Das Christentum als Mysterienreligion

G.A. van den Bergh van Eysinga

Übersetzt von Frans-Joris Fabri, 2006

Vor ein paar Jahren gab ein Redner bei einer Theologenzusammenkunft ganz nebenbei einen Hinweis auf Mysterienelemente bei Paulus. Im darauf folgenden Gedankenaustausch wehrte sich jemand energisch gegen die Annahme auch nur des geringsten Einflusses der Mysterien auf das früheste Christentum. Am liebsten hätte ich da in den Saal hineingerufen: „Das Christentum ist selbst eine Mysterienreligion“.

Bereits vor vierzig Jahren habe ich versucht, dieses Position im Aufsatz De breking des broods in der Leidenschen Theologisch Tijdschrift zu verteidigen, und seit damals habe ich es in meinen Untersuchungen immer wieder thematisiert. Im Allgemeinen habe ich den Eindruck gewonnen, dass protestantische Schrifterklärer die eigenen Auffassungen gar zu gerne im Neuen Testament wiederfinden, römisch-katholische Exegeten aber den frühchristlichen Texten kongenialer gegenüberstehen und deren Bedeutung besser nachempfinden. Namentlich denke ich an die Bibelerklärungen von Männern wie VALENTIN WEBER, PETRUS DAUSCH, MEINERTZ, ALLO u.a., von denen ich viel gelernt habe. Mehr noch gilt das für die Werke des abgefallenen LOISY, in denen ja ebenfalls eine gute Tradition katholischer Bibelerklärung  vorhanden ist. Insbesondere denke ich an seinen hervorragenden Kommentar zum vierten Evangelium und an sein Buch Le mystère chrétien et les mystères païens. Meine Auffassung, dass das älteste Christentum Mysterienkult war, wird von meinen alten Freunden ALBERT SCHWEITZER und dem jetzt verstorbenen CARL CLEMEN nicht akzeptiert, wie aus ihren Veröffentlichungen zum Thema hervorgeht. Dom. CASEL jedoch, über den der Jesuit Dr L. MONDENl voriges Jahr eine so gute Monographie verfasst hat, steht mir neben sehr alten Zeugen aus der

1 „Het Misoffer als Mysterie“. Roermond-Maaseik 1948. Siehe S. 10 ff..

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Vergangenheit der Kirche in dieser Sache näher. CASEL sah Ähnlichkeit zwischen den Mysterien des heidnischen Altertums und dem Christentum; die Mehrheit unserer heutigen protestantischen Theologen will davon nichts wissen trotz allem, was anerkannte Forscher wie z.B. BOUSSET, REITZENSTEIN, WELTER, LOISY u.a. darüber ans Licht gebracht haben.

CASELs treffsichere Definition von Mysterium lautet: „eine heilige kultische Handlung, wo ein Heilsereignis während des Rituals gegenwärtig wird. Durch den Vollzug des Rituals nimmt die Kultgemeinde an der Heilstat Teil.“ Vorausgesetzt ist somit immer ein göttliches Ereignis, welches historisch oder auch mythisch sein kann, von dem die Rettung und Heiligung der Gemeinde abhängt. Dieses heilige Ereignis wird wiederholt, und die Gläubigen werden darin einbezogen; aktiv nehmen sie am Mysterium teil, indem sie die Heilstat aus der Vergangenheit symbolisch darstellen, und eignen sich so das Heil an, erreichen die Vereinigung mit der Gottheit und ein seliges Weiterleben nach dem Tode. Das Symbol hat bewirkende Kraft; es ist kein nur subjektives Zeichen für den einen oder anderen abstrakten Gedanken; es ist selbst Wirklichkeit und es bewirkt dann auch eine reale Erhebung des Seins zu göttlicher Lebenshöhe. Die Heilstat wird wieder gegenwärtig, jedoch in einer anderen, nichtzeitlichen Seinsweise, nicht mehr historisch, sondern in mysterio, sakramental. Treffend charakterisiert G. VAN DER LEEUW l das Sakrament als die Sublimierung einer ganz einfachen und elementaren Tätigkeit des Lebens: Waschen, Essen, Trinken, Geschlechtsverkehr, Bewegung, Sprache; all das wird als im tiefsten Grunde mit dem Göttlichen verbunden betrachtet. Natürliche Mittel machen im Sakrament für die Teilnehmer übernatürliche Kräfte frei.

In den hellenistischen Mysterienkulten geht es um das Heil; sie sichern die Unsterblichkeit, das ewige Leben. Ihre Götter sind anders als die Olympier; sie leiden, sterben, und leben wieder auf; sie sind Vegetationsgötter, Götter der jähr-

1   „Phänomenologie“. Tübingen 1933. S. 341.

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lich sterbenden und wiederauflebenden Natur. Junge, Mensch gewordene, Götter sterben; Frauen beweinen ihren Tod und jubeln bald bei ihrem Wiederaufleben. Letzteres erweckt trostreiche Gedanken bei der leidenden Menschheit und gibt ihr ein Vorgefühl der eigenen Erlösung aus den Fesseln des Schicksals. Denn ein Mensch, der in einen solchen Mysterienkult eingeweiht wird, überwindet das Schicksal. Durch mystische Vereinigung mit dem Gott wird dessen Geschichte im Gläubigen wiederholt und deshalb nennt man den Tag der Einweihung in das Mysterium den Geburtstag des neuen Menschen. Schon dieser sehr summarische Überblick über das Wesen der Mysterienreligionen führt dazu, dass wir eine Analogie zum Christentum erkennen. Man braucht nicht der Meinung zu sein, dass es möglich ist, mit einiger Sicherheit eine direkte Herkunft von diesem oder jenem Element des Christentums aus dem Isis-, Attis- oder Mithraskult zu konstatieren, um dennoch mit Dom CASEL, LOISY u.a. einzusehen, dass das Christentum selbst eine Mysterienreligion ist, und die Atmosphäre, in der es atmet, die gleiche ist wie die der hellenistischen Mysterienreligionen. Wenn die Kirchenväter letztere als teuflische Imitationen des christlichen Mysteriums verwerfen, zeigen sie dadurch, dass sie zumindest eine äußere Ähnlichkeit nicht abstreiten können. CASEL interpretiert die heidnischen Mysterien lieber als  ein Werk der Vorsehung Gottes, das die Heidenwelt auf das Christusmysterium vorbereitet; im Frömmigkeitstypus, in den Kultformen stimmen sie überein 1. Das Christentum widersetzte sich den Mysterienreligionen, weil es sich selbst als das einzig wahre Heilsmysterium betrachtete 2 . Im vierten Evangelium kommt das ganz deutlich zum Ausdruck. Die irdische Verwandlung des Heilandes ist darin eine Epiphanie, während der er selbst das Mysterium lehrt, das nur von den Kindern Gottes verstanden wird. WELTER3 hat speziell in Joh. 12 ein Vergöttlichungsmysterium erkannt, und ANTON GREIF lehrte uns die Abschiedsreden im Lichte der Eucharistie zu sehen. Gegen

1 Zie Monden, t.a.p., blz. 31, 49.  2 Loisy, „Le mystère chrétien et les mystères païens“, p. 292, 333.  3 G. Pson Welter in „Stockholmer Beitrage zur Religionswissenschaft, 1914/5“.

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HEINRICIs Annahme, das Christentum wäre vielmehr eine Anti-Mysterien-Religion, bemerkt LOISY1 sehr richtig, dass diese Gegnerschaft für den Mysteriencharakter des Christentums spricht; es ist nämlich in Opposition zu den Mysterien groß geworden, es hat sie mit ihren eigenen Waffen bekämpft, in dem es das Heil für sich selbst reservierte, von dem die Mysterien im Voraus nur ein schwaches Abbild gehabt hätten. Haben nicht etwa Justin Martyr und Tertullian die Verwandtschaft zwischen den christlichen Riten und denen des Mithras erkannt? Aber nur Jesus hat der Kirche zufolge die wirklich wirksamen Riten gestiftet, die den Gläubigen ewiges Leben verleihen. Wir dürfen nicht vergessen, dass das wichtigste Kennzeichen der Mysterien nicht deren Geheimhaltung oder Verborgen-Sein ist, — auch wenn das eine Rolle spielt — sondern dass Mysterien Aufführungen sind vom Leiden, Sterben und Wiederaufleben eines Gottes; Aufführungen, die gleichzeitig für die Zuschauer Unterpfand sind für deren eigenes Leben nach dem Tode. In einem mystischen Drama wird zum Nutzen der Eingeweihten die Geschichte vom heilbringenden Gott wiederholt; sie sind dabei nicht nur Zuschauer, sondern auch Mitarbeiter; sie werden eins mit dem Gott. Der Eingeweihte lebt nicht mehr selbst, sondern der Mysteriengott lebt in ihm (vgl. Gal. 2:20).   Die   dramatische Aufführung macht das Dargestellte präsent: In den Mysterien kommt eine uralte mystische religiöse Kraft, die durch die Zivilisation in den Hintergrund abgedrängt worden war, aufs Neue zum Leben. Dass das früheste Christentum zur gleichen Sphäre gehört wie die Mysterienreligionen, zeigt sich im Abendmahl am deutlichsten. Wo Jesus dieses stiftet und den Jüngern das Brot gibt mit den Worten: „Nehmt, esset! Dies ist mein Leib”, wird ohne jeden Zweifel das Abendmahlsbrot mit dem Leib des Herren in eins gesetzt (vgl. l Kor. 10 :16). Seinerzeit habe ich versucht aufzuzeigen, dass es ursprünglich ein Mahl ohne Becher gewesen sein dürfte. Man denke nur an die vielen Stellen im N.T., wo vom Brotbrechen die Rede ist, ohne dass auch Wein erwähnt wird.

1 a.a.O., S. 348.

Apg. 2 : 42 und 46 wird neben Tempelbesuch das Brotbrechen als spezifisch christlicher Ritus erwähnt. In einer bekannten Variante von Lk. 22 : 29 (in Codex D) fehlt der Kelch. In Mt. 26:27 wird anscheinend die Formel auch zum Becher analog zum Bericht über das Brotbrechen hinzugefügt, aber Vers 29 zeigt, dass es sich dabei eigentlich um einen anderen Becher handelt als den des christlichen Sakramentes. In den Berichten von der wunderbaren Speisung fehlt der Wein ebenfalls. Tertullian behauptet in bezug auf Afrika, dass man dort die Eucharistie nur mit Brot allein kannte. Brotbrechen als Bezeichnung für eine gewöhnliche Mahlzeit findet sich RUDOLF OTTO2 zufolge nirgends; es ist der Name einer feierlichen Handlung, ein besonderer Name, der auf eine besondere, völlig neue Bedeutung hinweist. Bei der Stiftung des Abendmahls sagt der Herr vom Brot: „dies ist mein Leib“. Ich bleibe bei dem, was ich schon vor mehr als vierzig Jahren  so sah, nämlich dass die bei Brotbrechungsberichten immer wieder vorkommenden Worte: „Er nahm das Brot, segnete es, brach es und gab es ihnen“ eine liturgische Formel sind, in der jedes Wort von Bedeutung ist. Selbstverständlich kann „Er nahm das Brot” auch einfach nur bedeuten: Er nahm das Brot in die Hand. Selbstverständlich muss man auch, wenn man Brot brechen will, dieses zuerst vom Tisch und in die Hand nehmen, — aber gerade diese Selbstverständlichkeit macht das jedes Mal wiederholte Wort in den Brotbrechungsberichten zu einem eigenartig anmutenden Füllwort, so dass es m.E. in diesem Kontext einen tieferen Sinn haben muss. Wenn es in Joh. 13 :12 heißt, dass Jesus nach der Fußwaschung sein Kleid „nahm“, so heißt das unmissverständlich: Er zog sich das Kleid an. In Phil. 2 :7 nimmt Christus Sklavengestalt (an). So nimmt er den Leib an, der im Tod gegeben wird, (Röm. 7 :4; Hebr. 10 : 5, 10; 1 Pe. 2:24), seinen Fleischesleib (Kol. 1:22), den Leib der Sünde bzw. des Todes (Röm. 6 : 6; 7 : 24; 8 : 11), der als Leib der Erniedrigung dem verherr-

1 Siehe auch: Ps. Clem, Hom. 14:l; 11 : 35; Acta Petri 10 (T.U. II 9,l, 1903); Acta Pauli et Theclae 5; Acta Joh. 106 (ed. Bonnet p. 203, 17), 109, 110 usw. usw.. 2 „Gottesreich und Men-schensohn“,  München 1940, S. 249 ff..

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lichten Leib der himmlischen Wesen gegenüber steht (Phil. 3 :21). Durch die Weihe bzw. die Segnung, die der pneumatische Christus diesem Leib verleiht, wird er zum eigentlichen, himmlischen, Leib Christi, gemeint ist die Kirche: „So sind wir, die vielen, ein Leib in Christus“ (Röm. 12 :5), „ein Leib und ein Geist,“ (Eph. 4 :4).

Paulus sagt (l Kor. 11 :23), er habe ein Wort vom Herrn empfangen, nämlich durch Offenbarung, und er habe es auch den Korinthern überliefert. Diese zwei Verben (paralambanein und paradidonai) sind Mysterientermini für Einweihungen1. Die Mitteilung des Apostels an die Gemeinde ist kein einfaches Weitererzählen einer Mitteilung, die er selbst empfangen hat. Nein, so, wie er selbst, wenn der Sohn durch gnadenreiche himmlische Offenbarung in ihm offenbart worden ist (Gal. 1 : 16), zum Mystagogen geworden ist, so weiht er seinerseits durch die heilige Formel der Eucharistie die dazu Berufenen in das Mysterium des christlichen Glaubens ein. Derselbe Paulus lehrt, dass Gott die Sünde in Christus inkarniert hat, um sie zum Tode zu verurteilen im Fleische, wenn auch Christus persönlich keine Sünde gekannt hat (Röm. 8 : 3, 2 Kor. 5 : 21). Dadurch, dass er ihn ans Kreuz nagelte, hat Gott unsere Schuld getilgt (Gal. 4:4 f.; Röm. 6 : 2—4; 2 Kor. 5 : 21, Kol. 2 : 14). Es ist die Idee des geopferten Gottes. Speziell erinnert sie uns hier an Dionysos; auch mit Bezug auf ihn wird  übrigens der Terminus Parusie (Erscheinung eines Gottes) verwendet. Paulus fasst die Menschwerdung als eine Art Abstieg zur Hölle auf (l Kor. 2 : 6 ff.; Phil. 2 : 5 ff.; 2 Kor. 8 : 9; vor allem in Kol.). Was in den Hadesmythen die Unterwelt ist, ist hier die Erde, wo die Fürsten dieses Äons, die von seiner Gottessohnschaft keine Kenntnis haben, ihn töten, dadurch zu weit gegangen sind und selbst zu Fall kommen, während der Gottessohn über alle Maßen verherrlicht wird. In Joh. 12 : 31 sagt Jesus: „Jetzt ist das Gericht dieser Welt; jetzt wird der Fürst dieser Welt hinausgeworfen werden“ (vgl.

1 Vgl. Gustav Anrich, „Das antike Mysterienwesen in seinem Einfluss auf das Christentum“. Göttingen 1894, S. 54, Anm. 4.

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16 :10 f.). — Er sagt das, als seine Leidensgeschichte ihren Anfang nimmt, die im vierten Evangelium mit seiner Erhöhung (12 :32) und Verherrlichung (12 :27) identisch ist. Ich komme zurück auf die Einleitungsworte der Brotbrechunsberichte. Christus nahm das Brot bedeutet also: Christus nahm den Leib an in seiner Menschwerdung; Christus segnete den Leib durch den göttlichen Geist; Christus brach diesen Leib in seinem Sterben; Christus gab den gebrochenen Leib den Seinigen. Erinnert das nicht an Dionysos–Zagreus, den Gott, der zerrissen und in die vielfältige Welt zerstreut wird? Die Titanen hatten diesen Gott zerrissen und verschlungen; im orphischen Mysterienkult wurde das nachgestaltet durch Zerreißen und Verspeisen des Opfertieres, welches den Gott selbst darstellte. Im thrakischen Dionysoskult aßen die Adepten somit den Gott-Stier, um selbst Götter, Bakchoi, zu werden so, wie die Bakchanten Efeu aßen, worin die Gottheit wohnte. Auf dieselbe Weise also ist der Herr im Brot, wie Dionysos im Opferstier ist und Demeter in den Ähren und Garben der eleusinischen Mysterien. Das Brechen des Leibes Christi ist das Werden des neuen Leibes, der Gemeinde. Im Brotbrechen wird der Herr den Seinen offenbar als derjenige, der zwar gestorben ist, der jedoch lebt als der Auferstandene und der Erhöhte, der den irdischen Leib annimmt und ablegt, wie es ihm gefällt.

Der Sinn des Abendmahls ist sakramentale Kommunion; es verbindet die Kommunikanten zu einem einzigen Leib; es ist die communio mit dem gestorbenen und zum Leben zurückgekehrten Gott (1 Kor. 1 : 9; Phil. 3 : 10). Durch dieses Sakrament erwerben sie eine neue, unbekannte, Einsicht (Lk. 24 : 30 f.). Leider wird bei der Erklärung dieses tiefsinnigen Berichtes über die  Emmausjünger immer wieder eine kaum noch für möglich gehaltene rationalistische Auffassung bemüht, die besagt, die Jünger hätten Jesus beim Brotbrechen erkannt, weil er das in einer ihm eigenen speziellen Art und Weise getan habe1.

1W. Goossens; „Les Origines de l’Eucharistie. Sacrament et sacrifice“ 1931, S. 71 f..

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Ein Gott, der sich selbst opfert und den Gläubigen als Speise darbietet, damit sie an seiner Gottheit Anteil haben, das ist Mysterienglaube. Im Dionysoskult wird der Gott gegessen; die heilige Speise ist der Heiland-Gott selbst und der Teilnehmer wird des Gottes voll. Wie die Mysterien ihre ätiologische Kultlegenden hatten, die für die kultische Feier eine Erklärung boten – Dionysos, Attis, Osiris hatten einst das getan, was seitdem ihre Verehrer wiederholten –, so hat auch das Christentum eine: Auf Erden hat ja der Herr die christliche Taufe vom Noch-nicht-Christen Johannes empfangen und selbst das Abendmahl mitgefeiert. KLOSTERMANN konnte dann auch von einer „Kulterzahlung“ reden „die in der Form eines geschichtlichen Berichtes anscheinend die in hellenistischen Kreisen übliche Abendmahlsfeier ätiologisch rechtfertigen will“ l. Paulus zufolge (1 Kor. 11 :24) sagt der Herr selbst, dass diese Feier wiederholt werden muss als „Gedächtnis“-Mahl. Für rationalistische moderne Geister ist hier die Verlockung wohl sehr groß, dies in Analogie zu sehen zu den Gedächtnisfeiern für große Persönlichkeiten wie etwa für Dante oder Goethe.  So etwas liegt echter ganz und gar außerhalb des Gesichtsfeldes des Autors. Wo LIETZMANN2 sagt, dass die Worte „tut dies“ auf die komplette Handlung abzielen, auf das Nehmen, Segnen, Brechen und Darreichen der Elemente, fügt er die Bemerkung hinzu, dass die Bedeutung dieses Tuns  hier schon an der Grenze zum Kultischen liegt, wie wir es bei Justin vorfinden. M.E. ist jene Grenze schon überschritten und ist hier sehr wohl die Rede von der Epiklese, dem Anrufen des Geistes, welches die Verwandlung des Brotes in den Leib Christi bewirkt. Justin spricht nämlich (Dial. C. Tryph. 41 : l; vgl. 70 : 4) vom „Abendmahlsbrot-Machen“. Dass kann unmöglich im alltäglichen Sinne des Wortes gemeint sein: zu Bäckern wurden die Jünger ja nicht berufen, nachdem sie zuvor von  Fischern zu Menschenfischern befördert worden waren. Der Ausdruck „Brotmachen“ gehört zur kultischen Terminologie. Man sollte nicht vergessen, dass die in den Evangelien

1 „Matthäus“ in Lietzmanns „Handbuch“. S. 146.

2 „Korinther“ 3, 1931, S. 57.

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von Christus bei der Stiftung des Abendmahls gesprochenen Worte an die Jünger, die Apostel, gerichtet werden und dass die Offenbarung von 1 Kor. 11 :23 den Apostel Paulus als Adressaten hatte. Anders gesagt, die Zwölf und Paulus sind nach frühchristlicher Auffassung diejenigen, zu denen Christus sagt: „poieite dies zu meinem Gedächtnis!“ Das darf man nicht, wie in der Statenvertalung und andern Übersetzungen,  wiedergeben als: „Tut dies zu meinem Gedächtnis!“ sondern als „Macht dies (nl. dieses Brot und diesen Becher) zu meinem Gedächtnis“. Die apostolische Anrufung vom Geist des Herrn bewirkt, dass dieser in die Elemente des Abendmahls eingeht und es zum Sakrament  macht; das Opfer Christi setzt sich fort im Opfer des Sakramentes; das Mysterium der Eucharistie ist die heilige Gegenwart des Herrn als Priester, als Opfer, als Kirche. So sieht es zu Recht VAN DER LEEUW 1,  der die Kommunion dann auch als das Sichtbarwerden der Kirche und als Anwendung des Geheimnisses bezeichnet. Wo in 1 Kor. 11 :26 von Verkündigung gesprochen wird, gehen Tod und Bekenntnis in einem zusammen und die Analogie zu den dromena, den feierlichen Handlungen der alten Mysterien springt wieder ins Auge. Schon in den frühesten christlichen Zeiten war das Vaterunser Teil der Abendmahlsliturgie und in der darin vorkommenden Bitte um Brot ist nicht das Brot des Alltags gemeint, sondern die Speise des Gottesreiches. Origenes 2 bezieht das Wort epiousion, das nur ein einziges Mal vorkommt und dessen Bedeutung man somit erraten muss, auf ousia (= Wesen). Dann wäre hier die Rede vom wesentlichen, vom wirklichen Brot, vom Brot des Lebens (Joh. 6:35), der für die geistige Natur des Menschen geeignetste und ihr verwandte Nahrung. Im apokryphen Evangelium der Nazareer lautete die Bitte: „Unser Brot für morgen (d.h. unser Zukunfts- bzw. Himmelsbrot) gib uns heute!“ Die Vulgataübersetzung von Mt. 6:11 hat supersubstantialis, was auf das bessere als das alltägliche, nämlich auf das himmlische Brot hinweist. Die Version des

1  Sacramentstheologie“, Nijkerk 1948, S. 59.

2  De oratione 7, 9.

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Lukas lautet (11:3): „Unser Zukunftsbrot gib uns täglich!“ Diese Bitte weist – genauso wie die Seligsprechungen – auf ein Mysterium hin, in das man eingeweiht wird. Tertullian übersetzt „tägliches“ und meint damit den täglichen Empfang des Abendmahls 1. Durch das heilige Mahl wird die Erlösung schon jetzt bewirkt und man bekommt Anteil am neuen Auferstehungsleib Christi. Im letzten Werk des von mir tief betrauerten ERNST LOHMEYER2 finde ich die treffende Bemerkung: „Das künftige, das kommende Brot, …. das Gefäß eschatologischer Gemeinschaft und Fülle…. dieses heutige Brot schenkt auch alle kommende eschatologische Gnade”. Markions Version: „Gib uns dein epiousion Brot heute!“ bedeutet anscheinend auch eine bessere als alltägliche Nahrung in Übereinstimmung mit der vorherigen Bitte, in der nicht das Kommen des Reiches sondern des Heiligen Geistes erfleht wird 3. Das Brot der Eucharistie reproduziert das Leiden Christi. Justin lehrt, dass es kein gewöhnliches Brot ist (Apol. I 65), sondern so, wie durch den Logos Gottes Jesus Christus Fleisch geworden ist um unserer Errettung Willen, so ist die durch das Gebet gesegnete Speise diese fleischgewordenen Jesus das Fleisch Jesu. Das Brot setzt den Leib selbst wieder präsent (representat), lehrt Tertullian (adv. Marcionem I 14). Die ignatianische Formulierung: das Brot das Medikament, durch das der in Sünde und Tod verlorene Mensch die Unsterblichkeit erwirbt, soll JOHS. LEIPOLDT zufolge in der Isisgemeinde enstanden sein 4. Die christliche Taufe als Sakrament lernen wir am besten kennen in Röm. 6 : 3 ff.: „dass wir, so viele auf Christus Jesus getauft wurden, auf seinen Tod getauft worden sind“. Das Eintauchen bewirkt sakramental den Tod des

1 De oratione 6. Vgl. auch Cyprian, de or. 18. Martin Werner, „Die Entstehung des christlichen Dogmas“ gibt auf  S. 463 noch weitere Stellen. Bern-Leipzig 1941. Vgl. auch Alfred Seebergs Aufsatz, den sein Bruder Reinhard publiziert hat, Leipzig 1916.

2 „Das Vaterunser erklart“. Göttingen 1946, S. 107 f. Vgl. auch Werner, S. 445 f.. 3 Harnack, „Marcion“ 2. Aufl. S. 207.

4 „Der Gottesdienst der alten Kirche – jüdisch? – griechisch? – christlich?“ Lpz. 1907, S. 54. Vgl. Joh. 6 : 5la–58, wo die Wirkung des Sakramentes auf die Teilnehmer beschrieben wird.

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Fleisches. Es ist kein Abwaschen von Sünden sondern ein mystisches Sich-Auflösen in Christus. Vers 5 lautet: „Denn wenn wir verwachsen sind mit der Gleichheit seines Todes, so werden wir es auch mit derjenigen seiner Auferstehung sein“, — gemeint ist: nicht erst in der Zukunft, sondern von dem Augenblick an, da wir mit ihm gestorben sind. „… dass unser alter Mensch mitgekreuzigt worden ist, damit der Leib der Sünde, (d.h. der Leib, der der Sünde gehört) abgetan sei, dass wir der Sünde (die hier anscheinend als ein böser Äon gedacht wird) nicht mehr dienen“. Vers 7: „ Denn wer gestorben ist, ist freigesprochen von der Sünde“, was negativ besagt: sündlos geworden, positiv: vergöttlicht. Der Tote hat durch seinen freiwilligen Tod den Zoll bezahlt, der entrichtet werden muss, wenn man nach Adam Mensch ist (5 : 12a). Hatte nicht schon Anaximander gelehrt, dass alle Dinge aus dem Apeiron entstehen, dem Unbegrenzten, und darin zurückkehren? dass sie einander Buße zahlen für das Unrecht (nl. der Individualisierung) nach der Ordnung der Zeit? Hier spricht orphischer Mysterienglaube. R. PERDELWITZ1 ist seinerzeit zwar zu weit gegangen bei seinem Versuch, die Abhängigkeit des ersten Petrusbriefes von Mysterienvorstellungen zu beweisen. Treffend bleibt dennoch eine Stelle wie 1 Petr. 1:4: „zu einem unvergänglichen und unbefleckten und unverwelklichen Erbteil, das in den Himmeln aufbewahrt ist für euch“, wo unvergänglich als Kontrast zur Attisweihe gemeint wäre, die nach zwanzig Jahren erneuert werden musste; unbefleckt wäre der Kontrast zum blutig befleckten Kleid des taurobolatus bei seinem Hochkommen aus der Grube, und unverwelklich als Kontrast betrachtet werden könnte zum verwelklichen Kranz, den der Mithras-Initiant auf dem Haupt hatte.

Die Gnadengaben, von denen in l Kor. 12 die Rede ist, haben ebenfalls ihre Parallelen im Dionysoskult; da gibt es eine

1 „Die Mysterienreligion und das Problem des 1. Petrus­briefes“. Giessen, 1911; gar zu negatief kritisiert von O. Clemen, „Religionsgeschichtliche Erklarung des NTs“, 2. Aufl. Giessen, 1924, S. 354 ff..

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ähnliche Ekstase. Dass man sich zugunsten der Verstorbenen taufen ließ – in 1 Kor. 15 :29 als Tatsache festgestellt – kam auch bei den Orphikern vor. Dass Paulus es ohne jede Missbilligung erwähnt, beweist doch, dass er die dem zugrunde liegende Ansicht teilt 1.

Bei der Taufe hat das Nennen des Namens des Herrn die Kraft, die bösen Geister auszutreiben und den Täufling für die Zukunft gegen sie zu schützen; das geschieht durch die Verleihung des Heiligen Geistes, für den die bösen Geister den Platz freimachen müssen, vgl. Kol. l:13: „Er hat uns errettet aus der Macht der Finsternis und versetzt in das Reich des Sohnes seiner Liebe“. In Barnabas 16 : 7 f. heißt es, unser Herz sei einst ein Haus der Dämonen gewesen, jedoch durch den Namen des Herrn sei es zum Tempel, in dem Gott wohne, geworden.

Auch die Handauflegung verleiht den Heiligen Geist und treibt dadurch die bösen Geister aus.

Das bei Paulus 164 Mal vorkommende „in Christus“ beruht auf der Vorstellung, dass alle Christen innerhalb des geistigen Christus vereint sind als der eine Leib: „Denn in einem Geist sind wir alle zu einem Leib getauft worden“ (1 Kor. 12 :13). So ist die Taufe keine nur sinnbildliche Handlung, kein Symbol, sondern rettende Wirklichkeit, sagt VAN DER LEEUW zu Recht. Die Taufe bewirkt die Palingenese, die zweite Geburt (Titus 3:5). Hier wird die Herrschaft des Äons Fleisch vernichtet und ein neuer Mensch wird geboren; der von Gottes Geist Erfüllte ist ein ganz anderes Wesen als der alte Mensch (Röm. 6:2 ff.). Was für den wahren Mensch-Erlöser das Kreuz war, ist für den Gläubigen die Taufe: ein Getötetwerden in Bezug auf die Grundlagen dieser Welt und ein Begrabenwerden mit Christus; ein Verlieren des irdischen Leibes. Es vollzieht sich am Getauften nur das, was bereits geschehen ist (Kol. 3 : 5 ff.): Er bekommt den in der Himmelfahrt Christi neu gebildeten Leib,

1 Rudolf  Bultmann,  „Theologie  des  Neuen  Testaments“. Tübingen 1948, S. 135.

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den Leib Christi (Eph. 2 : 16), eine neue Schöpfung (Eph. 2 :15). Christus hat ihn mitsitzen lassen in der Himmelswelt (Eph. 2 : 6); die Taufe ist Leben und Auferstehung als Himmelfahrt, wodurch man in den Christusäon aufgenommen wird. Deshalb heißt sie genauso wie der Einweihungsritus der Mysterien sphragis (Siegel). Gott hat uns „versiegelt“ und das Unterpfand des Geistes in unsere Herzen gegeben (2 Kor. l: 22). Versiegelung bewirkt, dass man dem gehört, der im Sakrament versiegelt (vgl. Eph. l : 13). Durch die Taufe wird man zum Sein in Christus (Gal. 3 : 27; Röm. 6 : 3) und ist so zu einem neuen Geschöpf geworden (2 Kor. 5 : 17). Die Wiedergeburt wird bewirkt durch Wasser und Geist (Joh. 3:5). Als Getaufter wird man in den Leib Christi eingefügt (l Kor. 12 : 13); so sind alle Getauften eins in Christus Jesus (Gal. 3 : 28). Das für die Taufe verwendete Wort photismos (Erleuchtung) ist schon wieder ein Mysterienbegriff, (Siehe Justin1, Apol. I 61, 12 f.; I 65; Dial. 39, 2). Wer einmal diese Erleuchtung empfing, hat die Kräfte des zukünftigen Äons geschmeckt (Hebr. 6:4; vgl. 10 :32).

Zur Eigenart der Mysterienreligionen gehört auch die Tatsache, dass es in ihnen Gläubige verschiedenen Grades gibt, und das finden wir auch in den Paulusbriefen. Die „Vollkommenen“ von l Kor. 2 : 6, zu denen der Apostel die Weisheit Gottes „im Geheimnis“ redet, stehen denen gegenüber, die mit Milch und nicht mit fester Speise ernährt werden (l Kor. 3 :1–3; vgl. Hebr. 5: 12 f.; l Pe. 2:2). Beim Lesen eines Textes wie Eph. 6:19, in dem Paulus darum betet, dass es ihm verliehen werde, mit Freimütigkeit das Geheimnis des Evangeliums (d.h. das Mysterium, welches das Evangelium ist) bekanntzumachen, fallen die Begriffe für vertrauliche Mitteilungen auf, die nur den Eingeweihten gegeben werden dürfen. Dazu passt vollkommen der echte Mysterienausspruch, den uns die synoptischen Evangelien zum Zweck der Gleichnisse bieten. Obwohl das Evangelium allen gepredigt wird, können nur diejenigen, für die es bestimmt ist, die es wert sind, es verstehen. Nur der Eingeweihte dringt durch die  ganz normalen Worte hindurch

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und zum Geheimnis des Reiches vor (vgl. Mt. 13 10 ff.; Mk. 4 : 11 en 34; Mt. 7:5). Von den zwölf Jüngern wird zu allerlei besonders heiligen Mysterien nur eine Dreiergruppe zugelassen (Mt. 13 : 16 f.; Lk. 10 :23 f.; Mk. 5 : 43; 9:9). Nach Markus gibt Jesus in seinem Haus zu Kapernaum als Verwalter der Mysterien des öfteren den Jüngern speziellen esoterischen Unterricht 1. Eschatologische Mysterien sind es, die der Herr den Auserwählten mitteilt (Mk. 13 : 3 ff.). Paulus hält es für möglich, sämtliche Mysterien zu kennen und in den gesamten Rat Gottes eingeweiht zu sein (Apg. 20 : 27; 1 Kor. 13 : 2; 2 Kor. 1: 12 f.). Die Apostel werden Verwalter der Mysterien genannt (1 Kor. 4:1). Paulus ist selbst ein herausragender Mystagoge (1 Kor. 2 : 10 ff.; 2 Kor. 3 : 4). WlNDlSCH2 hat ihn dargestellt als einen zweiten Christus, der zwischen Christus und der Gemeinde steht und dem die Gläubigen, die Christus nicht direkt folgen können, folgen müssen. Er weiß mehr als die Engelmächte; er ist ein Erzhierophant, dem die Engel sein Wissen um die göttlichen Dinge neiden. Er kann sagen: „In jedes und in alles bin ich eingeweiht“ (Phil. 4 : 12). Er darf sich Vater der Korinther nennen, denn in Christus hat er sie durch das Evangelium gezeugt (1 Kor. 4 :15). Das ist nun nicht einfach nur poetisch-metaphorische Rede, es ist weitaus realistischer gemeint als die Wendung geistige Kindschaft  in unserm Sprachgebrauch. Der Hellenismus betrachtete Geheimlehre als Lehre des Vaters an den Sohn; der Unterricht macht zum Sohn und der Lehrer bzw. Offenbarer macht aus seinen Schülern Brüder. Der Mysta­oge repräsentiert den leidenden, sterbenden und dadurch verherrlichten Gott und ist als solcher eins mit dem Gott. Bemerkenswert ist die Kombination „Nachahmer des Paulus und des Herrn“, wie die Thessalonichenser (1 Thess. 1:6) apostrophiert werden.

Die Vorstellung vom Nachfolgen Gottes und von der Nachfolge Christi muss hier auch noch angesprochen werden3. Trivialer

1 Siehe Klostermann, „Marcus 3“, S. 70. 2 „Paulus und Christus“. Leipzig 1934, S. 216, 250 f.. 3 vgl. meinen Aufsatz „De navolging Gods“ in  „Tijdschrift voor Wijsbegeerte“ 1917, S. 185–197.

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kann man sich das nicht vorstellen, als dass man brav hinter Jesus herlaufen müsse, „in his steps“. Plutarch l gibt von  „Nachfolge“ im hellenistischen Sprachgebrauch eine klare Definition: Von wohlgelungener Nachfolge spricht man, so sagt er, wenn sie durch Gleichwerden gekrönt wird, egal ob es sich dabei um Böses oder um Gutes handelt. Somit zielt Nachfolge Gottes oder Christi  auf Gleichwerdung mit ihnen. Das ist ein orphisch-pythagoräisches Ideal. In der berühmten Palinodie von Platos Phaidros folgen die Seelen in ihrer himmlischen Präexistenz ihrem je eigenen Gott, und viele Jahrhunderte später sagt Helios zu Kaiser Julian: „Uns folgend wirst du Gott sein“ 2. Als Gipfel des Glückes  gilt Philo das Gleichwerden mit Gott, und die Hermetischen Schriften sehen das auch so. JOSEPH PASCHER findet bei Philo immer wieder das Vergöttlichungsmysterium des Isiskultes und die Philostudien GOODENOUGHs gehen in die gleiche Richtung.

Man schloss sich dem Isiskult durch freien Entschluss an, möglich war das aber nur, wenn man dazu berufen war. In Apuleius‘ Metamorphosen muss Lucius auf den Wink der Göttin warten. Zur gleichen Zeit wird der Priester, der ihn empfangen und unterrichten wird, durch sie benachrichtigt und bekommt er selbst die spezielle Berufung, genauso wie der von Christus berufene Paulus vom benachrichtigten Ananias empfangen wird 3. Gnadenreiche Auserwählung in beiden Fällen. Die christlichen Auserwählten werden dem Bild des Sohnes Gottes gleichförmig, d.h. dessen verherrlichtem Leibe nach der Auferstehung (Röm. 8 : 28 f.; Phil. 3 : 21). Dieses göttliche Bild entsteht im Menschen durch eine Art Widerspiegelung von Christus selbst, der Geist ist (2 Kor. 3 : 18). Auch hier kann man die Übereinstimmung mit Mysterienvorstellungen nicht übersehen, — alles auf höherem Niveau.

Die Einweihung in die Mysterien findet oft als heilige Vermählung statt. Diese Brautmystik zeigt sich an so mancher

1 De audiendo p. 18 A.  2 Dieterich, „Mithrasliturgie“, S. 222. Rohde, „Psyche“, S. 125, 163.  3 Metam. XI21; vgl. Apg. 9 :l– 19; 22 : 3–21; 26 : 9–20; Gal. l: 15–17.

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Stelle im N.T. (2 Kor. 11 :2; Eph. 5 :25, 32; vor allem Offenb. 19 : 7; 21 : 2). Ich kann LOISY nicht zugestehen, dass es sich dabei nur um „une figure de mots“ handle. TOMAS ARVEDSON1 erkannte in Mt. 11 : 25 ff. eine Liturgie, die ursprünglich zu einem Mysteriumsritus der Inthronisation Christi gehörte. Sie beginnt mit dem Danklied: „Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, daß du dies vor Weisen und Verständigen verborgen und es Unmündigen geoffenbart hast. Ja, Vater, denn so war es wohlgefällig vor dir“ (11 :25 f.). Das Joch Christi, das man auf sich nehmen muss und das leicht ist (29 f.) bedeutet die innige Gemeinschaft mit Christus und gehört zur Brautmystik, zur Vorstellung der heiligen Vermählung (vgl. Offenb. 14 : 4; 8 : 34 ff.). In Vers 28 fällt uns noch das Wort für Ruhe (anapausis) auf. Christus bringt sie der von Dämonen gequälten Menschheit. Die Valentinianer hatten den Ritus des Brautgemachs, wo der Initiant das Herabsteigen des befruchtenden Geistes empfängt (Iren. I 14, 2) vgl. l Joh. 3 :9.

Hassen oder Lieben ist die typische Alternative der Gottesbraut, vgl. Mt. 10 : 34–37). Die Braut ist die Gemeinde (Röm. 7 :4; 2 Kor. 11 :2; Joh. 3:29; Offenb. 21:2; 22 : 17). Der Kult antizipiert die zukünftige Herrlichkeit. Das Joch Jesu verwandelt zum Jünger, Sklaven, zur Braut, befreit so aus der Macht des Teufels und schenkt das ewige Leben. Der Pneumatikos ist bereits übermenschlich, göttlich (2 Kor. 3 : 18; Kol. 8 : 28–30; Phil. 3:21). Wie der Sohn bereits vor der Menschwerdung in der Gestalt eines Gottes ist, so wird am Ende auch die Gestalt des Christen ebenfalls diejenige eines Gottes sein.2

Im Christentum bekommt man Anteil an der göttlichen Natur (2 Pe. 1:4); Christen werden Ps. 81 : l und 6 (LXX) zufolge Götter genannt (Joh. 10 :34; vgl. Justin, Dial. 124 : 4; Iren. adv. haer. III 6,l; 19,l; IV l, l; 38, 4;

1 Vgl. dazu meine „Verklaring van het Evangelie naar Matthaeus“, Arnhem 1947, S. 104–106.  2  Jos. Pascher. „Basilikè hodos“, Paderborn 1931, S. 237 f. drückt sich stärker aus, als ich es wage, indem er nicht „eines Gottes“, sondern „Gottes“ übersetzt.

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63, 3; Tert. adv. Prax. 13, adv. Hermog. 5, adv. Marc. I 7; C1. A1., Str. IV 149, 8; Athanasius, de incarn. 4; Oratio c. Arianos I 9). Der gnostische Text Pistis Sophia lehrt, dass die Mysterien des Lichtes den materiellen Leib reinigen und in pures Licht verwandeln; dadurch, dass man Anteil am Lichtschatz bekommt, wird man zum unsterblichen Gott. Die Einweihung in das Isismysterium habe ich bereits angesprochen. Dabei wird das Leben des Osiris durch das Sakrament auf den Initianten übertragen. Der Attiskult hat eine Osterbotschaft: „Schöpft Mut, ihr Eingeweihte! Da nun der Gott wohlbehalten ist, wartet auf euch ebenfalls die Rettung aus aller Mühseligkeit!“ Das hört sich an wie eine heidnische Prophezeiung des Sterbens mit Christus, um mit Christus aufzuerstehen. Gemeinschaftsbildende Kraft ist ein typisches Merkmal dieser Mysterien: Durch die Einweihung wird man aufgenommen in den Kreis derjenigen, die einander an Bekenntnisformeln oder symbolischen Zeichen erkennen. Wie ich schon wiederholt gesagt habe: ähnlich aussehen (= gelijken op) ist etwas anderes als gleich sein mit (= gelijk zijn aan). Übereinstimmung bedeutet keine abstrakte Identität, kein Ein-und-dasselbe-Sein. Aber sogar Firmicus Maternus (de errore 18) sah eine Wesensanalogie zwischen dem mystischen Mahl des Attis und dem christlichen Abendmahl, und Justin (Apol. I 66) erkannte im Mithrasmahl einen Glauben und eine Liturgie, die in jeder Hinsicht dem Glauben und der Liturgie der Christen gleichen. Wenn Paulus vom „Tisch des Herrn“ spricht (1 Kor. 10:21), folgt er dem hellenistischen Sprachgebrauch kultischer Mahlzeiten. Wir haben ein Einladungsformular zum Tisch von Serapis und Isis; Serapis selbst fungiert dabei als Gastgeber: „Chairemon ladet dich ein zum Mahl am Tisch des Herrn Serapis im Serapisheiligtum, morgen, am 15. Tage, von 9 Uhr an“. So war es auch üblich im Kybele-, Attis- und Mithraskult1.

Es erübrigt sich, dass wir uns lange aufhalten bei den militia des Mithrazismus. Sakrament bedeutet eigentlich Kriegseid. Die Stoiker nannten das Leben des Menschen Kriegs-

1 Zie Lietzmann, „Korintherbriefe 3“, s. 49 f..

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dienst und die Astrologen sprechen vom Menschen als Soldaten des Schicksals – eine allgemein übliche Vorstellung, die in den militärischen Monarchien der Asiatischen Diadochen entstanden war und ins Religiöse transponiert wurde. Durch den Empfang des Sakramentes stellt man sich auf ewig in den Dienst der Isis; man wird ihr Sklave, ihr Gefangener, und übergibt ihr sich selbst ganz und gar. Durch Askese wird man Pneumatiker. Einmal so weit, endet das Dienstverhältnis und man wird sich in einer Vision des eigenen Vollkommenheitsstatus’ bewusst, des Gnadenstandes, der es möglich macht, das Allerheiligste zu schauen.

Tatsache ist, dass das Christentum seinen siegreichen Feldzug durch die Welt nicht der Predigt des Rabbis oder Propheten Jesus verdankt, auch nicht dem Glauben an einen Messias Jesus, sondern einer Heilslehre, deren Zentrum und Objekt Christus ist. An seinen für die Menschheit segensreichen Tod, der Leben gibt und Erkenntnis, wird man beteiligt durch das Sakrament, selbstverständlich aber nicht ohne Glauben. Diesen letztgenannten Faktor hat Prof. FORTMANN vor kurzem betont 1. LOISYs Wort stellt sich als vollkommen richtig heraus: „II n’était pas besoin, vraiment, de prouver que le christianisme fut un mystère, car il se donne comme tel, et rien n’est plus evident“2. Dieser Aufsatz enthält in etwa, was ich in der Herbstversammlung 1949 der Godsdiensthistorische Vereeniging gesagt habe. Es folgte ein lebhafter und wichtiger Gedankenaustausch. Ein Teilnehmer an der Debatte meinte, es gebe einen großen Unterschied zwischen den antiken Mysterien und dem Christentum insofern, als erstere noch ein kosmisches Bewusstsein durchblicken ließen, was letzterem ganz und gar abgehe. Das konnte ich nur relativ konzedieren, denn das früheste Christentum hat schließlich seinen kosmischen Christus gehabt, der als Fundament der Weltschöpfung gilt (Joh. 1: 1ff.; Eph. 4:6). Er tritt auf als das immanente Leben und die Wahrheit aller Dinge,

1 In seiner Antrittsrede zu Utrecht: „Geloof en Sacrament“. Utrecht–Nijmegen, 1949.  2 l.c., S. 333 (Es war wirklich nicht nötig zu beweisen, dass das Christentum eine Mysterienreligion ist, denn es gibt sich als eine solche. Nichts ist so evident wie das).

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vgl. Eph. 1: 10. Dass das Weltall in Christus existiert, beruht auf stoischen Vorstellungen; die Welt wird von einer rationalen Kraft, der Weltseele, zusammengehalten (vgl. Hebr. 1:4; Joh. l : 3 f.). Somit hat Christus doch gewiss eine kosmische Funktionl. Schon die jüdische Eschatologie hatte kosmische Elemente aus iranischen und babylonischen Vorstellungen übernommen, auch die Gnosis stand unter deren Einfluss. Und, wie ich wiederholt nachgewiesen habe, das älteste Christentum hat seine Wurzeln in der Gnosis. In der Gnosis hat Christus nicht nur soteriologische, sondern auch kosmologische Bedeutung. Das Kosmologische ist da sogar das Primäre, und so dürfte es auch im frühesten Christentum gewesen sein. Zu Rom hat man dann diese Seite absichtlich verdunkelt. Dennoch schimmert sie überall durch: Die Frühchristen vorrömischer Art empfinden kosmisch, besser gesagt antikosmisch, insofern der Kosmos dem Schöpfer, dem Fürsten dieser Welt, dem Demiurgen unterworfen ist (Joh. 12:31; 14: 30; 16: 11; 2 Kor. 4 : 4), dem Gott dieser Welt, dem Anführer der Macht der Luft (Eph. 2:2). Ignatius (Eph. 19:1) spricht vom Fürsten dieses Äons. Eine Welt von Planetengeister wird vorausgesetzt in Texten wie Röm. 8 : 38 f.; 1 Kor. 15 : 24 und 26; Eph. 1 : 21; 3 :10; 6:12; Kol. 1: 16; 2 : 10; 1 Petr. 3 : 22. Von den Elementen dieser Welt ist die Rede in Gal. 4 : 3, 9; Kol. 2 : 8, 20. Sie herrschen über den Lauf und die Einteilung der Zeiten, Gal. 4 : 10. Die Schöpfung ist gefallen (Röm. 8 : 20 ff.) und der Erlöser ist eine kosmische Gestalt, ein präexistenter Gott, der Sohn des Vaters (Phil. 2 : 6—11; 2 Kor. 8 : 9). Die feindlichen Geister werden besiegt durch Christi Abstieg zur Erde und seine anschließende Himmelfahrt (Eph. 4 : 8—11, vgl. Kol. 2 : 15; 1 Pe. 3 : 22). Dann huldigt ihn der gesamte Kosmos (Phil. 2 : 10 f.), weil durch ihn das Weltall versöhnt worden ist (Kol. 1 : 20). Auch im Hebräerbrief und bei Ignatius gibt es Belegstellen (Hebr. 1–2; Ign. Eph. 19). Der Sieg Christi bedeutet für die Gläubigen Befreiung von den dämonischen Weltherrschern.

1 Vgl. Rudolph Bultmann, a.a.O., S. 131. 21

Die Offenbarung des Johannes, in ihrer gegenwärtigen Form eine relativ jung Schrift, verrät einen gnostischen Hintergrund im antik-christlichen Sinne, wenn Christus auf Gottes Thron sitzt als blutiges Lamm, das vor Anbeginn der Welt geschlachtet wurde nach Art der sterbenden und wiederauflebenden Mysteriengötter (13:8); insbesondere die Vorstellung des die Welt erschaffenden sterbenden Mithras drängt sich dabei auf. Noch bei Justin wird Gottes Sohn im Weltall gekreuzigt und Irenäus sieht den irdischen Jesus am Kreuz als sichtbare, leibliche, Erscheinung des Gottessohnes, des himmlischen Menschen, der, indem er sich in die Materie hineinstürzt, Anfang und Ursache der Schöpfung wird. Für den altmodischen Christen, der die Johannesoffenbarung schrieb, spielt sich die Heilsgeschichte noch am Firmament ab und er weiß nichts von der Historisierung des Mythos, wie diese in den kanonischen Evangelien dargeboten wird 1. Im oben erwähnten Gedankenaustausch wurde versucht, die Frage nach der Historizität der Evangelienerzählung ins Spiel zu bringen. Für mich stand die nicht auf der Tagesordnung, ich habe mich aber m.E. früher und später ausreichend und gut dokumentiert darüber ausgelassen. Nachdem die Veranstaltung beendet war, habe ich mich noch privat mit einem römisch-katholischen Geistlichen unterhalten und ihm gesagt, die Historizität des auf Erden wandelnden Sohn Gottes sei ein Thema, das außerhalb des Feldes liege, auf dem ein Historiker sich bewege, es gehöre zu dem des Dogmatikers; die Kirche könne genauso gut, wie sie in späterer Zeit die Unbefleckte Empfängnis Mariens und die Unfehlbarkeit des Papstes dekretierte, kraft ihres Wesens auch die Historizität des Gottessohnes feststellen, was sie im Kanon ja in der Tat getan habe; mit Geschichte habe das rein gar nichts zu tun.

1 Vgl. mein: „De Oudste Christelijke Geschriften“. ’s-Gravenhage, 1946, S. 207 f..

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