Das Alte Testament als christliche Schrift

G.A. van den Bergh van Eysinga

Übersetzt von Frans-Joris Fabri, 2006

Mit einiger Verwunderung muß ein wissenschaftlich denkender Mensch zur Kenntnis nehmen, dass die Bibel der Christen zu drei Viertel ihres Umfangs aus der Heiligen Schrift der Juden besteht. Soviel ich weiß, wurde dieser Tatsache bisher nur selten Aufmerksamkeit entgegengebracht, und falls doch, nur unzureichend. Auf den folgenden Seiten will ich versuchen, dieses auf dem ersten Blick so sonderbare Faktum zu erklären; m.E. hängt es mit dem Kampf der katholisch werdenden Kirche gegen die Gnosis zusammen.

Im heutigen Ritus der Bischofsweihe muss der zukünftige Bischof die Frage „Credis etiam Novi et Veteris testamenti, legis et prophetarum et apostolorum unum esse auctorem, Deum ac Dominum omnipotentem?“ zustimmend beantworten. Das Vatikanische Konzil verwies auf  das Tridentinum, das den Katalog der Heiligen Bücher festgelegt habe, „welche im Ganzen und in all ihren Teilen“ als „heilig und kanonisch“ akzeptiert werden müssen. Es wird dann aber noch hinzugefügt: „Und die Kirche anerkennt diese Bücher nicht deshalb als heilig und kanonisch, weil sie bloßes Menschenwerk nachträglich aufgrund eigener Vollmacht gutgeheißen hätte; auch nicht nur deshalb, weil sie irrtumsfreie Offenbarung enthalten; sondern aufgrund der Tatsache, dass sie unter Eingebung des Heiligen

1) Diesem Aufsatz liegt der Vortrag zugrunde, den ich am vergangenen 17. September beim Congrès de l’Histoire des Religions in Brüssel gehalten habe.

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Geistes geschrieben wurden, Gott zum Autor haben und als solche der Kirche gegeben worden sind“. Das ist also die römisch-katholische Lehre. Und Calvin schreibt: „der Heilige Geist ist der Autor der Heiligen Schriften; veränderlich und im Widerspruch zu sich selbst kann Er nicht sein“. Altes und Neues Testament sind somit sowohl nach römisch-katholischer wie auch nach alt-protestantischer Auffassung unzertrennlich miteinander verbunden. Protest dagegen ist nicht ausgeblieben. Das Thema erfreut sich zur Zeit vor allem bei unsern östlichen Nachbarn großer Aktualität, aber leider nicht im Sinne vorurteilsloser Wissenschaft. Schon vor dem Dritten Reich wollte Harnack, radikaler noch als der große Häretiker Marcion, das Alte Testament verabschieden, um sich desto fester an das Neue zu klammern, da ja die Kirche doch einen Kanon brauche 1). Und noch vor kurzem hat der zu früh verstorbene Windisch eine gewisse Freiheit dem Alten Testament gegenüber gefordert 2).

Dass Marcion Gott nicht als den Schöpfer der Welt, sondern nur als den Erlöser der Menschheit gesehen hat, darf als allgemein bekannt vorausgesetzt werden. Tertullian zufolge 3) wollten die Marcioniten  die Werke des Schöpfers vernichten; der höchste Gott konnte sich in Anbetracht ihrer pessimistischen Weltsicht unmöglich für eine so unvollkommene Schöpfung verantwortlich sein. Deshalb verwarfen sie das Alte Testament kompromisslos. Justin erzählt, diese Irrlehre der Marcioniten habe sich über die ganze Menschheit verbreitet und ihre Anhänger hätten trotz allem großen Wert darauf gelegt, „Christen“ genannt zu werden 4). Nun ging es anscheinend in der ursprünglichen Lehre des Marcion nicht um den Gegensatz von Gesetz und Evangelium, sondern um den von Natur und Gott. Der Demiurg, der das ewige Leben und den wahren Gott nicht kennt, hat dem Menschen das Naturgesetz auferlegt; er

1) Siehe diese Zeitschrift, 1921: 225. 
2
) a.a.O., 1935:378. 
3) Adv. Marc. I 13 und 17.  
4
) Apol. I 26, 5 v.; vgl. Tert., adv. Marc. V 19 und zum Folgenden: Kayser in Theol. Studien und Kritiken, 1929, S. 279 ff.

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straft und belohnt ihn gerecht. Der Mensch überwindet jedoch dieses Fesselung an die Natur, indem er sündigend mit der Natur bricht. Absichtlich muss er das Naturgesetz übertreten, um seinen Tyrannen, den Gott der Natur, zu beleidigen, ihn zum Bestrafen zu zwingen und ihn so endgültig von sich zu entfremden. Das Gesetz steht dem Glauben im Wege; deshalb müssen Natur und Gesetz der Verachtung preisgegeben werden. Marcion versucht, dieses Naturgesetz im Gesetz des Mose aufzuzeigen; der gnostische νόμος-Begriff ist νόμος τῆς κτίσες , kosmisches Gesetz, der χάρις 1) entgegengesetzt. Marcion zufolge gehören so, wie Christus, Gottesreich und Evangelium zusammengehören, auch Welt, Weltschöpfer, Gesetz und Gesetzgeber zusammen. Vor Christus war der wahre Gott absolut unbekannt; von Weissagungen über ihn konnte somit nicht die Rede sein. Der Gottessohn der Marcioniten  braucht keine Zeugen, denn die mächtigen Worte des Heilands und seine Wundertaten enthalten Überzeugungskraft in völlig ausreichendem Maße 2). In dieser Hinsicht war Marcion somit einer Meinung mit den jüdischen Erklärern des Alten Bundes. Die Weissagungen waren in David, Salomo, Hiskia u.a. in Erfüllung gegangen oder würden in der jüdischen Religionsgeschichte noch in Erfüllung gehen. Marcion verstand das Alte Testament buchstäblich, weshalb Origenes dessen Anhänger purae historiae deservientes nennen konnte 3).

Marcions Doktrin war  fast ganz frei vom mythologischen Beiwerk, das für die sonstige Gnosis bezeichnend ist, der reinste Ausdruck des neuen Weltgefühls“ 4), der revolutionäre Höhepunkt in der Entwicklung der Gnosis. Christus hat uns ihm zufolge erlöst von der Welt und ihrem Gott, um uns zu Kindern des neuen, fremden Gottes zu machen. Hier dürfen wir fragen, ob das nicht etwa die Auffassung des Christentums war und ob der Bruch der Christengemeinde zu Rom

1) Vgl. Hans Jonas, Gnosis und spätantiker Geist I, Göttingen, 1935, S. 208.  
2
) Origenes, Comm. in Joh., II 199.
3) Comm. in Matth., III 333.
4) Hans Jonas, a.a.O., S. 173.

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mit Marcion in Juli 144 nicht deshalb zustande kam, weil jene Gemeinde damals bei ihrer Abwehr einer weitaus wilderen Gnosis mehr denn je auf Tradition und Buchstaben-Autorität angewiesen war. Wenn das stimmt, wäre eine ältere Auffassung als heterodox gebrandmarkt worden, obwohl sie eigentlich eine alles andere als „wilde“ Gnosis war. Heterodoxie ist nicht  immer Modernismus oder Neuerungssucht; im Gegenteil, es handelt sich manchmal auch um das Festhalten an einem Standpunkt, der infolge veränderter Umstände von der Mehrheit verlassen und deshalb als veraltet betrachtet wird.

Nun war für Marcion Paulus der Apostel. Karl Barth hat einmal ganz richtig gesagt, der Paulinismus habe sich immer an der Grenze zur Häresie aufgehalten 1). Marcion besaß früher als die werdende Kirche ein Corpus Paulinum, das von der Kirche zwar übernommen wurde, was jedoch nicht ohne gründliche Überarbeitung geschehen konnte. In seinem Urchristentum hat Johannes Weiss bereits darauf hingewiesen, dass uns mit der Sammlung der Paulusbriefe keine Originale, sondern nur bearbeitete, redigierte Texte zur Verfügung stehen.

Marcion stand mit seiner Beurteilung des Alten Testamentes nicht allein; auch die Basilidianer hielten es für ein Produkt der Welterschaffer; insbesondere das Gesetz stammte ihrer Meinung nach von deren Anführer, der auch das Volk aus Ägypten geführt habe2). Valentinus, Herakleon und Markos teilten diese Überzeugung: Das unvollkommene Geseetz könne nicht von Gott, es müsse vom Demiurgen erlassen worden sein 3).

Trotz dieser Vorstellungen blieb das Alte Testament ein Buch von außerordentlicher Bedeutung. Nicht einmal die Griechen konnten etwas Gleichwertiges bieten. War es nicht der Überzeugung jener Zeit zufolge älter als deren älteste Philosophen? Zu den Heiden sagte Tertullian: „.. bei euch …. frühestens mit den Assyriern öffnet sich die Pforte der Weltgeschichte. Wir aber, die wir die heiligen Schriften fleißig lesen, besitzen Kenntnis der Weltgeschichte von Anbeginn der Welt

1) Römerbrief, 1924, S. XVI.
2) Irenäus I 24, 5   
3
) Cf. Epist. ad Floram.

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selber an“ l). Die Schöpfungserzählungen der griechischen Kosmogonien konnten mit der Erhabenheit der jüdischen nicht mithalten. Letztere waren überdies vollkommen klar und verständlich und machten deshalb den Eindruck, der Philosophie und dem Mythos gleichermaßen überlegen zu sein. Damals –wie in manchen Kreisen wohl auch heute noch – hielt man das Älteste für das Beste. In jener jüdischen Urgeschichte der Menschheit war der Vater des Kosmos ein geistiges Prinzip, ganz im Sinne der Forderungen der Philosophie. Die Gottesoffenbarung geschah nicht in einigen speziellen Orakeln, sondern wirkte durchgängig in der Geschichte. Die Vorstellung des göttlichen Gerichtes verschmolz dabei mit den Vorstellungen von Gott als Schöpfer und Gott als Führer der Geschichte. Nur auf diesem Fundament konnte eine zusammenhängende Weltgeschichte aufgebaut werden. In der Religion der Propheten wurzelt die Gemeinschaft mit Gott in der Geschichte 2). Mit Recht sagt deshalb Wernle: „Die Israeliten verstanden wie kein anderes Volk die Kunst, ihre Religion als Geschichte zu erleben und zu betrachten“  3).

So zeigte sich das alte Buch in seiner Vielseitigkeit und Ausführlichkeit als „ein literarischer Kosmos“, als „eine Parallelschöpfung der Welt“, wie Harnack 4) es formuliert hat. Durch die Übersetzung der Siebzig war es bereits hellenisierend überarbeitet und als Einheit gestaltet worden, von naiven Vorstellung gereinigt und mit der platonischen Unterscheidung von Stoff und Form bereichert. Jahwe wurde Kyrios; es ereignete sich die große Epiphanie des großen Gottes, ein Geschehen von welthistorischer Bedeutung 5), das die Bibel eines Volkes zur Bibel der Welt machte. Die Semitismen und die semitischen Eigennamen, die

1) Justin, Dial. 7; Tert., de pallio 2. 
2)  Tert., Apol. 4G. Symmachus, Relatio III 8 ed. Seeck weiß von einer longa aetas, die den Religionen Autorität verleiht.
3
)   Vgl. Johannes Hempel, Altes Testament und Geschichte. Studien des Apolog. Seminars, 27  Gütersloh 1930, S. 127.  
4)
   Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, Lpz. 1912, S. 205.  
5
)  Vgl. A. Deismann in Neue Jahrbücher für das klass. Altertum, 1903, I 172 ff.

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unübersetzt geblieben waren, zogen die Massen magisch an. Philo konnte zu Recht sagen: „Unser Gesetz hat alle Menschen unterworfen und mahnt sie an zur Tugend: Barbaren und Griechen, die Bewohner des Festlandes und die der Inseln, die Völker im Osten und die im Westen, von Europa und Asien, alle Völker der Erde“ 1). Und Josephus behauptet: „Sogar wenn wir Juden die Vorrechte all dieser Gesetze nicht würdigen würden, müsste schon allein die Menge ihrer Anhänger (unter den Heiden) uns mit Stolz darauf erfüllen“ 2).

Eine Predigt, die sich noch auf keine litera scripta berufen konnte, hatte keine Chance gegen den Absolutheitsanspruch des Alten Testamentes. Vielsagend sind die Worte des Theophilus (zur Zeit des Marcus Aurelius): „Die heidnischen Autoren schreiben eine große Menge Bücher …. und du meinst, unsere Schriften seien total neu und erst kürzlich erschienen. Deshalb werde ich dir aufzeigen, welch gewaltiges Alter unsere Schriften haben“. Theophilus stellt dann den klassischen Autoren das Alte Testament gegenüber, das die Geschichte der Schöpfung, die Gesetzgebung und Prophezeiungen enthält. In Bezug auf Gerechtigkeit sind die Propheten und die Evangelien einzigartig. In ihnen hat der gleiche Geist gesprochen (vgl. Hebr. 1:1), denn in beiden Testamenten kommt eine und dieselbe Offenbarung zu Wort 3).

So, wie die Neoplatoniker orphische Schriften zitierten, um ihrer Lehre ein antikes Kolorit zu verleihen, benutzten sie später auch den Christen gegenüber die orphische Dichtung. Die enthielt ja schließlich auch schon die christliche Wahrheit: die Lehren von einer wahren geistigen Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch, vom Dualismus von Geist und Leib, von einem Leben nach diesem Leben.  Orphische Quellen waren zwar manchmal recht roh, aber durch allegorische Erklärung konnten sie akzeptabel gemacht werden. In dieser Hinsicht hatten die Christen – übri-

1) Vita Mosis II 137 vv.  
2)  Contra Apionem II 39.
3) Theophilus ad Autol. III 1 en 12

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gens die Vorläufer der Neoplatoniker in der Verwendung dieser erfolgreichen Methode –  es wesentlich leichter gehabt. Zwar kam man auch beim Alten Testament nicht um allegorische Erklärungen herum, aber die Erzählungen über Schöpfung und Paradies hatten schon in sich einen erhabeneren Inhalt als die Theogonien und Sagen vom gewalttätigen Tod des Dionysos und von der Entstehung des Menschen aus der Asche der vom Blitz des Zeus vernichteten Titanen.

Die christliche Propaganda konnte sich von der Aneignung der jüdischen Heiligen Schrift nur einen großen Vorteil versprechen. Für diese galt nämlich, was Rufinus von den Werken Hesiods und Orpheus’ sagt, dass man darin jeweils zwei Teile unterscheiden kann, je nachdem, ob sie buchstäblich oder allegorisch zu interpretieren sind; die im Literalsinn zu verstehenden Teile ziehen mittelmäßige Geister an, die allegorisch erklärte wecken jedoch immer die Bewunderung und rhetorische Begabung der Philosophen und Gelehrten 1).

Vergeblich haben sich die Juden dagegen gewehrt, dass man ihnen ihre Heilige Schrift raubte, um sie mittels allegorischer Interpretation zur Verbreitung einer Irrlehre zu verwenden 2). So sah es Nietzsche, und er drückte sein Empfinden in scharfen Worten aus: „Es ist ein unerhörter welthistorischer Trick, ein unerhörtes philologisches Possenspiel, den Juden ihr Altes Testament unter dem Leibe weg zu ziehen“. Die Christen brachten es sogar fertig, aus den Bußpredigten der Profeten den Beweis zu holen, dass die Juden überhaupt keinen Bund mit Gott mehr hatten und somit jene Sammlung tiefsinniger und geheimnisvoller Orakel den Christen gehörte, welche die Lösung des Rätsels kennen gelernt hatten. Ihr Wert besteht ganz und gar darin, dass sie den Neuen Bund prophezeien. Mose hat über Jesus geschrieben und das Gesetz ist die Ankündigung Christi (Joh. 5 : 46; 1 : 46). Trotz ihrer Unvollkommenheit sind die Christen das Volk Gottes, welches im Gegensatz zum

1) Fragm. 133 bij O. Kern, Orphica. Vgl. W. K. C. GUTHRIE, Orpheus and Greek Religion, Lo. 1935, p. 18.  
2) Orig., c. C. I 50; II 28: „Da nun Celsus … vorhält: ‚Die Prophezeiungen, welche auf Christus bezogen werden, könnten ebensogut auch auf andere Dinge passen’“.

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verstockten, sich selbst verherrlichenden Israel von Gott in Gnade angenommen worden ist (1 Pe. 2:9); sie sind die Beschneidung, das Volk Israel dem Geiste nach, der Samen Abrahams, das heilige Volk der zwölf Stämme (vgl. Phil. 3:3; Gal.3 : 29 usw.).

Selbstverständlich wurde vom Alten Bund nur das übernommen, was christlich interpretiert werden konnte oder, wie Schrenck es orthodox protestantisch zum Ausdruck bringt: „Die Schrift hat Autorität nur insofern, wie sie von der in Erfüllung gegangenen Heilsgeschichte in Christo ausgehend interpretiert werden kann. Die Idee von der Autorität des Alten Testaments wird getragen von der Idee der Erfüllung und dadurch auch abgeändert“ 1). Einfacher gesagt: Wofür man aus dem Alten Testament keine Verwendung hatte, hatte ipso facto keine Autorität und wurde im Dunklen belassen. Wer die totale Gleichwertigkeit beider Testamente predigen möchte, würde damit auch aussagen, dass das Neue überflüssig war und hätte fortbleiben können. Die typologische Betrachtung hatte zur Folge, dass das Alte Testament, sub specie Christi gelesen, teilweise seine Autorität behielt und teilweise zum außer Kraft gesetzten Gotteswort wurde. Das rituelle Gesetz wurde als nicht mehr gültig betrachtet. Es war doch nur eine Zwischenstufe zwischen der Prophezeiung und deren Erfüllung und sollte vorbereiten und erziehen, die Sünde vorläufig in Schach halten, ein Ziel, das erst im Neuen Bund endgültig erreicht werden konnte 2).

In den katholisierenden Pastoralbriefen sagt man es ganz deutlich: Alle Schrift ist von Gott eingegeben und nützlich zur Lehre, zur Überführung, zur Zurechtweisung (der Häretiker), zur Unterweisung in der Gerechtigkeit, damit der Mensch Gottes richtig sei, für jedes gute Werk ausgerüstet. (2 Tim. 3 : 16). Dibelius kommentiert zu Recht: „befähigt zum Kampf gegen die Irrlehre“ 3). Wie hoch willkommen mussten somit die monotheistische Kosmologie und Naturbetrachtung des Alten Testamentes für die werdende Kirche sein bei ihrem Ringen mit den wilden Vorstellungen der Gnostiker. Tatian bezeugt, dass die jüdische Heilige

1) In G. Kittel, Theol. .Wörterbuch I 760. 
2
) Iren. IV 16, 3-5; derselbe, Epideixis, T.U, 31, 1, Lpz. 1007. 
3
) Lietzmanns Handbuch 132, 8. 75.

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Schrift ihn zum Christentum geführt hat, dass ihre Lehre: „ die Sklaverei in der Welt aufhebe, von vielen Herren und tausend Tyrannen uns befreie und uns nicht etwa das gebe, was wir nicht schon empfangen hätten, sondern nur zurückstelle, was wir zwar empfangen hatten, aber infolge des Irrtums nicht festzuhalten vermochten“. 1) Dieser Irrtum ist wohl die gleiche πλανή wie die von Justin erwähnte: „Geister und Dämonen der πλανή“ 2, anscheinend gnostische Lehren, gegen die das Alte Testament ein Gegengewicht bilden kann, umso mehr, da es die von Tatian am angegebenen Ort zitierte Vorteile besaß: Anspruchslosigkeit ihrer Verfasser, wohlverständliche Darstellung der Weltschöpfung, Voraussicht der Zukunft, Ungewöhnlichkeit der Vorschriften und Zurückführung aller Dinge auf einen Herrn. Die bösen Geister verführen die Menschen zu gnostischen Irrlehren und berauben sie von dem, was sie als Christen zwar besitzen, jedoch nicht festhalten können: die Befreiung von der Sklaverei unter den kosmischen Archonten und Tyrannen.

Der erste Clemensbrief zeigt, dass für die Kirche der Wert des Alte Testamentes hauptsächlich darauf beruhte, dass es mit seinem Schöpfer-Gott das Abgleiten in einen Vorstellungskreis verhinderte, demzufolge niedrigere Wesen, ja sogar der Teufel, die Welt erschaffen hätten. So blieb das Band zwischen Schöpfung und Erlösung erhalten und Erlösung konnte nicht als Erlösung von der Schöpfung verstanden werden 3).

Basilides hatte im Römerbrief (5 : 19 ff.) gelesen, die Schöpfung als Produkt des Demiurgen wolle die Gotteskinder als hinderliche Fremdkörper ausstoßen; die Kirche vertritt dagegen in unserm kanonischen Brief die Version, nach der die Schöpfung auf die Offenbarung der  Gotteskinder wartet und die eigene Heiligung

1) Orat. 29.  
2
) Dial. 7 : 3; cf. 1 Tim. 4:1.  
3
) Walter Bauer, Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum. Beiträge zur historischen Theologie 10. Tüb. 1934, S. 203, vgl. S. 107

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erhofft. Die Gnosis steht hier also für Weltflucht, die werdende Kirche für Weltheiligung1).

Nach Ansicht der Kirche waren das Kommen Jesu und sein Lebenslauf schon Tausende von Jahren zuvor geweissagt worden. Beim Autor der Praedicatio Petri, der genauso wie Tatian bekennt, dass er seinen christlichen Glauben dem Alten Testament verdankt, lesen wir: „Bücher …, verfaßt von den Propheten, die teils in Gleichnissen, teils in Rätseln, teils ganz deutlich und mit ausdrücklichen Worten den Christus Jesus nennen, und fanden sowohl sein Kommen als auch seinen Tod und seine Kreuzigung und alle die übrigen Peinigungen, die ihm die Juden antaten, und seine Auferweckung und seine Aufnahme in den Himmel vor dem Gericht über Jerusalem“ 2). So gesehen konnte die ganze Evangeliumsgeschichte aus dem Alten Testament abgelesen werden und man konnte der Meinung sein, dass die tiefste Bedeutung jenes Buches in der christlichen Kirche aktualisiert aufleuchte 3). Die bildlose, geistige Gottesverehrung, die Aufhebung des rituellen Gesetzes, die Taufe und das Abendmahl, das Priestertum und die Bischofswürde — alles das fand man im voraus abgebildet in jener alten Schriftensammlung.

Gegen die doketischen Neigungen der Gnosis betonte die werdende Kirche nachdrücklich den historischen Jesus, den auf der Erde wandelnden Herrn; dazugehörig auch Jerusalem als Prototyp der heiligen Stadt der Christen sowie die zwölf Apostel als Vertreter der zwölf Stämme 4). Diese Wertschätzung von Tradition ist typisch jüdisch. Das Alte Testament gab mehr Geschichte als systematische Theologie; sogar die Gesetzgebungstexte waren in eine historische Form eingegossen, obwohl sie als von Gott erlassen betrachtet wurden. Personen, Sachen, Handlungen, Ereignisse im Alten Testament waren Vorabbildungen von Christus und seinem Reich; symbolische Prophezeiungen in Form von Fakten, die einen klaren

1) Vgl. meinen Aufsatz Basileides und der Buddhismus in Aus Indiens Kultur, Festgabe für Richard von Garbe. Erlangen 1927, S. 74 ff.
2) Cl. Alex., Strom. VI , Kap. 15.128,1 
3
)   Vgl. Kittel, Theol. Wörterbuch I S. 775 ff.  
4
)   Julius Wagenmann, Die Stellung des Apostels Paulus. Giessen 1926, S. 218. K. L. Schmidt in Festgabe für Adolf Deissmann, Tüb. 1932, S. 208, 292, 303.

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Beweis lieferten für die alles umfassende Weisheit des himmlischen Erziehers 1). So konnte dieses Buch, wenn richtig interpretiert, die christliche Wahrheit beleuchten. Die Kirche, die kein System gnostischer Konstruktion wollte, machte diese jüdische Textsammlung zu ihrer herrschenden Mythologie und verhinderte dadurch, dass sie je gänzlich als mit der heidnischen Religion identisch angesehen werden konnte, welche speziell im kaiserlichen Rom versuchte, ebenfalls monotheistisch und sakramental zu sein. Denn auch mit Osiris, Attis und anderen göttlichen Wesen waren am Anfang Dinge geschehen, die einen entscheidenden Einfluss auf das Leben der Menschheit ausgeübt hatten; dann aber wurde die Kette der heiligen Geschichte abgebrochen. Demgegenüber spielte sich das heilige Drama des Christentums nicht am Anfang, sondern am Ende der Zeiten ab und zwar trotzdem in engem Bezug zum Anfang der Zeiten, denn im christlichen Drama waren Anfang und Ende verbunden durch die komplette religiöse Geschichte eines auserwählten Volkes. Dennoch hielt man dafür, dass diesem auserwählten Volk für sich genommen keine Bedeutung zukam, sondern nur als Vorabbildung der Christen, die erst Jahrhunderte später kommen würden 2). In Israels Geschichte sieht die Kirche nicht mehr die Geschichte eines Volkes, sondern die von Ideen 3). Ludwig Köhler formuliert das sehr richtig so: „Was im Alten Testament steht, verliert alles Eigengewicht und jeglichen Eigenwert“ 4).

Selbstverständlich mussten sich die Juden mit Händen und Füßen gegen diese christliche Art des Beweisens aus ihren Weissagungen wehren, da sie darin keine Übereinstimmung mit dem ursprünglichen Sinn erkennen konnten 5). Sie konnten unmöglich die kirchliche Auffassung akzeptieren, dass der Heilige Geist im Neuen Testament der unfehlbare Interpret seiner

1) So Dr. HUGO WEISS, Die messianischen Vorbilder im Alten Testament. Freib. im Br., 1905, S. 3. 
2
)   Vgl. F. CRAWFORD Burkitt, Church and Gnosis. Cambridge 1932, ρ. 120-’37.  
3)  Johs, PEDERSEN in Zal W 1931, S. 162.
4) Theol. Rundschau 1935, Heft 5, S. 262. 5) Origenes, c.C. I 50.

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eigenen Aussagen im Alten sei. Wenn zB. Jesaja im 8. Jahrhundert v.Chr. zu König Ahas sagt: „Darum wird der Herr selbst euch ein Zeichen geben“, und darauf die bekannte Immanuelprophezeiung folgt (Jes. 7 : 14 ff.), dann hat dies nach kirchlicher Ansicht gar nichts zu tun mit der Geschichte jener Zeit: Der Prophet und der König und das ganze Milieu, in dem sie reden, hören und leben, haben den Charakter der lebenden Bilder, die bei den Passionsspielen von Oberammergau den Szenen der christlichen Leidensgeschichte vorauszugehen pflegen. Sie haben keinen Wert in sich selbst, sondern nur in Bezug auf etwas, das sich sieben Jahrhunderte später ereignen sollte (Mt. 1 : 22). Wenn Hosea (11:1) über die frühesten Ereignisse im Schicksal des jüdischen Volkes spricht, hört der Evangelist (Mt. 2:15) daraus nur eine Episode aus dem Leben des Herren. An die Stelle der vor der Hand liegenden Bedeutung tritt die entferntere. Die Geschichte jener alten Zeiten wird in ihrer Unmittelbarkeit degradiert zu einer Präfiguration der Heilsgeschichte, die später in Jesus Christus verwirklicht werden wird. Die Furcht der Kirche, den für sie so besonders wichtigen Faktor der Geschichte zu gefährden und zu verlieren, musste notwendigerweise dazu führen, dass die Geschichte des jüdischen Volkes für einen großen Teil zum Symbol verkam und Israel insofern seiner Geschichte beraubt wurde. Nicht Abraham, nicht Mose, sondern Christus sticht hervor als Hauptfigur in der Liste von der Historie Israels, ja in der Liste von der Historie der Menschheit, der Schöpfung.

Nachdrücklich und durchgehend betont Irenäus in seiner Epideixis, dass Gott Souverän ist und dass alles aus ihm seinen Ursprung nimmt. Er sagt: „Sofern irgendwer meinen sollte, Gott der Vater sei ein anderer als unser Schöpfer, wie tatsächlich die Irrlehrer meinen, so missachten solche den seienden Gott und vergöttern ein Nichts“ l). Die Stelle ist bemerkenswert, insofern sie den Schöpfer, den Judengott, mit dem Seienden gleichsetzt. Es geht hier offensichtlich um den Realismus der werdenden Kirche, der seine Stimme erhebt

1) Irenaeus, Epideixis, c. 99.

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gegen den Idealismus der Gnostiker, die, wie es heißt, „ihren eingebildeten Vater-Gott hoch über unseren Schöpfer stellen“. Wo die Gnosis jeglichen historischen Zusammenhang und jegliche Einheitlichkeit in Entwicklung und Führung der Menschheit leugnet, verwendet Irenäus die Gottesoffenbarung in Altem und Neuem Testament als Waffe gegen deren Überheblichkeit, und versucht auf diese Weise eine allgemein anerkannte Autorität als Damm gegen ihre Willkür aufzuwerfen 1).

Der Realismus der Christengemeinde in Rom war spezifisch römisch. Wichtig scheint mir die Bemerkung Theodor Haeckers, dass Rom uns den Begriff „Realität“ (res) geschenkt hat wie Griechenland den Begriff „logisch“ (λόγος) 2). Der Charakter des Römers macht auf uns den Eindruck von Strenge und Nüchternheit; das Göttliche kleidete sich bei ihm nicht in Mythen und Legenden, denn er stach mehr durch Ernsthaftigkeit als durch Phantasie hervor; er war praktisch, ängstlich auf Genauigkeit bedacht, ein Freund von Ordnung und Disziplin 3). In seiner anlässlich der Vergil-Gedächtnisfeier gehaltenen schönen Rede hat W. F. Otto 4) vom „spezifisch römischen Wirklichkeitssinn“ gesprochen. „An Stelle des Mythos steht die Geschichte“. „Das Göttliche bedeutet hier Wille, Geheiß, Numen. Es äußert sich fortwährend in absolut gültigen Hinweisen und richtet so den Weg des Menschen, der ihm als Frommer folgen muss, auch wenn er es von Herzen anders wünschte“. Frömmigkeit spielt nämlich die wichtigste Rolle. Die Römer hielten sich selbst für die religiösesten unter den Sterblichen und sahen diesen Charakterzug in engstem Zusammenhang mit ihrer Berufung zum und ihrem Erfolg beim Erlangen der Weltherrschaft. Wenn wir uns mit andern Völkern vergleichen, sagt Cicero, müssen wir erkennen, dass wir in allen andern Dingen ihnen nur gleich oder gar unterlegen sind; in der Religion jedoch, d.h. im Dienst der Götter, weit überlegen. Und Horaz

1) Irenaeus, adv. Laer III 2, 1.  
2
) Vergil, Vater des Abendlandes2, Lpz. 1933, S. 119 f.
3) Henri BERR in Préface op LÉON HOMO, l’Italie primitive et les débuts de l’imperialisme romain. Paris 1925, p. VI.  
4)
Vergil, Festrede. Berlin—Lpz., 1931, S. 13, 17, 18, 22

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mahnt: „In dem Maße, in dem du den Göttern dienst, oh Römer, wirst du herrschen!” Um es noch einmal mit den Worten W. F. Ottos zu sagen: „Ältestes und Jüngstes ist, ohne Aufhebung der fortschreitenden Zeit, eins, weil sie in einer sinnfällig gestalteten Idee lebendig werden. Das ist das Werk Vergils, das ist die klassische Vollendung des historischen Epos der Römer. Das Alte kehrt immer größer wieder, und das Größte ist das Wunder der Gegenwart, in dem alle Sprüche sich erfüllen. Das goldene Zeitalter, das die italische Erde vor Zeiten erleben durfte, kommt nun zurück durch den Friedensfürsten, den einst das Hirtengedicht als Gott verkündet und auf den das messianische Lied traumhaft hingedeutet hatte“. Bringt ein solches Zitat uns den Geist des katholisierenden Christentums in Rom nicht näher?

Jener Realismus äußert sich auch in der dortigen christlichen Gemeinde in ihrer Organisation, Einheit, Konzentration; Hierarchie, Neigung zum Praktischen, Antipathie gegen Spekulatives, monarchischer Führung. Das ist alles typisch römisch. Als Erbe der antiken Welt in römischem Geist protestiert die werdende Kirche gegen die anwachsende Flut des kosmischem Dualismus 1). Auch unsere endliche Welt ist Gottes Werk und nicht Produkt des Falles und des Nichtwissens (nach Irenäus ein gotteslästerlicher Gedanke!)2), — hier bot die alttestamentliche Schöpfungslehre willkommene Unterstützung. Die Erbsünde kommt an die Stelle vom Fall eines Gottes. Der abgefallene und gottfeindliche Kosmos wird anthropologisch beschränkt auf die Welt der Menschen. Im Gegensatz zur revolutionären Gnosis wendet sich das kirchliche Christentum wieder dem positiv-historischen zu, dem einmal in der Geschichte geschehenen Fall und der einmal in der Gesschichte geschehenen Erlösungstat. Damit konnte sich der unhistorische, zeitlose Erlösungsbegriff der Gnosis nicht messen 3). Die christliche Kirche brauchte keinen Gott, der der Welt feindlich gegenüber stand, sondern einen, der über der Welt stand, und einen solchen fand sie im

1) Hans Jonas, a.a.O., S. 155.
2) Adv. Haer. Il 3, 2  
3
) Hans Jonas, a.a.O., 8. 22G, Anon. 2.

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Alten Testament als den Schöpfer und als die Vorsehung, die sich um die Welt kümmert.

Zwar gibt es in den Riten und Mythen des Christentums hellenistische Elemente, aber die theokratische Idee ist nicht hellenistisch, sondern jüdisch. Nur durch seinen formalen Anschluss an das Judentum, konnte das Christentum erfolgreich sein. Die Gemeinde in Rom sah sich dazu am ehesten veranlasst. War doch der römische Geist dem jüdischen verwandt. Interessant ist in diesem Zusammenhang die von Origenes erwähnte Bemerkung des Celsus, dass „ein Teil der Christen sich in der Großkirche zusammengeschlossen hat“; diese Leute unterscheiden sich ihm zufolge durch ihre engen Beziehungen zum Judentum, von dem sie die Schöpfungsgeschichte, die Abstammung der Menschen und anderes mehr übernommen haben 1). Judentum und Stoa waren Augustin zufolge eng verwandt, und die Stoa war nun gerade die römische Philosophie der Kaiserzeit, — die gleiche Stoa, deren viele jüdische Elemente Walther Fink in einer wichtigen Schrift 2) aufgezeigt hat. Das Judentum hatte oft ein so gutes Verhältnis zur Stoa, weil deren Vorstellungen von Gott und Welt den jüdischen sehr ähnlich waren. Außer als vernünftiges Weltprinzip sieht die Stoa ihren Gott auch als ethische Persönlichkeit, als heiligen Willen, der die sittliche Weltordnung, das Recht und die Gerechtigkeit überwacht und sichert. Der alttestamentliche Gott seinerseits ist nun nicht nur der heilige und gnädige Erlöser, sondern auch der Schöpfer der Ordnung in der natürlichen und sittlichen Welt, einer Ordnung, die er durch seine weise Vorsehung in Stand hält. Auf diese Weise konnte die stoische Philosophie die hellenistische Welt erobern und als kraftvolle Wegbereiterin des Christentums bei den Massen zusammen mit dem Platonismus einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der christlich-kirchlichen Ethik und Dogmatik leisten 3).

1) Orig., c.C. V 29. 
2
) Der Einfluss der jüdischen Religion auf die Griechisch-römische. Bonn, 1932.  
3
) Vgl. Kurt Leese, Natürliche Religion und christlicher Glaube. Berlin 1936, S. 27.

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Auch die von den Tübingern als katholisierende Schrift erkannte Apostelgeschichte versucht, eine enge Beziehung zwischen der neuen Kirche und dem Gottesstaat des Alten Bundes herzustellen. Das ist aber kein jüdisch-christlicher sondern ein römischer Versuch. Wie die Juden schätzen die Römer das Positive und Legalistische. „Dem Juden wie dem Römer ist die Satzung die Grundlage des Daseins“, erklärt Isaac Heinemann 1). Beim Congrès-Loisy in Paris habe ich seinerzeit über Petrus als den zweiten Mose gesprochen 2): Die Kirche, die nicht nur Gnostiker und Theosophen, sondern auch die große Masse simpler Seelen in sich aufnehmen möchte, schließt sich dem Bestehenden an und fügt den revolutionären Paulus in die Überlieferungskette ein in einer Weise, dass man ihn kaum noch von Petrus unterscheiden kann. Petrus tritt wie ein universalistischer Mose auf.

Mit Befriedigung lese ich, dass auch Johannes Leipoldt viele angeblich jüdische Züge im frühesten Christentum als in Wirklichkeit römische erklärt und einsieht, dass der jüdische Einfluss auf die Gesamtkirche im 2. Jahrhundert stärker wird. Dazu gehören z.B. der Begriff  der Überlieferung und derjenige des Dogmas als notwendige Heilsbedingung  3). Auch der römische Imperialismus verehrt die Überlieferung; der mos maiorum spielt da eine große Rolle und man legt – wie oben schon erwähnt – Wert auf die Geschichte. Der nüchterne Geist des Römers ergibt keinen geeigneten Nährboden für syrischen oder ägyptischen Synkretismus 4) und kann somit Gnostisches nur dann akzeptieren, wenn es im Filter des jüdischen Geistes von seinen Extravaganzen befreit in vernünftigere Bahnen geführt worden ist. Dann aber zeigt der jüdische Charakter

1) Die griechische Weltanschauungslehre hei Juden und Römern, Berlin 1932, S. 16.  
2) Congrès d’Histoire du Christianisme: Jubilé Alfred Loisy, Paris—Amsterdam 1928, p. 181. 
3) Gegenwartsfragen in der neutestamentlichen Wissenschaft. Lpz. 1936, S. 112 f.  
4
)  Walter Bauer, Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum. Freib. 1934, S. 232.

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damit eine bemerkenswerte Übereinstimmung. Das Sittlichkeits- bzw. Gemeinschaftsempfinden äußert sich bei den Juden als Einsicht in das Gebunden-Sein an Sitte und Gesetz (natürliche Sittlichkeit oder Legalität); rein vernunftmäßig  sehen sie das Geistige 1). „Wo in erster Linie en guter Verstand oder ein scharfes Unterscheidungsvermögen vonnöten ist wie in … der Welt des Rechts, erwewisen sich die Juden im großen Ganzen als tuchtig“ 2). Sie denken substanziell; weil bei ihnen Geist und Natur identisch sind, sehen sie unwillkürlich auch geistige Gestalten als natürliche Individualität 3).

Heinemann, der beste Kenner sowohl der Juden als auch der Römer, sagt wahrheitsgemäß: „Wie der Römer sich zum Herrscher der Welt berufen fühlt, so der Jude zum Priester der Welt“ 4). So konnte dann gerade im jüdisch beeinflussten römischen Geist die priesterliche Weltherrsschaft bzw. die weltbeherrschende Priesterschaft der Heiligen Römisch-Katholischen Kirche entstehen.

In treffender Weise zeigt Michelangelo an der Decke der Sixtinischen Kapelle, wie das päpstliche Rom aus dem kaiserlichen herauswuchs; befruchtet vom jüdischen Geist: neben den heidnischen Sibyllen erscheinen dort die jüdischen Propheten. Die Träger apokalyptischer Stimmungen in der griechisch-römischen Welt erkannten in den jüdischen Dichtern von Zukunftsbildern verwandte Geister. In der Erhebung des Apostelfürsten zum Felsen der Kirche und in der Art und Weise, wie dieser in der Apostelgeschichte vor allem sehr darauf bedacht ist, das Band zwischen der neuen Gemeinde und dem Gottesstaat des Alten Bundes unversehrt zu erhalten, zeigt sich eine Eigenschaft des Römers, dessen Gesetzgebung ebenfalls darauf abzielte, das Alte mit den unvermeidlichen Neuerungen verschmelzen zu lassen. Wie der Kaiser sowohl Hohepriester als auch fürstlicher Herrscher war, so wurde der Apostelfürst zum Weltherrscher. Das Christentum in seiner Entwicklung von

1)   Dr. A. W. Groenman, N.T.T. 1935, S. 220, 223.  
2
)   Dr. A. W. Groenman, a.a.O, S. 224. 
3
)   Dr. A. W. Groenman, N.T.T. 1935, S. 369. 4) a.a.O., S. 34.

 

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Sekte zu Kirche, zu Katholischer Kirche, konnte nichts Besseres tun als anzuknüpfen bei der Vorstellung der einen Geschichte der Menschheit, wie das Alte Testament diese in bedeutender Weise verkündet l). Unter dem vielsagenden Titel „Von Jerusalem bis nach Rom“ beschreibt u.a. Harnack 2) den Weg, den das Evangelium der Apostelgeschichte zufolge einschlug, als historische Tatsache. In Wirklichkeit ist das jedoch eine dogmatische Aussage. Historisch gesprochen geht die Frohbotschaft umgekehrt von Rom nach Jerusalem, insofern die Judaisierung des ansonsten nichtjüdischen Prinzips des Christentums von der römischen Christengemeinde ausgeht. Diese Judaisierung macht aus dem himmlischen Christus den jüdischen Messias und stellt dann dessen Leben, Sterben und Auferstehung eine in der Hauptsache aus dem Alten Testament abgeschriebene Biographie voran, die sowohl der kirchlichen Forderung einer Historisierung des gnostischen Mythos entsprach als auch das Band zur entferntesten Vergangenheit knüpfte und so die Verwurzelung des Evangeliums in der Geschichte der Welt und der Menschheit anschaulich aufzeigte!

1) Vgl. F. M. Th. Böhl, N. Th. Studien, Dez. 1934, S. 300. 
2
) Die Apostelgeschichte, Lpz. 1908, S. 12.