertiefung, sondern eine Verflachung der christlichen Religion wäre, wenn sie vornehmlich auf die geschichtliche Gestalt des einst auf Erden wandelnden Jesus gestellt würde. Schmidt preist es als die Weisheit der Vorsehung, daß sie den christlichen Geist vor der Verschränkung bewahrt, die demselben drohte, wenn es wirklich gelänge, das Bild des geschichtlichen Jesus festzustellen, er nennt es eine

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irreligiöse Auffassung, wenn man glaubt, mit den in den Evangelien enthaltenen Worten Christi die irdische, geschichtlich Persönlichkeit erfassen zu können, und kommt zu dem Schluß, daß alle einzelnen Stücke der synoptischen Evangelien bis auf die schmale und erst später hinzugekommene Rahmenerzählung nur Vorgänge und Zustände der Urgemeinde widerspiegeln, sowie von ihr im Geiste des Herrn durch Fragen, Zweifel, Störungen, Unglücksfälle veranlaßte und in der Form von Sprüchen, Gleichnissen, Wundererzählungen gegebene Entscheidungen. Diese Position eines, wie es scheint, aus der Ritschlschen Schule hervorgegangenen Theologen dürfte durchaus unanfechtbar und klar sein, freilich kommt es nun auf die Konsequenzen an, die aus dieser Position gezogen werden. Was von dem historischen Jesus gilt, muß auch auf die historische Gemeinde, deren religiöser Reflex in den Worten Christi enthalten ist, seine Anwendung finden: auch die Urgemeinde ist, weil historisch, vergänglich, beschränkt, daß auf dieselbe das religiöse Leben nicht gegründet werden darf. Kann der historische Jesus kein absolutes Prinzip des religiösen Lebens darstellen, so kann es auch nicht eine historische Gemeinde, so ist es überhaupt irreligiös, eine Verflachung und Verschränkung des religiösen Lebens, irgend ein absolutes Prinzip für dasselbe in der Geschichte aufsuchen zu wollen. So stellt uns das Christusproblem zum Schluß vor die Frage, ob und wie weit die in dem Christus der Evangelien personifizierten sozial-religiösen Lebensmächte noch im stande sind, eine geistige Führung im Leben der Gegenwart zu übernehmen. Die alte, seit David Strauß unendlich variierte frage, ob wir noch Christen seien, wartet eben noch immer auf eine befriedigende Antwort.

Die katholische Kirche ist nach dieser Seite bin ungleich günstiger

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situiert als die protestantische. Ihr macht diese Frage keine Not, sie kann sich die christliche nennen und braucht damit sich doch nicht zur unbedingten Sklavin der Vergangenheit zu machen, weil sie, zur Zeit im infallibeln Papsttum, ein lebendiges, also auch immerhin entwicklungsfähiges Prinzip für die Auslegung der Vergangenheit besitzt. So sehr der Katholizismus seine historische Kontinuität mit der Vergangenheit aufrecht erhält, so kann er doch immerhin im lebendigen Fluß der Geschichte selber wachsen, also auch sich wandeln, er ist accommodationsfähiger an jede Gegenwart, in gewissem Sinne also auch freier als der dogmatische Protestantismus, der an das unveränderliche „es stehet geschrieben“ gebunden bleiben will. Aber dieser Katholizismus ist in seiner Wurzel metaphysisch, deshalb geht auch keine Entwickelung nur in derselben Richtung vor sich, in der seine Existenzbedingungen gelegen, sie muß sich immer mehr hierarchisch zuspitzen, den Willen der Menschheit immer mehr sich selbst entäußern und einem transczendent gedachten absoluten Willen unterwerfen. Deshalb hat der Protestantismus darin sein höheres geschichtliches Recht daß er als religiöse Renaissance mitgeholfen hat, der kirchlichen Transcendenz den Weg zu den Wirklichkeiten des Lebens zurückzubahnen. Hier sind auch die Verdienste der liberalen protestantischen Theologie zu werten, die in mühseliger Arbeit seit den Tagen Lessings zu den wirklichen Quellen der Religion vorzudringen versucht hat. Aber die individualistische Geschichtsauffassung, von der diese Theologie beherrscht wurde, läßt sie die Religion nur als eine psychologische Erscheinung des einzelnen Menschen betrachten, sie kommt auch in ihren fortgeschrittensten Vertretern nur zu einer Erklärung der religiösen Phänomen aus der Einwirkung, die die Einzelnen kraft ihrer natürlichen Einrichtung, ihrer seelischen Veranlagungen

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und Bedürfnisse aufeinander ausüben, aber sie hat kein Verständnis für die sozialen Faktoren, die die religiöse Entwickelung bestimmen, und ebensowenig für die Rückwirkung, die die religiösen Faktoren auf das soziale Leben ausüben. Erst einige Neukantianer, so Natorp in seiner Schrift: Religion innerhalb der Grenzen der Humanität, haben es unternommen, die religiöse Frage von dieser sozialen Seite aus energisch in Angriff zu nehmen, wie von sozialistischer Seite aus Lütgenau’s „natürliche und soziale Religion“ eine Verwertung soziologischer Forschung für das religiöse Phänomen unternommen hat. Die Überlegenheit, welche sich die Ritschlsche Schule in der historischen Theologie über die liberale errungen, ist ohne Zweifel darauf zurückzuführen, daß dieselbe den atomistischen Standpunkt in der Theologie verlassen und sich einer gesellschaftlichen, die großen Zusammenhänge der Geschichte überschauenden Betrachtung des religiösen Lebens zugewandt hat. Aber noch haftet der Ritschlschen Schule ein alter metaphysischer Rest an, der erst durch eine wahrhaft soziale Theologie überwunden werden kann, und dieser Rest zeigt sich nirgends deutlicher als in der theologischen Behandlung, die das Christusproblem in der Ritschlschen Schule gefunden: der historische Christus, das menschliche Einzelwesen soll hier ersetzt werden durch ein religiöses Gattungswesen, das mindestens ebenso kompliziert ist wie der Jesus der historischen Theologie, und für welches in dem Anschauungsmaterial der Wirklichkeit jede Anknüpfung fehlt. Entscheidet aber für die Geschichte des Christentums nicht das irgendwie vorhanden gewesene unbekannte X, welches etwa als historisches Individuum Modell gesessen zu den Christusdarstellungen der Evangelien, sondern das Gemeinschaftsbewußtsein, welches sich in diesen Darstellungen objektiviert, personifiziert hat, dann muß dieses Gemeinschafts-

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bewußtsein auch durchaus soziologisch verstanden und gewertet werden, mit anderen Worten: wenn nach Kant der Antagonismus in der Gesellschaft, den Marx als Klassenkampf bezeichnet, jede historische Entwickelung hervorgerufen hat, dann muß auch in der Entstehung der christlichen Gesellschaft dasselbe historische Lebensgesetz gegolten haben, und die religiöse Moral, welche das Urchristentum in der Gestalt seines Christus veranschaulicht hat, bezeichnet die Klasse, mit der die werdende christliche Gesellschaft sich selbst behauptet, ihren Sieg über die feindlichen Mächte der alten Gesellschaft errungen hat. Die soziale Theologie aber wurzelt, wie die ganze Kantsche Geschichtsbetrachtung, in der Entwickelungsidee. Nur die Idee, das Endziel, hat für sie eine absolute, d. h. regulative, normgebende Bedeutung, jede empirische Erscheinung, jede noch so bedeutungsvolle Geschichtsepoche ist nur etwas Relatives, ein Entwickelungsfaktor für die Verwirklichung der Idee. Deshalb kann nicht die Materie, der historische Inhalt des Christusbildes, sondern nur seine ideale Form, eben die Personifikation zu einem Christus, eine sozialtheologische Bedeutung beanspruchen, nicht das „Was“ der christlichen Kampfes- und Gemeindemoral, sondern das „Wie“ derselben enthüllt ein Gesetz der Geschichte, aus dem eine ideale Norm des Lebens gewonnen werden kann. Die Kräfte, die den Klassenkampf zum Beginn der christlichen Ära ethisiert und humanisiert, die aus einer partikular-nationalen eine universelle menschheitliche Bewegung geschaffen haben und in dem Christus der Evangelien personifiziert sind, haben auch diesem Kampfe den Sieg beschieden, sie haben ihm den Sieg so beschieden, wie er historisch notwendig, aber auch allein möglich war. Deshalb sind diese Kräfte nun integrierende Bestandteile der menschlichen Kultur und Geistesentwickelung geworden, dieselben müssen und werden

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in jeder neuen großen Entwickelungsphase des Lebens der Menschheit wieder erscheinen, es wird keine ökonomische und soziale Entwickelung großen Stiles geben, ohne daß die treibenden sozialen Kräfte des Klassenkampfes ethisiert und humanisiert, d. h. religiös gebildet werden. Jede wirtschaftliche Gestaltung wird durch das Entwickelungsgesetz des Lebens bestimmt. Die eruptiven Kräfte, welche bei einer sozialen Neugestaltung den ersten Anstoß gegeben, treffen auf die ihnen entgegenwirkenden Kräfte, sie werden dadurch in ihrer Richtung geändert, in ihren Maßverhältnissen beeinflußt. Dieselben können zuletzt nur dadurch ihre Tendenz auf das große Ganze verwirklichen, daß sie ihre ursprünglich verdichteten Ziele entfalten, erweitern, die partikularen loyalen Forderungen zu allgemeingiltigen ethischen Normen umbilden, die zwar eine höhere Stufe menschheitlichen Lebens darstellen, in ihrem Schoße aber doch wieder das Prinzip zu neuen Differenzierungen tragen. Zugleich verlangt der Einheitstrieb der menschlichen Vernunft, daß diese ethischen Normen in Zusammenhang gebracht werden mit ihrem kosmischen Grunde. Das Gute muß als ein Bestandteil des gesamten Weltlebens in seiner inneren Notwendigkeit begriffen werden, wenn es den Menschen begeistern, zu thätiger Hingabe und Opfern entflammen soll. Das Gute schafft somit einen religiösen Glauben, der dasselbe im Zusammenhange der sittlichen Weltordnung erfaßt und daraus die Gewähr seiner Verwirklichung ableitet. Das Gute aber ist, unbeschadet seines kosmischen Ursprungs, immer das menschliche Gute, es wird sowohl in seinen Zielen wie in den Mitteln seiner Verwirklichung immer angeschaut in einem Menschenbilde, einem idealen Menschensohne: das ethische Ideal wird ein religiöses, ein Christus.

Vom sozialtheologischen Standpunkte aus ist deshalb das

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Christusbild der sublimierteste religiöse Ausdruck alles dessen, was in einem Zeitalter an sozialen und ethischen Kräften wirksam gewesen ist, und in den Wandelungen, die dieses Christusbild beständig erfahren, in seinen Erweiterungen und Verschränkungen, in dem Verblassen seiner alten Züge und dem Aufleuchten in neuen Farben, haben wir den feinsten Gradmesser für die Wandelungen, welche das zeitgenössische Leben von den Höhen seiner geistigsten Ideale bis zu den Tiefen seiner materiellsten Lebensvorgänge durchmacht. Dieses Christusbild trägt bald die Züge des griechischen Denkers, bald die des römischen Cäsaren, dann wieder die des feudalen Grundherrn, des Zunftmeisters, des gequälten fronpflichtigen Bauern und des freien Bürgers, und diese Züge sind alle echt alle lebendig, solange nicht die Theologen der Schule auf den Einfall kommen, die einzelnen Züge gerade ihrer Zeit als die ursprünglichen und historischen an dem Christus der Evangelien aufweisen zu wollen. Höchstens entsteht ein Schein der Geschichtlichkeit dieser Züge daraus, daß in den Entwickelungs-und Bildungsseiten der christlichen Gesellschaft die verschiedenartigsten, ja entgegengesetztesten Kräfte zusammengewirkt haben, von denen eine jede einzelne eine gewisse Ähnlichkeit mit den heute wirksamen Kräften verrät. Das Christusbild der Gegenwart sieht nun auf den ersten Blick sehr widerspruchsvoll aus. Es trägt zum Teil noch die Züge des alten Heiligen oder des himmlischen Monarchen, daneben aber auch die ganz modernen Züge des Proletarierfreundes, ja des Arbeiterführers. Damit aber verrät es nur die innersten Widersprüche, die durch unsre Gegenwart hindurchgeben. Und es sind doch alles Menschentypen, die in diesen Christusbildern sich darstellen, die Dolmetscher einer Zeit, die auf der Suche nach einer neuen Einheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt, begriffen

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ist. Liegt die Wurzel dieses Christusglaubens in den Einheitstrieben der menschlichen Vernunft, die die Fülle ihres eigenen Suchens aus den entlegensten Weiten zusammenholt für das fromme Bild eines Menschensohnes, dann sind die schaffenden Kräfte dieses Glaubens heute noch so gut thätig wie in den ältesten Zeiten menschlichen Geisteslebens, wo der Mensch zuerst über sich selbst hinaus wuchs, indem er sich anschaute im Lichte göttlicher Verklärung. Aber mit dem gewachsenen Menschen sind auch diese Kräfte gewachsen, wird deshalb auch das Christusbild wachsen, in dem die heutige, mehr noch die kommende Menschheit alle ihre kosmischen, totalen und ethischen Lebenskräfte zusammenschließt zu einem religiösen Menschenbilde, zu ihrem Christus. Was wußte die Zeit, die zuerst den Menschen von den Schranken der Nationalität befreite, in der der Sklave zuerst erwachte zum Bewußtsein seiner Menschenwürde, vom Kosmos, der unendlichen Welt! Kannte sie doch nicht einmal die Erde, die für sie die Welt, wenigstens den Mittelpunkt der Welt bedeutete, daß sie ihr eigenes Lebensideal nur schaffen konnte in den Farben der Jenseitigkeit, der kirchlichen Überweltlichkeit, und der Mensch seinen Christus nur erkaufen konnte um den Preis, der Welt, soweit er dieselbe kannte, absterben! Nun steht der Mensch in seiner unendlichen Weit! Ihre unermeßlichen Kräfte vermählt er seinem Willen, aus ihren entlegensten Weiten holt er seine Wahrheit, an dem ewigen Geheimnis ihrer Unfaßbarkeit und Unergründlichkeit entzündet er sein frommes Sehnen und Empfinden. Und diese Welt, die der frühere Mensch eine tote nannte, wird jetzt lebendig in allen ihren Teilen. Da liegt kein Stäubchen zu unseren Füßen, in dem nicht eine Seele schlummerte, das nicht eine ewige Geschichte in sich schlösse; kein Größtes und kein Kleinstes vermag unter Auge wahr-

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zunehmen, in dem nicht das ganze Wunder des Lebens sich uns offenbarte und Kunde gäbe von einer eigenen Liebe, an der es Teil hätte mit seinem Leben. Was wir erforschen in dieser Welt, das ist nur ein Sammeln von Antworten, die dieses unendliche Leben aus seiner Fülle dem fragenden Menschengeiste erschließt; was wir in eigener Seele empfinden von ihrer Schönheit und Erhabenheit, was wir aus ihr gestalten mit freier, schöpferischer Kraft, das ist nur eine Wiedergabe des Lebens, das wir von ihr empfangen. Und was wußte der kirchliche Mensch vom Menschen, den er wohl vor sich sah in seiner äußeren Gestalt, dessen inneres Leben und Wesen ihm aber ein Buch mit sieben Siegeln geblieben war. Jetzt sind die Siegel soweit gelöst, daß der Mensch seine eigene Werdegeschichte verfolgen kann durch die Äonen, die an ihm gearbeitet, um ihn zu dem zu machen, was er ist. Jetzt weiß er, daß er das Leben von Ewigkeiten in sich trägt, und daß diese Ewigkeiten in ihm erwachen aus ihrem Schlummer, wenn ein übermächtiges Liebesleben über ihn kommt, das ihn aus der Einsamkeit und Enge seines Ichlebens hinführt in das Herz der ewigen Welt, der ewigen Menschheit, in das Herz des lebendigen Gottes. — Was wird das für ein Christusbild werden, wenn erst dieser neue Mensch in dieser neuen Welt sich zurechtgefunden und dann seine Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftskräfte gesammelt haben wird, um in neuen unerhörten Menschengestalten sein reinstes Wollen, sein höchstes Können und innerstes Lieben zu offenbaren! Solche Weihnachtslieder sind ja noch nicht gehört worden, wie sie gesungen werden, wenn diese neue Welt dem Herzen dieses neuen Menschen die Töne entlockt von tiefstem Weh und überquellender Seligkeit! Die heutige Welt, das heißt nicht mehr nur leuchtende Sonnen und unzählbare

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Sternenheere, nicht mehr nur stolze Firnen alles überragender Gipfel. Welt, das heißt jetzt auch das winzigste Moos, das Lebewesen, für dessen Kleinheit dem Menschengeiste jeder Maßstab fehlt. Der heutige Mensch, das ist nicht mehr nur Fürst oder Priester, Gelehrter oder Künstler, das ist eben: der Mensch, der schaffende, der in seinem Denken, Fühlen und Wollen ein Unfaßbares, Unersättliches in sich birgt auch wenn er im Rinnstein lebte und von den Trebern, die die Säure fressen, sich nährte. Diesem Menschen stellt das Entwickelungsgesetz des Lebens das Ziel, über sich selbst hinauszuwachsen, mehr noch, um in der Gedankenreihe Nietzsche’s zu sprechen, etwas zu schaffen, das über ihn selbst hinausreicht. Sein Vaterland läßt er hinter sich, um seiner Kinder Land zu suchen. Die Liebe zum Nächsten ist ihm zu eng und klein für sein reiches, überströmendes Menschenherz, er fordert vom Menschen die Liebe zum Fernsten, zum Sternenhöchsten. Und unter unsren Augen hat sich eine Entwickelung vorbereitet, die derjenigen nahe verwandt ist, die einst den Christus aus sich geboren. In den Bauernaufständen des 16. Jahrhunderts machte sich der Antagonismus der Gesellschaft zuerst fühlbar, der zu neuen Gestaltungsformen des sozialen Lebens hindrängte. Im städtischen Proletariat glommen die auf den Fronhöfen entzündeten Flammen langsam weiter, sie schufen einen utopischen Kommunismus, der in anabaptistischer Ekstase zuerst die Geister ergriff, bis derselbe in der französischen Revolution die Zeit für die Gründung seiner Hoffnungen gekommen glaubte. Schon trat der Prophet eines „neuen Christentums“, St. Simon, gemeindebildend und gemeindesammelnd hervor, der Heilige des Kommunismus; aber während seine Jünger und Zeitgenossen schon meinten, er sei der, der da kommen solle, erwies er sich in Wirklichkeit doch nur als der Vorläufer. Auch

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dieser Kommunismus mußte erst seine Utopien überwinden, er mußte realistisch, ökonomisch denken lernen, aber er ist doch ein soziales Ferment geworden, das den großen Teig der modernen Gesellschaft durchsäuert, im Gärungsprozeß, den es erregt, freilich auch sich selbst läuternd, mit den Elementen, die ihm zuerst fremdartig gegenübertraten, sich amalgamierend. Der radikale Sozialismus des kommunistischen Manifestes wird eine ökonomische Theorie, deren Endziele immer mehr den Charakter eines Wirklichkeitsideals annehmen, das nur eine regulative, nicht eine konstitutive Bedeutung beansprucht, und deren praktische Tendenzen immer mehr in die Breite geben, den weiten Umfang des Wirklichkeitslebens zu umfassen suchen, dabei aber selber mit den Faktoren der Wirklichkeit zu rechnen, sich denselben anzupassen gezwungen ist. Dieser Sozialisierungsprozeß zwischen den sozialen Gärungserregern und dem historisch Gewordenen ist nach den Gesetzen der Geschichte unaufhaltsam. Er ist ein doppelseitiger und erscheint von der einen Seite als eine Verflachung, Verbreiterung der ursprünglich in engem Bette überschäumenden kommunistischen Bewegung zu dem weiten Strome sozialistischer Lebensauffassung, von der anderen dagegen als ein immer weiteres Umsichgreifen der sozialistischen Propaganda, als ein Durchtränktwerden aller bürgerlich-politischen Anschauungen, auch der widerstrebendsten, mit den Ideen des Sozialismus. Dieser Sozialisierungsprozeß der bürgerlichen Lebensanschauungen ist zugleich der Prozeß der Ethisierung und Humanisierung des älteren utopischen Kommunismus durch die geistigen Mächte des gegenwärtigen Lebens, und je mehr das Entwickelungsgesetz des Lebens verbindet, was in den Köpfen der Menschen und den Programmen der Parteien getrennt dasteht, desto unvermeidlicher wird sich auch in der sozialen Bewegung der religiöse Faktor bemerkbar

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machen und sein Recht fordern, so sicher das religiöse Leben sich seiner geistigen Verbindung mit dem sozialen Leben bewußt werden wird. Dann aber wird das Christusproblem der Menschheit von neuem gestellt werden, es wird auch von neuem seine Lösung finden. Zu einem neuen Christusbilde mischen ja heute schon die Künstler ihre Farben, zu neuen Christusliedern stimmen die Sänger ihre Harfen. Es giebt keinen modernen Dichter von tieferem Ernste, der von den Bewegungen des sozialen Lebens unberührt bliebe, es giebt aber auch keinen, der nicht irgendwie von dem alle religiös-sozialen Probleme in sich schließenden Christusproblem ergriffen wäre. Die Kräfte, die einst im römischen Kaiserreiche den Klassenkampf ethisiert und humanisiert, aus einer partikular-nationalen eine universell-menschheitliche Bewegung geschaffen, sind durch den Christus der Evangelien Bestandteile der menschlichen Kultur und Geistesentwickelung geworden, daß keine neue Phase im großen Entwickelungsgange der Menschheit mehr denkbar ist, die diesen religiösen Universalismus nicht in sich aufgenommen hätte. Deshalb aber wird auch in dem neuen Christus, der von den besten Kräften des ewig Menschlichen im Mutterschoße der heutigen Gesellschaft gebildet wird, bis sein Tag einer neuen Weihnacht gekommen ist, der alte Christus wiedererscheinen, daß nichts von ihm verloren ist, was wirklich einmal der Menschheit Leben und Kraft gegeben. So gut wie die Natur, kennt auch die Geschichte ein Gesetz von der Erhaltung der Kraft, sie läßt nichts umkommen, was je und je in ihr lebendig gewesen, und läßt in ihren kühnsten Neubildungen doch immer die Umbildungen des früheren erkennen. Wie der Christus der Evangelien über die Schriftgelehrsamkeit von Jahrhunderten hinweg dem Genius der Propheten eine Auferstehung bereitete, so wird auch der

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Christus der werdenden Gesellschaft den Christus der Vergangenheit aus dem Grabe erlösen, in dem die Meister der theologischen Schule ihn gehalten. Wir Übergangsmenschen können nichts thun als daran mitarbeiten, daß nichts von dem, was einst ein wirkliches Lebenselement der Menschheit gewesen, dem gegenwärtigen Geschlechte verloren gebe.

Sachlich ist der kirchlichen, also der katholischen Tradition über den Ursprung des Christentums das höhere historische Recht gegenüber der kritischen Theologie zuzuerkennen, nur daß die kirchliche Tradition die Vorgänge, die sich auf der Erde abgespielt, transcendent darstellt, daß sie aus der Ökonomie eine Metaphysik, aus der Realität, der geschichtlichen Entwickelung eine alleinseligmachende, gottmenschliche, Zwei-Naturen–Kirche gemacht hat. Insofern die kritische Theologie an Stelle dieses transcendenten Ursprungs nach einer historischen Begründung des Christentums sucht, ist dieselbe deshalb formell im Recht gegen die kirchliche Tradition. Nur verbaut sich diese Theologie dadurch den Weg zu ihrem Ziele, daß sie die christliche Entwickelung aus einem Individuum erklären will, statt daß sie dieses so oder anders geartete Individuum, oder auch die Reihe der Individuen, die für die werdende christliche Gesellschaft in Betracht kommen, aus den sozialen Faktoren zu begreifen sucht, die den individuellen Kräften die für ihre Wirkung ausschlaggebende Richtung angewiesen. Indem die kritische Theologie der traditionellen Auffassung vom Christentum den absoluten Charakter abspricht, nimmt sie denselben gerade in ihren epigonenhaftesten Erscheinungen für sich selber in Anspruch, sie datiert ihre Auffassung vom Christentum zurück in das vermeintliche urchristliche Individuum und legt sich dadurch selber die behauptete Ursprünglichkeit desselben bei.

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Da aber Religion nicht eine Kraft des Gedächtnisses oder der Nachahmung, sondern ein eigenes geistiges Leben bedeutet, so kann jede Erforschung der Religionsgeschichte immer nur einen wissenschaftlichen Wert haben, der erst durch ein eigenes religiöses Leben zu einem religiösen Wert umgeprägt werden kann. So können wir an dem Christus der Vergangenheit die Gesetze der Geschichte studieren, aber die Anwendung dieser Gesetze auf das Leben der Gegenwart können wir nicht von ihm lernen. Der Christus, der uns Heutigen das bedeutet, was der Christus der Evangelien für seine Zeit gewesen ist, kann nie ein historischer, ein vergangener Christus sein, er muß aus dem gesamten Inhalt des modernen Lebens, aus den treibenden Kräften unsrer gesellschaftlichen Kultur geboren werden, er kann nur ein Menschenbild sein, in dem alle gärenden, alle aufwärts und vorwärts strebenden Tendenzen der heutigen Menschheit ihren verklärten, vergeistigten und vermenschlichten Ausdruck finden.

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