Bolland als Radikalkritiker

Hermann Detering – Berlin 2004

English summary

GERARDUS JOHANNES PETRUS JOSEPHUS BOLLAND [1] [1] wurde am 9. Juni 1854 in Groningen geboren. 1896 wurde der philosophische Autodidakt an die Universität Leiden berufen, wo er am 19. Sept. seine Amtszeit mit einer Antrittsvorlesung über Veränderung und Zeit eröffnete.BOLLANDs philosophisches Denken bewegte sich zunächst in den Bahnen EDUARD VON HARTMANNs, dem er bei einem Besuch in Berlin-Lichterfelde begegnete. Allerdings hatte er sich schon mit dem Antritt seiner Professur im Jahre 1896 vom Hartmannianismus gelöst und beschäftigte sich seit 1897 intensiv mit dem Werk HEGELs. BOLLANDs Arbeiten über HEGEL, in erster Linie Kommentarwerke, trugen ihm im In- und Ausland den Ruf eines bedeutenden Hegelforschers und Neuhegelianers ein. Sein philosophisches Hauptwerk ist das etwa 1400 Seiten zählende, vom HEGELschen Geist inspirierte Werk Zuivere Rede ( = reine Vernunft), eine enzyklopädische Darstellung der verschiedenen Wissenschaftskategorien.

BOLLAND hatte erst relativ spät damit begonnen, sich intensiv mit der Geschichte der Entstehung des Christentums zu beschäftigen; erst von 1891 an bis zu seinem Tode 1922 läßt sich ein unvermindertes Interesse für alles, was mit den Ursprüngen des Christentums zusammenhängt, konstatieren, wobei dieses von Anfang an – anders als z.B. bei VAN MANEN – sehr stark von philosophischen Fragestellungen bestimmt wurde.

Für BOLLAND existierte bereits zu Beginn unserer Zeitrechnung eine Art Christentum ohne (historischen) Christus, und zwar unter den hellenistisch gebildeten gnostisierenden Diasporajuden Alexandriens. Diese bildeten möglicherweise nach dem Vorbild der dortigen hermetischen Poimandresgemeinden theosophische Zirkel und waren im Besitz des ursprünglichen Evangeliums, des sog. Ägypterevangeliums, das auch bei den Naassenern und Ophiten noch in Gebrauch gewesen sein soll. Dieses Evangelium, das nach BOLLANDs Meinung zwischen 70 und 100 entstanden ist und später mit Ausnahme einiger weniger Fragmente verlorenging, war in erster Linie für die breitere Masse bestimmt. Sie sollte durch verhüllte Bildersprache über die ewigen Wahrheiten, die nur von Eingeweihten erkannt wurden, belehrt werden. Das Evangelium enthielt in erster Linie die Schilderung eines allegorischen Chrèstos und dessen Erlösungstat, die aber nicht mehr nationalistisch, sondern als Heilsmysterium gedacht wurde. Vor der Zerstörung des Tempels soll der Sohn des höchsten Gottes als Mensch auf der Erde erschienen sein, um vor dem Zerbrechen des Alten Bundes durch sein Opfer einen Neuen Bund mit dem wahren Israel des Geistes zu stiften. Sein Leiden, Sterben und Wiederauferstehen verbürgten das Seelenheil der  Gläubigen. In dem Evangelium könnte man nach BOLLAND auch die Erklärung theosophischer,  kosmopolitische Juden für die Zerstörung des Jerusalemer Tempels sehen: „Nach dem steinernen Tempel muß der Tempel des Geistes kommen“.

Während Jesus bzw. der Chrèstos vor dem Jahre 70 nach BOLLAND als reine Mysteriengottheit verehrt wurde, habe er danach erstmals historische Züge bekommen. Die Namen Jesus und Chrèstos zeigen nach BOLLAND deutlich, daß es sich dabei um Verkörperungen von Ideen handelt: Ideen, die z.T. schon bei Philo zu finden sind: Jesus = Josua, der Nachfolger des Mose. Der Name bringt das Bewußtsein der gnostisierenden Juden zum Ausdruck, im Besitze größerer göttlicher Weisheit als das übrige Israel zu sein: „Mose hatte das Gottesvolk noch nicht dahin bringen können, wo es eigentlich hinkommen mußte; dafür erwies sich erst Josua als der rechte Führer“. Eine allegorische Auslegung des AT konnte daraus leicht einen Hinweis auf den wahren Josua = Jesus entnehmen, zumal  dieser zugleich Erlösung bedeutete (Mt 1,21), und Erlösung das war, was er brachte.

Als wahrer Josua sei Jesus zugleich der Chrèstos. Auch dieser Begriff, der nach Meinung BOLLANDs in Gebrauch war, bevor daraus der Christus wurde, soll den Gegensatz zum mosaischen Judentum sowie dessen Überwindung anzeigen. Im weltbürgerlichen Milieu Alexandriens glaubte man, daß nicht der Gerechte, sondern Gute (chrèstos) das wahre Gotteskind sei. Die damit verknüpfte Idee des leidenden Gerechten hat nach BOLLAND schon bei Plato ein Vorbild.

Als Chrèstos ist Jesus zugleich die Verwirklichung der Mittlerschaft zwischen Menschheit und göttlicher Vollkommenheit, wovon der mosaische Christus bzw. der hohepriesterliche Gesalbte nur einen Typos darstellt. Der Chrèstos ist Symbol für die Einheit von göttlicher und menschlicher Natur und personifiziert die platonische Idee der Ideen; darum heißt er auch (z.B. bei dem alexandrinischen Philosophen Philo) Erstgeborener des Vaters, Logos, Bild Gottes, der älteste von Gottes Engeln.

Der letzte Schritt auf dem Wege von der Allegorisierung zur Historisierung der Idee des Gott-Menschen Jesus, in der sich nach BOLLAND neben dem platonischen das stoisch-kynische Ideal der Philanthropie widerspiegelt, wurde nach dem endgültigen Bruch mit dem nationalen Judentum seit der Zeit von Bar-Kochba (135) und vermutlich als Reaktion auf die marcionitische Verwerfung des Schöpfergottes in Rom vollzogen. Es ist die entscheidende Tat des Katholizismus. Ursprünglich sei der Gott-Mensch rein doketisch gedacht gewesen. Wenn die Gnostiker vom Sohn sprachen, so dachten sie sich seine Erscheinung als ein „Phantasma“. Außerdem soll das Evangelium auch asketischen Charakter besessen haben. Der Katholizismus, bei dem es sich um eine Reaktion auf die Gnosis handelte, habe dann den Vater Jesu Christi mit dem jüdischen Schöpfergott identifiziert, so daß die doketischen und asketischen Stellen des ursprünglichen Evangeliums umgeformt werden mußten. Dabei waren nach BOLLAND auch praktische Gründe im Spiel: Man wollte sich breiteren Kreisen öffnen und konnte dabei kaum hoffen, mit einer streng asketischen Lehre die Welt zu überwinden. Auch die Identifizierung von Chrèstos und Christus geschah nach BOLLAND erst in Rom und war ebenfalls von der Tendenz bestimmt , die ursprünglich gnostische Lehre mit der jüdischen, alttestamentlichen Überlieferung zu versöhnen. So entstand schließlich der Schein, daß die christliche Lehre auf palästinensischem Boden entstanden sei, aber tatsächlich hat sie ihren Ursprung in der Mysterienwelt Alexandriens.

Von den Evangelien hielt BOLLAND das Matthäusevangelium für das älteste kanonische Evangelium, dann folgen Lukas und Markus. Bei den Paulusbriefen handelt es sich nach ihm um theosophische Abhandlungen aus der Zeit zwischen 110-150. Für BOLLAND, der keine literarkritische Arbeit an den Briefen vornimmt und die Unechtheit der Briefe seinen Theorien über den Ursprung des Christentums auch nicht als „bewiesene Tatsache“ voranstellt, sind sie Ausdruck einer gemäßigten Gnosis, die verglichen mit den übrigen gnostischen Schriften einen für Rom typischen stärker praktisch ausgerichteten Sinn offenbaren und die Interessen und Bedürfnisse der großen Menge stärker berücksichtigen.

Durch die Art und Weise, wie BOLLAND, „eine leidenschaftliche Natur“, „sich gleicherweise mit der ganzen Wucht seiner Persönlichkeit für seine Ideen“ einsetzte, „wenn er gegen die ‘Dummheit der Gelehrten’, gegen die Grundlagen der katholischen Kirche,“ der er zunächst angehörte, „gegen die humanistische Schlaffheit der Freimaurerei oder gegen die Demokratie ankämpfte“, fand er sehr viele Gegner – allerdings auch viele Verehrer und Anhänger. Auch VAN DEN BERGH VAN EYSINGA, ein Schüler BOLLANDs, räumt ein, „daß BOLLAND wegen seiner persönlichen Eigenart nicht eben eine beliebte Erscheinung in Holland ist, so daß er auch in dieser Hinsicht an den verhaßten philosophischen Radikalen BRUNO BAUER erinnert“. Demgegenüber trat VAN DEN BERGH VAN EYSINGA selber, der sich als der „eerste leerling van BOLLAND“ bezeichnete und später den Vorsitz der BOLLAND-Stiftung übernahm, in zahlreichen Beiträgen und Aufsätzen immer wieder als ein eifriger Apologet seiner Person und seines Werkes auf. Angemerkt sei schließlich noch, daß der Renegat und Leugner der Historizität Jesu, BOLLAND, der von einem Kritiker einst als „denkmachine“ bezeichnet wurde, auch als Prediger in Erscheinung trat und für religiöse Eindrücke keineswegs unempfänglich gewesen zu sein scheint.

[1] [1]    Den nachfolgenden Angaben zur Person BOLLANDs liegt VAN DEN BERGH VAN EYSINGAs biographische Skizze Professor Bolland, S. 237f zugrunde. Biographische Angaben über BOLLAND vor allem in: VAN DEN BERGH VAN EYSINGA, Gerardus Johannes Petrus Josephus Bolland, in: Mannen en vrouwen van betekenis in onze dagen, 1908. Weitere Literatur über BOLLAND: über sein Verhältnis zur Religion informiert das von G.W. WOLTHUIS bearbeitete Buch Wijsbegeerte van den godsdienst. Eine Sammlung von Aufsätzen über BOLLAND enthält: Bolland, 1927, mit einer Einleitung von B. WIGERSMA. Darin: J.HESSING, Hegel-Bolland; C.SYPKENS KYLSTRA, De Logica van Hegel en Bolland; TEN BRUGGEN­CATE, Bollands Taal; E.J.VAN DER BRUGH, Bolland en de Godsdienst; J.C.VAN ZELM, Bolland als Docent; B.WIGERSMA, Bolland en de Universiteit; die Aufsatzsammlung wird mit einer vollständigen BOLLAND-Bibliographie abgeschlossen.