Arthur Drews – Werke

Die Leugnung der Geschichtlichkeit Jesu in Vergangenheit und Gegenwart – 1926

Ein forschungsgeschichtlicher Überblick über die Geschichte der Bestreitung der Existenz Jesu aus der Feder des bekannten Radikalkritikers Arthur Drews. Neben Albert Schweitzers „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“ ein Standardwerk.  

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Englische Zusammenfassung von Klaus Schilling

Die Petruslegende – 1924

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Englische Zusammenfassung von Klaus Schilling

Das religiöse Problem der Gegenwart – 1910

Aus: Die Christusmythe (225-238)

[225] Nach Ansicht der liberalen Theologie bildet nicht der Gott, sondern vielmehr gerade der Mensch Jesus den wertvollen religiösen Kern des Christentums.1 Sie behauptet damit nichts weniger, als daß das gesamte Christentum bis auf den heutigen Tag, d. h. bis zum Auftreten eines Harnack, Bousset, Wernle und ihrer Gesinnungsgenossen, sich über sich selbst im Irrtum befunden und sein wahres Wesen nicht erkannt habe. Denn dieses hat, wie die vorliegende Darstellung zeigt, von Anfang an den Gott Jesus oder vielmehr den Gottmenschen, den fleischgewordenen, mit den Menschen leidenden und für die Menschheit sich opfernden Gotterlöser in den Mittelpunkt seiner Anschauung gestellt, wohingegen die Behauptung der wahren Menschheit Jesu nur einen nachträgliche Anbequemung dieser Religion an die äußeren Verhältnisse darstellt, ihr nur hinterher von gegnerischer Seite abgerungen und nur deshalb von ihr so nachdrücklich vertreten worden ist, weil sie die unumgängliche Bedingung ihres geschichtlichen Bestandes und ihrer praktischen Erfolge gewesen ist. Nur der Gott, nicht der Mensch Jesus kann demnach auch als der „Begründer“ der christlichen Religion bezeichnet werden.

Es ist in der Tat der fundamentale Irrtum der liberalen Theologie, zu meinen, die Entwicklung der christlichen Kirche habe von einem historischen Individuum, dem Menschen Jesus, ihren Ausgang genommen. Die Stimmen mehren sich, wie gesagt, die einräumen, daß die unter Jesu Namen gehende urchristliche Bewegung eine bedeutungslose und vorübergehende Bewegung innerhalb des Judentums geblieben wäre ohne Paulus, der ihr erst durch seine Erlösungsmetaphysik eine religiöse Weltanschauung übermittelt und durch den Bruch mit dem jüdischen Gesetz die neue Religion begründet hat. Nicht

1 Vgl. Arnold Meyer: Was uns Jesus heute ist. Rel. Volksb. 1907 – eine besonders eindringliche Darlegung des liberal-protestantischen Standpunktes; ferner Weinel: Jesus im 19. Jahrhundert.

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lange, und man wird sich zu dem weiteren Zugeständnisse entschließen müssen, daß ein historischer Jesus, wie die Evangelien ihn schildern und wie er in den Köpfen der liberalen Theologen von heute lebt, überhaupt nicht existiert, also auch nicht einmal die gänzlich bedeutungslose kleine Messiasgemeinde zu Jerusalem begründet hat, sondern daß der Christusglaube ganz unabhängig von irgendwelchen uns bekannten historischen Persönlichkeiten entstanden ist, daß er in diesem Sinne allerdings ein Erzeugnis des religiösen „Massengeistes“ darstellt und von Paulus mit entsprechender Umdeutung und Weiterbildung nur in den Mittelpunkt der von ihm begründeten Gemeinschaften gestellt worden ist. Der „historische“ Jesus ist nicht früher, sondern später als Paulus und hat als solcher stets nur als Idee, als fromme Dichtung in den Köpfen der Gemeindemitglieder gelebt, und nicht das Neue Testament mit seinen vier Evangelien ist der Kirche gegenüber das Frühere, sondern die Kirche ist das Ursprüngliche, die Evangelien hingegen sind das Abgeleitete, stehen daher auch in allen ihren Teilen im Dienste der kirchlichen Propaganda und können in keinem Sinne auf historische Bedeutung Anspruch machen.

Überhaupt ist, wie Kalthoff mit Recht hervorhebt, mit der durchaus modernen Anschauung, daß die Religion ein ganz persönliches Leben und Empfinden sei, dem Verständnis des Christentum nichts abzugewinnen. „Die Religion ist dieses persönliche Leben erst in einem Zeitalter, das sich zu Persönlichkeiten differenziert hat; sie ist es nur insoweit, als solche Differenzierung sich bereits vollzogen. Von Hause aus erscheint die Religion als eine gesellschaftliche Lebenserscheinung, sie ist Stammesreligion, Volksreligion, Staatsreligion, und dieser gesellschaftliche Charakter geht naturgemäß auf die freien Genossenschaften über, welche sich innerhalb des Volks- und Staatsverbandes bilden. Deshalb ist das liberale Gerede von der Persönlichkeit als

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dem Träger alles religiösen Lebens im Hinblick auf den Ursprung des Christentums so sinnlos, so unhistorisch, weil dieses Christentum noch ganz und gar in der religiösen Genossenschaft, der Gemeinde wurzelt. Aus dieser genossenschaftlichen Religion hat sich die persönliche Religion erst in jahrhundertelanger Geschichte entwickeln können, sie hat sich gegen ihre wesentlich ältere Lebensform erst in gewaltigen Kämpfen durchsetzen können. Was der heutige Fromme Christentum nennt, eine Religion des Individuums, ein persönliches Heilsprinzip, das ist dem ganzen alten Christentum ein Ärgernis und eine Torheit gewesen, es war ihm die Sünde wider den Geist, die nicht vergeben werden sollte, denn der Heilige Geist war der Geist der kirchlichen Einheit, des religiösen Gemeindezusammenhangs, der absoluten Unterordnung der Herde unter den Hirten. Deshalb gab es auch im alten Christentum individuelle Religion schlechterdings nur durch Vermittelung der Genossenschaft, der Gemeinde, der Kirche. Eine Regung der individuellen Religion auf eigene Faust war Häresie, Trennung vom Leibe Christi.“1

Man kann der „katholischen“ Kirche, sowohl der römischen wie der griechischen, das Zugeständnis nicht versagen, daß sie auch in dieser Beziehung den Geist des ursprünglichen Christentums noch am getreuesten bewahrt hat. Sie allein ist auch heute noch, was das Christentum seinem Wesen nach einmal war: Gemeinschaftsreligion in dem angeführten Sinne. Sie beruft sich hierbei mit Recht für die Wahrheit ihrer religiösen Weltanschauung und die Berechtigung ihrer hierarchischen Ansprüche auf die „Tradition“, nur daß sie freilich selbst diese „Tradition“ im eigenen Interesse erst gemacht hat, sie also zwar einen „geschichtlichen“ Jesus lehrt, aber freilich nur einen traditionell geschichtlichen, womit über dessen wirkliche geschichtliche Existenz noch nicht das geringste ausgemacht ist. Der Protestantismus hingegen ist ganz unhistorisch, wenn er die Evangelien für das Ur-

1 Entstehung d. Chr. 98 f.

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sprüngliche, für die „geoffenbarte“ Unterlage des Glaubens an Christus ausgibt, als ob sie unabhängig von der Kirche entstanden wären und die wahren Anfänge des Christentums darstellten. Man kann konsequenterweise seinen religiösen Glauben nicht auf das Evangelium stützen und dabei außerhalb derjenigen Gemeinschaft stehen wollen, als deren Lebensausdruck die Schriften des Neuen Testaments allein zu gelten haben. Man kann nicht Christ im Sinne Jesu, d. h. der ursprünglichen Gemeinde, sein, ohne auf die eigene Persönlichkeit zu verzichten und sich als dienendes Glied dem „Leibe Christi“, d. h. der Kirche, einzugliedern. Der Geist des Gehorsams und der Demut, den Christus von seinen Anhängern fordert, ist eben gar kein anderer als der Geist der Unterordnung unter das System von Verhaltungsregeln der unter seinem Namen bestehenden Kultgemeinschaft. Christentum im ursprünglichen Sinne ist nur – „katholisches“ Christentum, und dieses ist der Glaube der Kirche an das Erlösungswerk des Gottmenschen Christus in seiner Kirche und durch den von seinem „Geist“ beseelten Gemeindeorganismus.

Aus rein religiösen Gründen könnte der mit Unrecht so genannte „Katholizismus“ die Fiktion eines historischen Jesus recht wohl entbehren und sich auf den Standpunkt des Paulus vor Entstehung der Evangelien zurückziehen, falls er nur mit seiner mythologischen Annahme des sich selbst für die Menschen opfernden Gottes ohne jene Fiktion heute noch Glauben fände. Als Kirche jedoch in ihrer gegenwärtigen Gestalt steht und fällt er mit dem Glauben an die Geschichtlichkeit des Gotterlösers, weil alle hierarchischen Ansprüche und Machtbefugnisse der Kirche sich darauf gründen, daß ein historischer Jesus ihr durch die Vermittlung der Apostel diese Machtbefugnisse übertragen habe. Der „Katholizismus“ stützt sich hierbei, wie gesagt, auf die „Tradition“. Aber er selbst hat diese Tradition ins Leben gerufen, genau wie die Priester zu Jerusalem die Tradition eines geschichtlichen Moses geschaffen haben, um ihre eigenen Machtansprüche auf ihn zurückzuführen. Es ist die „Ironie der Welt-

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geschichte“, daß eben jene Tradition die Kirche schon sehr bald in den Zustand versetzt hat, um des Widerspruches ihrer äußeren Machtstellung gegen den traditionellen Christus willen den Inhalt der Tradition vor der Menge zu verschleiern und den Laien die Lektüre der Evangelien zu verbieten. Noch widerspruchsvoller aber und verzweifelter als die Lage der „katholischen“ Kirche mit der Einsicht in die fiktive Beschaffenheit der Evangelien wird, gestaltet sich diejenige des Protestantismus. Denn dieser hat gar kein anderes Mittel zur Begründung seiner religiösen Metaphysik als die Geschichte; diese aber führt, unbefangen angesehen, gerade von den Wurzeln des Christentums weg, denen er zustrebt, statt zu ihnen hin.

Gilt dies schon von der protestantischen Orthodoxie, so gilt es erst recht von derjenigen Form des Protestantismus, die das Christentum, abgelöst von seiner metaphysischen Erlösungslehre, meint, aufrecht erhalten zu können, weil diese „nicht mehr zeitgemäß“ sei, d. h. vom liberalen Protestantismus. Der liberale Protestantismus ist und will nichts anderes sein als ein bloßer Glaube an die historische Persönlichkeit eines Menschen, der vor neunzehnhundert Jahren in Palästina geboren, durch sein vorbildliches Leben Begründer einer neuen Sekte geworden und im Konflikt mit den herrschenden Gewalten zu Jerusalem gekreuzigt und gestorben sein soll, um alsdann im Bewußtsein seiner überspannten Anhänger zu einem Gott emporphantasiert zu werden; ein Glaube an den „liebenden Vatergott“, weil Jesus an ihn geglaubt haben, an eine persönliche Unsterblichkeit des Menschen, weil diese die Voraussetzung von Jesu Auftreten und Lehre gewesen sein soll, an die „unübertreffliche“ Güte moralischer Verhaltungsmaßregeln, weil diese in einem Buche stehen, das unter dem unmittelbaren Einfluß der „einzigartigen“ Persönlichkeit des Propheten von Nazareth zustandegekommen sein soll. Er stützt die Sittlichkeit dadurch, daß Jesus ein so guter Mensch gewesen und es deshalb Pflicht eines jeden Menschen sei, den Aufforderungen Jesu nachzukommen. Den Glauben an Jesus aber gründet er einzig und allein auf die geschichtliche Be-

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deutung der Evangelien, obwohl er sich bei genauerer Überlegung nicht verhehlen kann, daß die Annahme ihrer Geschichtlichkeit auf äußerst schwachen Füßen ruht und wir im Grunde nichts von jenem Jesus wissen, nicht einmal, daß er überhaupt gelebt hat, und in jedem Falle nichts, was für uns von maßgebender religiöser Bedeutung sein könnte, und was wir nicht ebenso gut und besser aus anderen, weniger zweifelhaften Quellen schöpfen könnten. Er ist nicht, wie der Katholizismus, bloß als Kirche, sondern seinem Wesen nach, als Religion, mit der Leugnung der historischen Persönlichkeit Jesu ins Herz getroffen und besteht seinem wirklich religiösen Kerne nach nur aus ein paar schönklingenden Redensarten, einigen verwehten Anklängen an eine Metaphysik, die einmal lebendig war, jetzt aber zum bloßen Dekorationsstück für anspruchslose Gemüter herabgesunken ist, und hinterläßt nach Ausschaltung seiner vermeintlichen Geschichtlichkeit nur einen trüben schwelenden Qualm von „heimatlos gewordenen Gefühlen“, die zu jeder Art von religiösem Glauben passen. Der liberale Protestantismus gibt sich selbst für das spezifisch „moderne“ Christentum aus. Er legt gegenüber dem metaphysikscheuen Geiste unserer Zeit Gewicht darauf, keine Metaphysik zu haben, verwirft, womöglich mit Berufung auf Kant, da dies „modern“ ist, alle religiöse Spekulation als „Mythus“, ohne zu bemerken, daß er selbst mit seinem „historischen“ Jesus am tiefsten in der Mythologie darinsteckt, und glaubt, mit seiner ausschließlichen Verehrung des Menschen Jesus das Christentum auf die „Höhe der gegenwärtigen Kultur“ gebracht zu haben. Indessen sagt Steudel mit Recht: „Von der ganzen apologetischen Kunst, mit der die moderne Jesustheologie das Christentum für unsere Zeit zu retten übernimmt, ist zu urteilen, daß es überhaupt keine geschichtliche Religion gibt, die sich, unter Anwendung derselben Methode, nicht ebensogut in Einklang mit dem modernen Bewußtsein bringen ließe, wie die des Neuen Testaments.“1 Den völligen Zusammenbruch einer solchen „Religion“ zu bedau-

1 a. a. O. 39.

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ern, haben wir keinerlei Veranlassung. Diese Form des Christentums ist schon durch Hartmann in ihrer ganzen religiösen Wertlosigkeit gekennzeichnet worden,1 und es ist nur ein Beweis für die bezaubernde Macht der Phrase, die traurige Zerfahrenheit unserer gesamten religiösen Zustände und die Gedankenlosigkeit der großen Menge in religiösen Dingen, daß sie noch immer „lebt“, ja, unter der Führung der sog. kritischen Theologie sich für das echte, erst jetzt erkannte Christentum ausgeben darf und hiermit Anklang findet. Dieses unsystematische Aggregat von willkürlich aus der gesamten Welt- und Lebensanschauung der Evangelien herausgegriffenen Gedanken, die noch dazu erst phraseologisch aufgebauscht und künstlich zurechtgestutzt werden müssen, um sie den Heutigen genießbar zu machen, diese unspekulative Erlösungslehre, die im Grunde an sich selbst nicht glaubt, dieser sentimentale, ästhetisch angehauchte Jesuskultus eines Harnack, Bousset usw., über den W. v. Schnehen so schonungslos den Stab gebrochen hat,2 dieses ganze sog. Christentum schöngeistiger Pastoren und erlösungsunbedürftiger Laien würde schon längst an seiner Gedankenarmut, Süßlichkeit und Fadenscheinigkeit zugrunde gegangen sein, wenn man nur das Christentum nicht um jeden Preis, und wäre es auch denjenigen der völligen Entleerung an geistigem Gehalt, meinte aufrecht erhalten zu müssen. Daß der „historische“ Jesus überhaupt gar kein religiöses, sondern nur noch ein historisches Interesse hat, daß er als solcher höchstens die Geschichtsforscher und die Philologen angeht, diese Erkenntnis fängt zwar gegenwärtig an, sich in immer weiteren Kreisen Bahn zu brechen.3 Wenn man nur einen Ausweg aus den Schwierigkeiten wüßte! Wenn man sich nur nicht scheuen müßte, offen Farbe zu bekennen, weil man damit möglicherweise im Verfolge seiner Gedanken aus der bestehenden Religion über-

1 Vgl. E. v. Hartmann: Die Selbstzersetzung des Christentums und die Religion der Zukunft, 2. Aufl. 1874, insb. Kap. 6 u. 7. 2 Vgl. W. v. Schnehen: Der moderne Jesuskultus, 2. Aufl. 1906; ferner: Naumann vor dem Bankerott des Christentums, 1907. 3 Vgl. mein Werk: Die Religion als Selbst-Bewußtsein Gottes, 1906, 199 ff.

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haupt hinausgedrängt werden könnte, wie dies das Beispiel Kalthoffs gezeigt hat! Wenn man nur nicht einen so furchtbaren Respekt vor der Vergangenheit und ein so zartes „historisches Gewissen“ und eine so ungeheure Achtung vor den „geschichtlichen Grundlagen“ des gegenwärtigen religiösen Daseins hätte! Aber die Berufung auf die Geschichte und die sog. „historische Kontinuität der religiösen Entwicklung“ ist ja offensichtlich nur eine Verlegenheitsausflucht und ein anderer Ausdruck dafür, daß man einfach nicht gewillt ist, die Konsequenzen seiner Voraussetzungen zu ziehen. Als ob von „geschichtlichen Grundlagen“ noch die Rede sein könnte, wo überhaupt keine Geschichte, sondern bloßer Mythus vorliegt! Als ob die „Bewahrung der historischen Kontinuität“ darin bestehen könnte, mythische Fiktionen, weil sie bisher für historische Wahrheit gegolten haben, auch dann noch als Geschichte festzuhalten, wenn man ihren rein fiktiven und unwirklichen Charakter durchschaut hat! Als ob die Schwierigkeit der Erlösung der gegenwärtigen Kulturmenschheit von dem ganzen Wust von Aberglauben, gesellschaftlicher Verlogenheit, Feigheit und intellektueller Knechtschaft, der sich heute an den Namen des Christentums knüpft, auf rein geistigem Gebiete und nicht vielmehr in der Sphäre des Gefühls, in einer schlaffen Pietät, in dem Schwergewicht uralter Tradition, vor allem aber den fast unübersehbaren ökonomischen, sozialen und praktischen Beziehungen begründet läge, die unsere kirchliche Gegenwart mit der Vergangenheit verknüpfen! So fährt man denn einstweilen fort, bei seinem Glauben an die Zukunft des Christentums nicht sowohl auf die überzeugende innere Wahrheit seiner Gedankenwelt, als vielmehr auf den angeborenen religiösen Sinn der Gemeindemitglieder zu bauen, auf die kirchliche Erziehung in Schule und Haus und den hiermit überkommenen Schatz von metaphysischen und ethischen Ideen, auf den Schutz des Staates und – das Trägheitsgesetz im geistigen Leben der großen Masse. Im übrigen bedient man sich in der Kanzelsprache, in „Gemeindeblättern“ und im öffentlichen Leben einer Ausdrucksweise, die von derjenigen der Orthodoxie nicht

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wesentlich verschieden, aber so eingerichtet ist, daß jeder sich bei ihr denken kann, was ihm gut dünkt, und nennt dies im strahlenden Bewußtsein, auf diese Weise das steuerlose Schiff des Protestantismus noch eine Weile über Wasser halten zu können und den Glauben mit dem modernen Kulturbewußtsein „versöhnt“ zu haben, – die „Weiterentwicklung des Christentums!“

Und so wären denn neunzehnhundert Jahre religiöser Entwicklung vollkommen in die Irre gegangen ? So bliebe uns nichts anderes übrig als der gänzliche Bruch mit der christlichen Erlösungslehre? Aber diese Erlösungslehre – das war das Resultat unserer vorangegangenen Darlegung – ist ja als solche unabhängig von der Annahme eines historischen Jesus. Ihr Schwerpunkt liegt in dem Gedanken des,, fleischgewordenen“ Gottes, der in der Welt leidet, aber schließlich über dies Leiden Herr wird, und durch die Vereinigung mit welchem auch die Menschen die „Welt überwinden“ und ein neues Leben auf erhöhter Daseinsstufe gewinnen. Daß die Gestalt dieses göttlichen Welterlösers im Bewußtsein der christlichen Gemeinde mit derjenigen eines Menschen Jesus zusammengeflossen und die Erlösungstat infolge hiervon zeitlich fixiert und auf eine bestimmte Örtlichkeit beschränkt ist, das ist nur die Folge der zufälligen Verhältnisse, unter denen die neue Religion hervorgetreten ist. Es kann daher auch an und für sich nur eine vorübergehende praktische, aber keine eigentliche religiöse Bedeutung für sich in Anspruch nehmen, während es auf der andern Seite dem Christentume zum Verhängnis geworden ist und gerade diese seine Vergeschichtlichung des Erlösungsprinzips es uns unmöglich macht, uns noch zu dieser Religion zu bekennen. Aber dann kann die Wahrung der historischen Kontinuität oder die „Weiterentwicklung“ des Christentums im eigentlichen Sinne doch wohl nicht darin bestehen, diese zufällige historische Seite an der christlichen Erlösungslehre aus dem Zusammenhange der gesamten christlichen Weltanschauung herauszulösen und für sich hinzustellen, sondern nur darin, auf den wesentlichen Grundgedanken der christlichen Religion zurückzugehen

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und seine metaphysische Erlösungslehre in einer dem heutigen Bewußtsein entsprechenden Weise näher durchzubilden.

Aus der Vorstellung eines persönlichen Gotterlösers entsprang die Möglichkeit, einen Menschen an Gottes Statt zu opfern und den göttlichen Idealmenschen, d. h. die Idee des Menschen, in einem wirklichen Menschen anzuschauen. Aus den Machtfragen der werdenden Kirche, dem Gegensatze gegen die gnostische Phantastik, ihre intellektualistische Verflüchtigung des religiös-sittlichen Kerns der paulinischen Erlösungslehre und dem Wunsche, den historischen Zusammenhang mit dem Judentume aus opportunistischen Gründen nicht aufzugeben, ergab sich die Notwendigkeit, das gottmenschliche Sühnopfer in das Opfer einer geschichtlichen, aus dem Judentume hervorgegangenen Persönlichkeit umzudeuten. Alle diese verschiedenen Gründe, die zur Entstehung des Glaubens an einen „historischen“ Jesus geführt haben, fallen für uns hinweg, zumal nachdem sich herausgestellt hat, daß die Persönlichkeit des Erlösungsprinzips, diese Grundvoraussetzung der evangelischen „Geschichte“, an allen Widersprüchen und Unzulänglichkeiten jener Religion letzten Endes schuld ist. Die christliche Erlösungslehre auf ihren wahren Kern zurückführen, kann somit gar nichts anderes heißen, als die Idee der Gottmenschheit, wie sie jener Lehre zugrunde liegt, durch Abstreifung der mythischen Persönlichkeit des Logos in den Mittelpunkt der religiösen Weltanschauung stellen.

Gott muß Mensch werden, damit der Mensch „Gott werden“, d. h. von den Schranken der Endlichkeit erlöst werden kann. Die in der Welt verwirklichte Idee der Menschheit muß selbst eine göttliche Idee, eine Idee der Gottheit und also Gott die gemeinschaftliche Wurzel und das Wesen aller einzelnen Menschen und Dinge sein: nur dann vermag der Mensch sein Wesen in Gott und durch dies Bewußtsein seiner überweltlichen göttlichen Wesenheit die Freiheit von der Welt zu erlangen. Das Bewußtsein des Menschen von seinem Selbst, von seinem wahren Wesen muß selbst ein göttliches Bewußt-

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sein, der Mensch, und zwar jeder Mensch, eine bloße endliche Erscheinung, eine individuelle Einschränkung, eine Vermenschlichung Gottes und sonach wenigstens der Möglichkeit nach ein Gottmensch sein, um durch sittliche Arbeit an sich selbst, als wirklicher Gottmensch „wiedergeboren“ und dadurch mit Gott wahrhaft eins zu werden: in diesem Gedanken heben sich alle Widersprüche der christlichen Dogmatik auf und bleibt der Kern seiner Erlösungslehre gewahrt, ohne durch die Hereinziehung mythischer Phantastik oder historischer Zufälligkeiten seines wahren Sinnes entkleidet zu werden, wie dies im Christentum der Fall ist. Will man im Anschluß an die bisherige Bezeichnungsweise auch so noch fortfahren, die göttliche Wesenheit des Menschen, die immanente Gottheit „Christus“ zu nennen, so kann aller Fortschritt der Religion nur in der Pflege und Herausarbeitung dieses „inneren Christus“, d. h. der den Menschen innewohnenden geistig-sittlichen Tendenzen in der Rückbeziehung auf ihren absoluten göttlichen Grund, bestehen, nicht aber in der historischen Veräußerlichung dieses inneren menschlichen Wesenskernes. Alle Wirklichkeit des Gottmenschen beruht sonach in der Wirksamkeit des „Christus“ im Menschen, in der Betätigung seines „wahren Selbst“, des geistigen Wesens seiner Persönlichkeit, in der Selbsterziehung zur Persönlichkeit auf Grund der göttlichen Wesenheit des Menschen, nicht aber in dem magischen Hineinwirken einer ihm fremden göttlichen Persönlichkeit in ihn, die doch nichts anderes ist, als das religiöse Ideal des Menschen, welches dieser auf eine geschichtliche Gestalt hinausprojiziert hat, um sich dadurch der „Wirklichkeit“ dieses Ideales zu versichern. Es ist nicht wahr, daß es dem religiösen Bewußtsein „wesentlich“ ist, sein ideal in vermenschlichter Gestalt aus sich hinauszuschauen, und daß darum der historische Jesus für das religiöse Leben unentbehrlich ist. Wäre es wahr, so wäre die Religion grundsätzlich außerstande, sich über die mythische Sphäre der Äußerlichkeit und sinnlichen Anschaulichkeit ihrer Götter zu erheben, wovon sie ausgeht, und die zu überwinden und immer mehr in die eigene Innerlichkeit hereinzuarbeiten,

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gerade das Wesen der religiösen Entwicklung ausmacht, so würde die Religion immer nur eine niedrige Provinz im menschlichen Geistesleben einnehmen und wäre sie in demselben Augenblicke überwunden, wo das Fiktive jener Projektion und Verselbständigung des eigensten wahren Selbst durchschaut wäre. Nur dem Christentum ist es wesentlich, den Gott im Menschen in einen Gott außerhalb des Menschen, in die „einzigartige“ Persönlichkeit eines historischen Gottmenschen umzudeuten, und zwar weil es noch mit einem Fuße im religiösen Naturalismus und der Mythologie darin-steckt und die geschichtlichen Umstände es seinerzeit dazu veranlaßt haben, jene Umdeutung und Verfälschung des Begriffes der Gottmenschheit vorzunehmen.

Das Leben der Welt als Gottes Leben; die kampferfüllte und leidvolle Entwicklung der Menschheit als göttliche Kampfes- und Passionsgeschichte; der Weltprozeß als der Prozeß eines Gottes, der in jedem einzelnen Geschöpfe ringt, leidet, siegt und stirbt, um im religiösen Bewußtsein des Menschen die Schranken der Endlichkeit zu überwinden und seinen dereinstigen Triumph über das gesamte Weltleid vorwegzunehmen: das ist die Wahrheit der christlichen Erlösungslehre. In diesem Sinne den Grundgedanken erneuern, aus dem das Christentum hervorgegangen, und der unabhängig ist von aller geschichtlichen Beziehung, das heißt wirklich auf den „Ausgangspunkt“ dieser Religion zurückgehen. Der Protestantismus hingegen, der die Religion des Paulus verwirft und die Evangelien zur Grundlage seines Glaubens erhebt, geht damit nicht hinter die Entwicklung des Christentums zur Kirche, auf den Ursprung des Christentums zurück, sondern bleibt innerhalb dieser Entwicklung stehen und täuscht sich selbst, wenn er meint, vom Standpunkte des Evangeliums aus die Kirche überwinden zu können.1

1 Vgl. mein Werk: Die Religion als Selbst-Bewußtsein Gottes, in welchem der Versuch gemacht ist, die gesamte religiöse Weltanschauung in dem angeführten Sinne durchzubilden.

 

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Bei einer solchen Umdeutung und Weiterbildung des christlichen Erlösungsgedankens wird die „historische Kontinuität“ ebenso entschieden gewahrt, wie bei der einseitigen Vergeschichtlichung jenes Gedankens von Seiten des liberalen Protestantismus. Was ihr entgegensteht, das ist einerseits der ganz unhistorische Glaube an einen historischen Jesus und andererseits das Vorurteil gegen den „immanenten Gott“, d. h. gegen den Pantheismus. Allein dieses Vorurteil gründet sich ja selbst nur auf jene Fiktion eines historischen „Mittlers“ und die darin enthaltene Voraussetzung einer dualistischen Getrenntheit der Welt und Gottes. Wenn die Vertreter des monistischen Gedankens, die vor kurzem sich zu organisieren angefangen haben, sich über die Bedeutung jenes Gedankens erst einmal klarer geworden sein werden, als sie es gegenwärtig meist noch sind, wenn sie dahin gelangt sein werden, einzusehen, daß die wahre Einheitslehre nur Alleinheitslehre, ein idealistischer Monismus im Gegensatze zu dem heute noch überwiegenden naturalistischen Monismus im Sinne eines Haeckel sein kann, ein Monismus, der die Existenz eines Gottes nicht aus-, sondern einschließt, wenn damit ihre gegenwärtige unfruchtbare Verneinung aller Religion sich zu einer positiven, auch religiös vollgültigen Weltanschauung vertieft haben wird, dann, aber auch erst dann werden sie der Kirche wirklich Abbruch tun und wird die heute noch in ihren Kinderschuhen steckende monistische Bewegung zu einer inneren Gesundung und Erneuerung unseres gesamten geistigen Lebens führen können. Es gehört wahrlich viel Kurzsichtigkeit von seiten der Vertreter eines rein geschichtlichen Christentums dazu, um zu wähnen, der geistentleerte, dürftige Glaube an den persönlichen oder, wie man sich heute lieber vorsichtiger ausdrückt, den „lebendigen“ Gott, an Freiheit und Unsterblichkeit, gestützt auf die Autorität der „einzigartigen“ Persönlichkeit eines vor zweitausend Jahren gestorbenen Menschen Jesus, werde imstande sein, das religiöse Bedürfnis auf die Dauer zu befriedigen, auch dann noch, wenn der heute noch überall mit hineinspielende Gedanke an die einstige Erlösungsmetaphy-

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sik und die hierauf sich gründende fromme Stimmung erst einmal gänzlich ausgeschaltet sein werden. Je früher die Christen durch Verzicht auf ihren Aberglauben an einen historischen Jesus und die Monisten durch die Preisgabe ihres ebenso verhängnisvollen Aberglaubens an die alleinige Realität des Stoffes und die alleinseligmachende Wahrheit des naturwissenschaftlichen Mechanismus zu einer gegenseitigen Versöhnung reif sein werden, desto besser wird es für beide sein, desto eher ist zu hoffen, daß die drohende völlige Versandung des religiösen Bewußtseins noch rechtzeitig abgewendet werden und damit die europäische Kulturmenschheit vor dem Verluste ihres geistigen Schwergewichtes bewahrt bleiben wird, dem sie heute von allen Seiten scheinbar unaufhaltsam zusteuert. Es gibt gegenwärtig gar keine andere Möglichkeit, als entweder ruhig zuzusehen, wie die täglich immer mächtiger anschwellende naturalistische Flutwelle auch die letzten Reste einer religiösen Denkweise hinwegschwemmt, oder aber das verglimmende Feuer der Religion auf den Boden des Pantheismus, in eine von aller kirchlichen Bevormundung unabhängige Religion hinüberzuretten. Die Zeit des dualistischen Theismus ist abgelaufen. In dem Streben nach Monismus begegnen sich gegenwärtig alle fortgeschrittenen Geister auf den verschiedensten Gebieten. Dies Streben ist so tief begründet und so wohlberechtigt, daß die Kirche zu allerletzt imstande sein wird, es auf die Dauer zu unterdrücken.1 Das Haupthindernis einer monistischen Religion und Weltanschauung aber ist der mit keiner Vernunft und Geschichte vereinbare Glaube an die geschichtliche Wirklichkeit einer „einzigartigen“, vorbildlichen und unübertrefflichen Erlöserpersönlichkeit.

1 Vgl.: Der Monismus, dargestellt in Beiträgen seiner Vertreter. 2BdeT 1908.