Die radikale Kritik in Bedrängnis?

G.A. van den Bergh van Eysinga

lhr sagt, das mutet mich nicht an, Und meint, damit seis abgetan. Ich bin euch sämmtlichen zur Last, Einigen auch sogar verhasst; Das hat aber gar nichts zu sagen…. (Goethe-Werke, ed. Düntzer, I 362, 388)

Die sogenannte Radikalkritik wurde jahrzehntelang totgeschwiegen, dann als hoffnungslos veraltet bezeichnet, und jetzt soll ihr der unlängst entdeckte Codex Jung den Todesstoß versetzt haben. Weiland Brede Kristensen schrieb über das Leben aus dem Tode. Das ist eine tröstliche Vorstellung zu einem Zeitpunkt, da mit mir, als ihrem letzten Vertreter, hier zu Lande mein Lebenswerk, die Kritik, angeblich auf dem Sterbebett in den letzten Zügen liegt, nach dem Schlag, der ihr kürzlich versetzt wurde. Dass aber dieser Schlag, trotz aller ihn begleitenden Pauken und Trompeten, statt zu treffen ins Leere gegangen ist, hoffe ich in diesem Aufsatz plausibel darstellen zu können. Auf den Codex Jung und das darin vermutete Evangelium der Wahrheit werde ich dabei nicht näher eingehen, aus dem einfachen Grunde, dass er noch nicht veröffentlicht wurde.

Auf jeden Fall hat das ungewöhnliche Aufhebens, das die Presse von diesen Fund gemacht hat, das Interesse derjenigen geweckt, die dann doch etwas mehr über jene gottlose Radikalkritik wissen möchten. Ich wurde zu öffentlichen Vorträgen zum Thema eingeladen, — so etwas war mir noch nie passiert! — in Tageszeitungen und Zeitschriften erschienen Artikel mit Reaktionen zu meiner Stellungnahme in (Godsdienstwetenschappelijke) Studiën XIV, von allen Seiten bekam ich Briefe. Sollte das mir nicht zeigen, dass die hoffnungslos überholte und fast Totgeglaubte plötzlich bis zu einem gewissen Grade attraktiv geworden ist? Das war gewiss nicht die Absicht von Professor Quispel!  Kristensen hat Recht, auch in diesem Fall: Der Tod erzeugt Leben.

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Im vergangenen Sommer fragte mich in Frankreich ein neutestamentlicher Kollege ohne viel Umschweife, ob ich nicht der einzig übriggebliebene Vertreter der Niederländischen Radikalen Schule sei. Ich musste ihm das wohl bestätigen. Der orthodoxe Kollege fühlte sich durch meine Antwort ersichtlich erleichtert: Radikalkritik ist für Bibelgläubige ein Stein des Anstoßes, der so schnell wie möglich aus dem Weg geräumt werden sollte. Ich hätte zwar auf etwa fünfzig meiner ehemaligen Studenten hinweisen können, die sich in einer nach mir benannten Studiengruppe zusammengefunden haben; ein paar Mal im Jahr treffen wir uns im gastlichen Gebäude der Vrije Gemeente in Amsterdam; zusammen studieren wir die Werke der großen Meister der Niederländischen Radikalen Kritik und versuchen diese fortzuführen unter Verwendung des Materials aus unserer Zeit. Ich habe meinem Kollegen dann doch nicht darauf hingewiesen, da zu diesem der Sache dienenden Kreis nur wenige gehören, die ihre Stimme öffentlich erheben. Bolland sprach im vergleichbaren Fall von seinen „stummen Aposteln”, denen er, genau wie ich den meinigen, sich zu großem Dank verpflichtet fühlte.

Die Bezeichnung Radikalkritik sagt als solche zum rechten Verständnis der Sache genauso wenig aus wie die Bezeichnungen Geusen und Quäker, die ihre Entstehung einem Scherz oder aber einer feindlichen Einstellung zu verdanken scheinen. Radikalkritik wird dann eben als Hyperkritik, als maplose, zu weit gehende Kritik betrachtet. Eigentlich ist Hyperkritik ein unsinniges Wort, womit man glaubt, den Gegner erledigen zu können, wenn man es mit Argumenten nicht schafft. Schon bevor es die Radikalkritik hier zu Lande gab, hat Opzoomer darauf hingewiesen, dass der Begriff Hyperkritik unsinnig sei. „Weder unser Einsatz noch unser Talent, das Echte vom Unechten, das Brauchbare vom Unbrauchbaren zu trennen, kann je zu groß sein…. Was man …. (Hyperkritik) nennt, ist niemals zuviel, sondern immer zu wenig Kritik, nie ein zu starkes, sondern immer ein zu schwaches Urteil. Wer zu falschen oder unsinnigen Ergebnissen kommt, hat nicht zu viele Schlussfolgerungen gezogen, sondern schlecht argumentiert. Es liegt nicht an der Sache, die er beurteilt, es liegt ausschließlich an ihm selbst. Das Thema steht nicht über der Kritik; nur er selbst ist unter dem Maßstab der Kritik geblieben“1.

1 C. W. Opzoomer, „De vrije wetenschap“. Amst. 1869, S. 14 f.. 4

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Radikalkritik ist im Bereich der Entstehungsgeschichte des Christentums keine andere Kritik als diejenige, die der Wissenschaftler in jedem anderen Bereich auch verwendet. Sie ist die Einstellung desjenigen, der ohne jegliches dogmatisches Vorurteil sein Material prüft. Beim Studium des Mithras-  oder des Dionysoskultes ist das Apriori des Glaubens keine Voraussetzung sondern ganz im Gegenteil ein Hindernis. Genau so wenig darf der moderne Forscher sich ein „gläubiges“ Apriori aufzwingen lassen, wenn er den Ursprüngen des Christentums nachspürt.

Es gibt ein berühmtes Lehrbuch zur Einführung der Studenten in das Neue Testament; es wurde von Paul Feine 1 geschrieben und erreichte schon seine zehnte Auflage. Nun betrachtet Feine dieses N. T. nicht als eine Sammlung frühchristlicher Texte, die anhand  der philologisch-kritischen Methode zu untersuchen wären, sondern er sieht — mit der Christlichen Kirche — in diesem N. T. eine ganz und gar einzigartige Schrift, die Urkunde der endgültigen Offenbarung Gottes in Jesus Christus. Für einen Religionswissenschaftler eher humanistischer Prägung sind das schon recht seltsame Töne. Zu den Radikalen, namentlich zu Bruno Bauer, Steck und mir sagt Feine, wir würden von geschichtsphilosophischen Voraussetzungen ausgehen, über die nicht zu diskutieren sei. So entledigt er sich in bequemer Weise der Diskussion. Ich kann antworten: „Sie gehen von offenbarungsgläubigen Voraussetzungen aus, was mich jedoch nie daran gehindert hat, Ihre Richtung mit wissenschaftlichen Argumenten zu bekämpfen, nachprüfbar in den zahlreichen Buchbesprechungen, die ich in den vergangenen vierzig Jahren Ihrer Richtung gewidmet habe.“

Von Außenstehenden wird Radikalkritik gewöhnlich gleichgesetzt mit der Leugnung der Historizität Jesus. Was wäre das für eine rein negative und fast inhaltsleere Art von Wissenschaft! Die Radikalkritik hat immer und überall weitaus mehr beabsichtigt; sie hat den Versuch unternommen, rein wissenschaftlich und ohne dogmatische Vorurteile eine Geschichte der Entstehung des Christentums zu liefern. Sie ging dabei von den zum Thema vorhandenen Schriften des Frühchristentums aus; zuerst von den Büchern des Neuen Testamentes,

1 „Einleitung in das Neue Testament“, Leipzig, 1936, S. 9, 141.

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trennte diese aber nicht von andern, nicht in den römisch-katholischen Kanon aufgenommenen Texten. Bei ihr ist deshalb auch nicht die Rede von neutestamentlicher, sondern von frühchristlicher Literatur. „Neues Testament“ ist ein kirchlicher, „frühchristliches“ ein wissenschaftlicher Begriff. Wir müssen das Neue Testament in der gleichen kritischen Weise untersuchen, wie wir es mit den Werken Platos oder Senecas tun. Da ist kein Platz für Vorurteile aus dem Glauben heraus, allerdings sollte der Forscher sehr wohl in der Lage sein, sich in den Geist seines Objektes einzudenken. Kann denn aber ein Kulturmensch unserer modernen Zeit sich nicht in die verschiedensten Empfindungs- und Gedankenwelten einleben? Er kann sowohl die primitive Malerei wie auch Leonardo, Rembrandt sowohl wie die Haagsche Schule verstehen. Gleichermaßen bleibt ihm die Götterwelt des Homer nicht unverständlich,  so wenig wie der Islam, der Animismus, der Totemismus oder das Wiedertäufertum. Der römisch-katholische Gelehrte Bielek, der geschrieben hatte, das Wesen des Katholizismus könne sinnvoll nur vom gläubigen Katholiken erforscht werden, bekam zu Recht von Friedrich Pfister die Antwort: „Dann können aber Sie keine  nicht-katholischen verstehen. Beim Versuch, zum Wesentlichen einer anderen Religion vorzudringen, stehen gerade dem dogmatisch Festgelegten viel größere Probleme im Wege als dem nicht ,gläubigen’ Forscher.“

Im Verständnis des Religionshistorikers wandelt Gott oder der Sohn Gottes nicht als historische Person auf der Erde umher; das ist für ihn ein Glaubenssatz, in dem sich eine tiefsinnige Wahrheit verbirgt, ein Faktum in der Geschichte Palästinas zu Beginn unserer Zeitrechnung kann das für ihn aber nicht sein.

Unser J. van Loon hat die impertinente Frage gestellt: „Welchen Charakter hat die Geschichte der Evangelien? Enthalten die Evangelien die Biographie eines Rabbis oder Propheten, eines religiösen Genies?“ Die Antwort der Radikalkritik wie die der Orthodoxie so vieler Jahrhunderte lautet gleichermaßen: Nein! Ganz und gar zu Unrecht wird dann auch den Radikalen vorgeworfen, sie würden die Tradition nicht würdigen. Wenn irgendetwas auf der Welt die Bezeichnung traditionell verdient, dann gerade doch die Vorstellung des göttlichen, des himmlischen Christus. Wir folgen hier der  orthodoxen Linie, ohne selbst deshalb orthodox zu sein. Wir verstehen die Historisiering des religiösen Mythos im Kontext der Geschichte des zweiten Jahrhunderts,

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haben aber die Einsicht gewonnen, dass die ursprüngliche Evangeliumserzählung nichts anderes als die irdische Erscheinung eines göttlichen Wesens im Sinne hatte. Der Jesus der modernen Theologie — genau  der ist eine Neuerung, die mit der Tradition von über achtzehn Jahrhunderten bricht; das ist Hypothese, — und darüber hinaus eine unbegründete Hypothese —, dass der Mythos, in dem die frühesten Christen ihr Ideal und ihre Weisheit zum Ausdruck gebracht haben, an Hand einer nüchtern-rationalen Abziehmethode letztlich zuverlässige Ergebnisse liefern werde über eine historische Person am Beginn unserer Zeitrechnung. In rationalistischer Manier zieht man von den Evangelien alles ab, was wunderlich, anstößig oder widersprüchlich ist, und glaubt dann, dass das übriggebliebene Ereignishafte sich auch wirklich ereignet hat.

Mein Interesse an den Ursprüngen des Christentums ist bereits mehr als ein halbes Jahrhundert alt. Die Anliegen aber, um die es dabei geht, sind für mich nur von historischer Bedeutung; meine eigene Lebens- und Weltanschauung ist davon nicht betroffen. Genauso wenig wie bei der Lektüre der heiligen Schriften des Ostens oder der Werke Philos van Alexandria, gehe ich davon aus, dass meine Sicht der Wirklichkeit und mein Verständnis von Wahrheit dem entsprechen. Ich lasse einfach nur die Texte selbst reden und brauche nicht selbst Partei zu sein in den Problemstellungen jener alten Zeiten, weil die Probleme meiner eigenen Zeit ganz andere sind.

In 1878 begann die Radikalkritik hier zu Lande mit Allard Piersons De Bergrede en andere Synoptische fragmenten. An anderer Stelle habe ich aufgezeigt, dass dies eine selbständige Arbeit Piersons war und dass er die Werke seines deutschen Vorläufers Bruno Bauer (1809—’82) nicht kannte1. Zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts war dieser zum Ergebnis gekommen, dass keine einzige der Schriften des N. T. von dem Apostel oder dem Apostelschüler verfasst wurde, dem die Kirchentradition sie zuschreibt. Pierson richtete sich gegen diejenigen, die von der Unechtheit des johanneischen Jesusbildes auf die Echtheit des synoptischen schließen wollten, genau so, wie Bruno Bauer das getan hatte. Hat man zwei verschiedene und untereinander nicht in Übereinstimmung zu bringende Berichte, dann darf man, so meint er, den einen nicht als glaubwürdig ansehen,

1 „Allard Pierson Herdenking op 23 Mei 1946″. Uitgave van de Allard Pierson Stichting No. 21. Groningen-Batavia, S. 17 ff..

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wenn die Glaubwürdigkeit des anderen von der Kritik widerlegt wurde; auch jener eine muss mit dem gleichen scharfen Auge untersucht werden1. Pierson brachte Loman, der ihn zunächst bekämpft hatte, zum Zweifeln. Van Manen wurde von Loman in die gleiche Richtung getrieben. Loman und Van Manen hielten beide Bruno Bauer für seine Leistung in Ehren und wollten von ihm lernen, verbesserten aber auch in manchen Punkten dessen Werk. Auch Rudolf Steck in Bern kam unabhängig von den andern über den langen Weg der internen Kritik zu einem ähnlichen Befund, als er den Brief des Paulus an die Galater, der als das Echteste vom Echten betrachtet wurde, als Produkt des zweiten Jahrhunderts erkennen ließ. Somit ist diese Richtung zu verschiedenen Zeiten und an mehreren Orten durch die natürliche Entwicklung einer unvoreingenommenen Kritik hervorgetreten und in keiner Weise kann sie als die törichte Idee eines alleinstehenden Skeptikers abgetan werden 2. Damals zweifelte Pierson noch nicht daran, dass es in der Zukunft zu einer kohärenten Vorstellung vom Leben Jesu kommen könnte; 1878 leugnete er dessen historische Existenz noch nicht, war aber der Meinung, dass diese Existenz für die Entstehung des Christentums keine große Bedeutung gehabt habe3. Die Vorstellung in den Evangelien eines Halbgott-Jesus nennt er älter als diejenige der Tradition, die ihn als Lehrer darstellt4. Vom Anfang an war Pierson ein Verfechter des wissenschaftlichen Umgangs mit dem N. T. Von ihm stammt der köstliche Satz: „unvoreingenommen heißt nicht ohne Vor-Urteile, der Geist als Tabula rasa, das wäre der Tod jeglicher Wissenschaft. Nein, unvoreingenommen zu sein, ist einfach die Einstellung, nicht schon von vornherein  als gesichert zu setzen, was noch erforscht werden muss“5. Für seine Weltanschauung und sein Glaubensleben brauchte Pierson den historischen Jesus nicht, auf den sowohl seine rechtgläubigen wie auch seine liberalen Zeitgenossen – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen – nicht verzichten konnten. 1926 schrieb Arthur Drews: „die Tage des Holländischen Radikalismus sind gezählt’6. Aber, so sage ich, eigentlich hat er

1 a.a.O., S. 19. 2 S. 21. 3 S. 23. 4 S. 25. 5 A. Pierson, „De Oorsprong der Moderne Richting“. Haarlem 1862. Vgl. meine oben genannte „Herdenkingsrede“, S. 30. 6 „Die Leugnung der Geschichtlichkeit Jesu in Vergangenheit und Gegenwart.“ Karlsruhe 1926, S. 71.

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seine wenigen Tage bei uns nur rein zufällig gehabt. Allard Pierson war in den Niederlanden niemals Dozent der Theologie; A. D. Loman und W. C. van Manen hatten schon einen Lehrstuhl, bevor sie durch die Werke Piersons, Rudolf Stecks und Bruno Bauers die Richtigkeit dieser Kritik erkannten. Abberufen konnte man sie nicht, wären sie aber nicht schon im Amt gewesen, so hätten sie es gewiss nie bekommen. Seitdem hat es zuviele Fälle ungerechtfertigter Nichtberücksichtigung eines radikalen Kritikers gegeben, die Prof. Qujspels Darstellung vom Stand der Dinge in einem ganz besonderen Licht erscheinen lassen. Dieser behauptet ja, der Codex Jung werde gerade noch rechtzeitig verhindern, dass die freie Forschung durch die Radikalen abgeschafft wird. Das lese ich in der Zeitschrift De Hervormde Kirche. Weiter schreibt dort Prof. Quispel: „Ich bin noch nie einem Fachmann begegnet, der diese Theorie ernst genommen hätte“. Ich fordere ihn auf, Namen derjenigen zu nennen, die in Sachen der Radikalen Kritik wirklich als Männer vom Fach bezeichnet werden können. Wenn ich sage, mein ehemaliger Schüler Dr. G. Hartdorff, der meine Kritik zum Thema seiner Dissertation wählte, sei bezüglich dieser Kritik fachkundiger als Prof. Quispel, fürchte ich, Hartdorff werde dazu bemerken: „Mit wem vergleichen Sie mich da? Ich habe schließlich Ihr komplettes Werk studiert mit dem Befund, dass Sie die unverdächtig moderne Erforschung der Evangelien fortsetzen und dass Sie die Prinzipien des Modernismus, namentliich den Anti-Supranaturalismus und den Idealismus ernst genommen haben. Deshalb ist Ihr Standpunkt legitim modern freisinnig. Meines Erachtens könnte man Sie als das Gewissen der freisinnigen Theologie bezeichnen; als Historicus haben Sie aufgezeigt, dass die liberale Abziehmethode unhaltbar ist. Meiner Meinung nach haben Sie das in den Diskussionen mit H. Windisch und G. Sevenster überzeugend aufgezeigt“ 2. Derselbe ehemalige Schüler, Dr. Hartdorff 3, sagt aber klipp und klar, dass er an die Historizität Jesu glaubt und zwar aufgrund der Offenbarung Gottes und er fügt hinzu, er sei sich apriori sicher gewesen, dass Jesus gelebt habe und der von Gott gesandte Retter und Heiland sei.

1 „Historie of Historisering“. Amst. 1950, S. 191.  2 225 f..  3  „De historiciteit van Jesus“. Amst. 1952, S. 97.

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Das ist ein ehrliches Bekenntnis, aus dem hervorgeht, dass eher religiöse Bedürfnisse im Spiel sind als wissenschaftliches Interesse. So offen finde ich es bis jetzt bei Prof. Quispel nicht ausgesprochen, dass die Fleischwerdung des Wortes, die als Mensch auf Erden wandelnde zweite Person der göttlichen Dreieinigkeit, Glaubenssatz ist. In einem solchen Gedankenkontext muss die Wissenschaft dann dazu dienen, eine schon im Voraus feststehende Glaubensüberzeugung zu beweisen.

Zwei weitere meiner ehemaligen Studenten haben dem Kollegen Quispel bereits geantwortet: Prof. Dr. C. W. Mönnich im Groene Amsterdammer vom 19. und Drs. J. van Rossum in Zwingli vom 22. Dezember des vergangenen Jahres. Der erstgenannte schrieb durchdacht, jedoch satirisch-scharf, der zweite rein sachlich bescheiden. Für Mönnich kommt der Auftritt Quispels einer puren Stimmungsmache verdächtig nahe; er nannte ihn sogar demagogisch; es verursache ihm großes Unbehagen, zu sehen, wie ein respektabler Gelehrter durch sinnlose Verdächtigungen sich selbst lächerlich macht, die Theologie diskreditiert und ein leichtgläubiges Publikum verwirrt. Mönnich bezeichnet Quispels Darstellung von den Ansichten der Radikalen Schule nicht nur als unvollständig, sondern auch als direkt falsch. Seiner Meinung nach zeigt Quispel einen erschreckenden Mangel an Kenntnis der Theologie und Kultur des vorigen Jahrhunderts.

Van Rossum in Zwingli kann nicht erkennen, wie die Entdeckung des Codex Jung der Radikalen Schule, die die Gnosis als eine der ältesten Formen des Christentums betrachtet, nunmehr definitiv den Todesstoß versetzt haben soll. „Dass die Gnosis älter ist als das Christentum, scheint Prof. Quispel für eine neu aufgekommene Idee zu halten; tatsächlich wurde das in den Arbeiten Van den Bergh van Eysingas schon immer behauptet“. Zum Hinweis Prof. Quispels auf die Vorstellung des himmlischen Adams in der jüdischen Gnostik – eine symbolischen Figur, die die ganze Schöpfung in sich einschloss, der vollkommene Mensch – sagt Van Rossum sehr richtig: „Wenn wir nun diesen himmlischen Adam im N. T. wiederfinden (1 Kor. 15 : 45—47), dann ist dessen Ursprung nicht in der angeblich historischen Figur des Jesus von Nazareth zu suchen, sondern im himmlischen Adam der Gnosis. Worin unterscheidet sich das aber von dem, was die Radikalkritik schon immer gesagt hat?…. Wenn Johannes sein Evangelium um 140 u.Z. geschrieben hat und Valentinus

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das seinige um 150, dann ist es, meine ich, durchaus möglich und fast selbstverständlich, dass Valentinus das Johannesevangelium und auch die andern Evangelien kannte, so wie offensichtlich auch der Evangelist Johannes die Evangelisten vor ihm kannte. Welches fatale Element dies für die Auffassungen der ,Radikalen Schule‘ ergibt, können wir noch nicht erkennen. Der neue Fund beweist m.E. nur, dass um die Mitte des zweiten Jahrhunderts der Prozess der Evangelienentstehung noch nicht beendet war und die Gnosis – Prof. Quispel zufolge älter als das Christentum – noch so springlebendig war, dass sie ein neues Evangelium hervorbringen konnte!“ Ds van Rossum schließt seinen exzellenten Artikel mit den treffenden Worten: „Ein kirchlicher Kanon ist kein wissenschaftlicher Maßstab. Diesen Grundsatz der ,Radikalen Schule’ kann kein Fund weg argumentieren“.

Weder Bultmann noch ich selbst haben je geleugnet, dass die altjüdischen Adam-Spekulationen aus einer älteren gnostischen Tradition entliehen worden waren. Deutlich zeigt davon die Logoslehre bei Philo bereits im vorchristlichen Alexandria die Kennzeichen, und Philo selbst setzt die Existenz einer ihm viel zu weit gehenden Gnostik in seiner Umgebung voraus (siehe G. S. VIII, S. 36-53). Der jüdisch-vorderasiatische Okkultismus, dem Prof. Quispel den Ursprung der Adamspekulationen zuschreibt, hatte in der Zeit des Hellenismus selbstverständlich die Gelegenheit, nach Alexandria hinüberzuwehen. Die Ansicht der Holländischen Radikalen Kritik, dass den kanonischen Evangelien ein gnostisches Evangelium ohne jeglichen historischen Charakter zugrunde liegt, stützt sich auf die Paulusbriefe und das Zeugnis des Ignatius. Puech und Quispel datieren letzteres auf das Jahr 115, dagegen setzt der champion passionné der Radikalen Kritik — wie man mich zu nennen beliebt1 — den Autor der Ignatiana auf ± 170 an. Ignatius schreibt an die Philadelphier (9 :2), das Besondere des Evangeliums sei: das Kommen unseres Herrn Jesus Christus, sein Leiden und Auferstehung (vgl. 8 : 2). Es ist ein Missverständnis meiner Gegner, dass mir, wenn ich von einem ursprünglich gnostischen Evangelium spreche, so etwas wie ein Evangelium der großen gnostischen Schulen des zweiten Jahrhunderts vorschweben würde.

1 In „Vigiliae Christianae“ 1954, vol. VIII 1-2, S. 26.

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Das jetzt aufgefundene Manuskript scheint aus der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts zu stammen. Prof. Quispel nimmt jedoch die Entstehung im Jahre 150 an, ja sogar zu einem noch früheren Zeitpunkt, und er findet darin Zitate aus den vier Evangelien, den Paulusbriefen und der Offenbarung des Johannes. Die Radikalkritik hat nichts gegen eine so frühe Datierung neutestamentlicher Texte einzuwenden, wenn dabei nicht vergessen wird, dass der Prozess der Kanonbildung damals noch im Gange war. Besaß nicht Marcion schon vor der Großkirche einen Kanon heiliger Schriften? Harnack zufolge zwang dadurch der Häretiker die Kirche dazu, ebenfalls einen Kanon zusammen zu stellen. Marcion hatte zwar das Johannesevangelium nicht, es ist aber klar nachgewiesen worden, u.a. von Windisch, dass nicht nur die Synoptiker ihm zugrunde liegen, sondern als weitere Quelle auch ein gnostischer Text; auch Bultmann vertritt überzeugend diese Ansicht.

Die uns in den Vigiliae Christianae, vol. VIII, 1—2, S. 33 ff. vorgelegten Beispiele, die beweisen sollen, dass das Evangelium der Wahrheit das kanonische N. T. kennt, können kaum überzeugen. Wo es im valentinianischen Text heißt: „Das Evangelium, das verborgene Mysterium, Jesus Christus. Durch dieses hat er die erleuchtet, die in Finsternis waren durch das Vergessen“, sehen Puech und Quispel eine Kombination paulinischer (Kol. 1: 26; Eph. 3 : 9; 5 : 14; 6 : 19) und johanneischer (Ev. v. Joh. 1: 5 en 9) Anklänge. Nun sind in der Tat das verborgene Geheimnis, das jetzt den Heiligen offenbart worden ist, (Kol. 1: 26, vgl. Eph. 3 :9; 6 : 19) sowie die Aufforderung an den Schlafenden, aufzuwachen und von den Toten aufzustehen, damit Christus ihm aufleuchte (Eph. 5 :14), verwandte Gedankengänge. Dies aber nicht so, dass man Abhängigkeit von ihnen annehmen müsste; die beiden Gedankenreihen wurzeln in einem gemeinsamen Boden: in der vorchristlichen Mysterienweisheit. Das zweischneidige Schwert von Hebr. 4: 12 (Puech-Quispel S. 36, Anm. 74) hat seine Parallele schon bei Philo, und beide Stellen beruhen auf einer gemeinsamen Tradition, die ihren Ursprung hat in der Lehre vom eschatologischen Schwert Gottes (Jes. 27 :1; 34 : 5, Ezech. 21: 3). Das Gleiche gilt für Offenb. 2 : 12 1.

Von den Parallelen zwischen dem Evan-

1 Ernst Käsemann, „Das wandernde Gottesvolk“, Göttingen 1938, S. 5. 12

gelium der Wahrheit und unserm Kanon bleiben also nur noch Mt. 12 :11 f.; 18 :10 : 14, vgl. Lk. 15 :3-7 (S. 38). Das sind Texte, die gewiss vor 150 bekannt waren; schon Markions Evangelium kannte das Gleichnis vom verlorenen Schaf.

Kollege Quispel erwähnte im Verlauf der Diskussion die Atheisten und benannte einige davon in den Zeitungen namentlich. Eine solche Qualifizierung ist m. E. irreführend. Das Niveau der Religionsbeurteilung vieler Zeitungsleser ist nach wie vor nicht höher als das von Fräulein Laps in Multatulis klassischem Woutertje Pieterse. Ist es nicht einfach eine lächerliche Vorstellung, dass die Vertreter radikaler Ideen Frevler gegen das Heilige wären, Bösewichte, denen es ein teuflisches Vergnügen bereite, sich am Göttlichen zu vergreifen? Eine solche Beurteilung kann nur aus dem dogmatischen Gehirn oder dem intoleranten Herzen eines Ketzerjägers hervorgehen. Nach Art eines laienhaft beschränkten Sprachgebrauchs werden die Begriffe atheistisch und gottlos gleichgesetzt! So etwas hätte man einem heutigen Hochschuldozenten kaum zugetraut. H. Hackmann, mein verstorbener Vorgänger auf dem Lehrstuhl für Religionsgeschichte an der Universität von Amsterdam, hat in einem Aufsatz aufgezeigt, dass man auch ohne den Glauben an einen Gott religiös sein kann; der Hinayana-Budhismus des Südens ist dafür ein gutes Beispiel. In der Verwendung als wissenschaftlicher Terminus technicus anstatt als Schimpfwort bedeutet Atheismus die Verneinung des Theismus; in diesem Sinne will ich mich in Gesellschaft mit dem frommen Spinoza, mit Lessing, Goethe und Hegel gerne als Atheisten bezeichnen lassen. Sie konnten nicht mehr glauben an den lieben Herrgott, der über den Wolken die Strippen zieht. Nun ja, daran glaubt die heutige Niederländische Reformierte Kirche auch nicht mehr, nachdem sie sich aufs Neue zur göttlichen Dreieinigkeit bekennt; man muss doch wohl davon ausgehen, dass es der Kirche mit ihrem Bekenntnis ernst ist und dieses Bekenntnis mehr ist als eine Kirchenpolitik, von der sie annimmt, sie könne damit den Confessioneelen [Anm. des Übersetzers: eine Abspaltung konservativ-orthodoxer Calvinisten] den Wind aus den Segeln nehmen.

Aber lassen wir das. Prof. Quispel teilte mir in einem privaten Schreiben mit, er habe mit seinem Eintreten gegen die Radikalkritik beabsichtigt: „die Bekämpfer des Christentums lächerlich zu machen“. Das aber wirft ein eigenartiges Licht auf seine wissenschaftliche Einstellung. Beim wissenschaftlichen Forschen sind Nebenabsichten gefährlich. Ein sauberes wissenschaftliches

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Vorgehen verlangt ausschließlich wissenschaftliche Absichten: die für sich selbst sprechen lassen, sorgfältig übersetzen und umsichtig erklären, ihren Ort in der Literatur feststellen, mit größter Vorsicht aus Form und Inhalt Schlussfolgerungen ziehen, um sie so als Baumaterialien für die Geschichte der alten Zivilisation zu verwenden. Geht es um religiöse Texte, so muss man sich selbstverständlich in religiöse Phänomene einfühlen können; zum Glück braucht man dazu kein Anhänger der jeweiligen Form von Religion zu sein. Der Religionsgeschichtler käme nicht weit, wenn er zur Ausübung seiner Wissenschaft gleichzeitig dem römisch-katholischen und dem lutherischen Christentum, dem Islam und der Altägyptischen Religion, dem Buddhismus und dem Parsismus anhängen müsste. Darüber habe ich mich weiter oben schon ausgelassen – und im Verlauf der Jahre immer wieder. Das kann m.E. aber nicht oft genug gesagt werden, da dieses Geschlecht anscheinend taub und schwer von Begriff ist. Man glaubt sich mit dem Kompass eines supranaturalistischen Glaubens im sicheren Fahrwasser und versucht dann, diesen Glauben rationalistisch für sich selbst und für andere akzeptabel zu machen. Unsere geistig ermattete Zeit wird sich kaum noch vertiefen in den kritischen Untersuchungen des vorigen Jahrhunderts, die mühelos als „hoffnungslos veraltet“ eingestuft werden können, da sie keiner mehr kennt, seitdem sie in den Vorlesungen der Hochschulen nur noch in Ausnahmefällen angesprochen werden.

Das jetzt aufgefundene Evangelium bezeichnet sich selbst als: „Freude für diejenigen, welche die Gnade empfangen haben vom Vater der Wahrheit, ihn zu erkennen durch die Kraft des Logos, welcher gekommen ist aus dem Pleroma (= die Fülle Gottes, die himmlische Lichtwelt), welcher ist in der Ennoia (dem Denken) und dem Nous (dem Geist) des Vaters, welcher der ist, den man nennt Soter (Retter, Erlöser), weil er der Angelos (Gesandter) ist, dazu bestimmt, zu kommen zur Erlösung von denen, welche den Vater nicht kannten“.1 Das sind rein gnostische Vorstellungen, die aber dem N. T. ganz und gar nicht fremd sind. Zu diesem Thema habe ich soviel publiziert 2, dass ich mich hier kurz halten kann. Für Paulus ist Christus etwas anderes als der jüdische Messias: Er ist der Sohn Gottes, der himmlische Mensch (1 Kor. 15 :45—49), älter als alles Geschaffene; er gibt seine gött-

1 „Vigiliae Christianae“. VIII, 1-2, S. 22. 2 Siehe zB. „De Wereld van het Nieuwe Testament“, Huis ter Heide 1929, S. 67-71; „G. S.“ X 32.

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liche Existenzweise auf und nimmt die menschliche Gestalt an (Phil. 2:6 ff.). Es ist der Gehorsam eines Himmelbewohners, der sich zu einem irdischen Leben erniedrigt, um die dunklen Mächte dieser Welt zu besiegen, schließlich auch den Tod (Römer 5 :19; 1 Kor. 15 : 26). Die an ihn glauben, werden aus der gegenwärtigen Welt erlöst (Gal. 1:4), und die Rettung des Gottes aus dem Tode verbürgt die Rettung seiner Verehrer. Das Christentum ist ein Zweig der gnostischen Bewegung, der nicht aus dem Neuen Testament  hergeleitet werden kann. Es verhält sich umgekehrt: Der Paulinismus wurzelt in der vorchristichen Gnosis, in einem jüdisch-alexandrinischen Mysterium. Diejenigen, die dieses Evangelium annehmen, kommen unter Führung des Heiligen Geistes zum Bewusstsein, dass sie Söhne Gottes sind (Röm. 8:14—16) und werden mit der Zeit als solche erkannt werden (8:19 ff.). Dieser Sohn hat den Anschein des Fleisches, in Wirklichkeit ist er aber der Geist (2 Kor. 3 : 17), der Herr der Herrlichkeit (1 Kor. 2:8; 8 : 6). Paulus  denkt nicht an die überlieferten Worte einer Person aus der Vergangenheit, einer historischen großen Persönlichkeit, es geht um Realität in der Gegenwart, eine Energiequelle, aus der Paulus selbst Tag für Tag lebendige Kraft erhält (Phil. 3: 21; Kol. 1:29). Das Kreuz ist nicht einfach nur ein Ereignis aus der Vergangenheit, sondern täglich erlebbare Realität (Gal. 3:1). Die wahre Erlösung kommt nicht durch den Tod eines religiösen Genies aus der Geschichte, sondern durch mystische Vereinigung mit dem Gott, der jeweils dadurch lebt, dass er sein Leben hingibt (Röm. 6:1-10; Gal. 5:24; 6:14). Der sterbende Christus ist das Prinzip göttlichen Lebens; dieses Leben bekommt man, wenn man dem natürlichen abstirbt. In der Kirche wird die Darstellung dieses Sterbens als ein irgendwann geschehenes, einmaliges Ereignis zum Hilfsmittel dieser Idee.

Philo lehrte, dass alles voll ist von Gott und Gott voll ist von sich selbst. Das ist das Pleroma, die Fülle. In der Gnosis werden die einzelnen Faktoren dieser Fülle Äonen genannt, ewige Wesenheiten, Kräfte, Ideen; sie entspringen dem göttlichen Logos wie Äste aus einem Baum, bleiben so im Wesen eins mit dem Vater und bewirken die Vollständigkeit seiner Größe, so wie die Finger zur Vollständigkeit einer Hand gehören (Irenäus II 17, 6); im Heiland haben sich auch alle Äonen wieder vereinigt (II 14, 5). Kol. 1:19 sagt das explizit: „denn es gefiel der ganzen Fülle, in ihm zu wohnen  und durch ihn alles mit sich zu versöhnen“. Eph. 5:14: „Wache auf, der du schläfst,

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und stehe auf von den Toten! und der Christus wird dir aufleuchten!“ ist als Tauflied erkannt worden; in einem vorausgehenden Vers (8) heißt es nämlich: „Denn einst wart ihr Finsternis, jetzt aber seid ihr Licht im Herrn ….“ Denn bei der Taufe hat man auch euch zugerufen: „Wache auf, der du schläfst“ usw. .. Der Christus, der aufleuchtet, ist kein Zimmermannssohn aus Nazareth!

Prof. Quispel sieht als Gipfel der Zweifelsucht die törichte Annahme, Sokrates habe nicht existiert; das ist zwar auch schon mal behauptet worden, so sagt er, aber mit solchen Kritikern solle man sich am besten gar nicht erst abgeben. Die Geschichte kennt aber einen weitaus humorigeren Fall angeblicher Widerlegung radikaler Kritik: Kanzler F. von Müller1 berichtet von einem Gespräch Napoleons mit Wieland, in welchem der Kaiser es diesem gegenüber in Frage stellte, ob Jesus Christus jemals gelebt habe. „Ich weiß wohl, Majestät“, gab Wieland ihm zur Antwort, „daß es einige Unsinnige gab, die daran zweifelten, aber es kommt mir ebenso töricht vor, als wollte man bezweifeln, daß Ew. Majestät leben.“ Der Kaiser soll Wieland hiernach auf die Schulter geklopft und „wohl, wohl“ gesagt haben. Er wird sich aber vermutlich, sagt Drews, der den Fall nacherzählt, seinen Teil über die wahrhaft verblüffende Erwiderung des deutschen „Philosophen“ gedacht haben. Übrigens hat Wieland mit seiner Antwort Schule gemacht bis auf den heutigen Tag2. Ich besitze ein kurioses Büchlein eines Witzboldes mit Namen J. B. Pérès, das die Ideen des genialen Dupuis in verdeckter Form angreift. Dieser hatte 1791 die Evangeliengeschichte astralmythologisch erklärt. Pérès zeigt darin auf, dass auch Napoleon nichts anderes ist als eine allegorische Figur, namentlich die personifizierte Sonne. Das war 1827. Fast ein Jahrhundert später argumentiert Eduard Meyer, der Großmeister der Geschichte des Altertums, allen Ernstes in gleicher Weise: „Wer Jesus zu einer mythischen Gestalt macht, kann auch Napoleon als mythische Verkörperung napoleonischer Ideen betrachten“. Er meint offensichtlich, sich nicht die Mühe machen zu müssen, diese Behauptung näher zu erläutern. Wie konnte der große Eduard Meyer so töricht sein, die Historizität Jesu und die Napoleons auf eine Stufe zu setzen? Außerhalb des N. T.

1 „Erinnerungen aus den Kriegsjahren von 1800—1813″, 1851. 2 „Die Leugnung der Geschichtlichkeit Jesu“, Karlsruhe 1926, S. 22. [online: www.radikalkritik.de/leugnung.htm]

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Wissen wir von Jesus nichts und als Geschichtsquelle wird man das N. T. doch gewiss nicht mit Thiers‘ Histoire du Consulat et de l´Empire gleichsetzen wollen. Für Jesus fehlen Archiveinträge, Berichte von Zeitgenossen, Monumente, Inschriften usw. usw.1.

Geht es hier schließlich  vielleicht um romantische Vorstellungen? Ich denke etwa an Renans theatralisches 2: „O Jesus, ich brauche es, dass Du gelebt hast, und gelebt im Ideal, das man uns von dir überliefert hat. Dieses Ideal, das mich zur Ekstase bringt, ach, wenn das nur ein Symbol wäre! Nein, um dich zu lieben, brauche ich es, dass Du gelebt hast, dass Du mir gleich gewesen bist mit einem fleischlichen Herzen wie dem meinigen“. Wie der orthodoxe Christ den für seine Sünde geopferten Christus nicht entbehren kann, so der aufgeklärte moderne Christ den edlen Rabbi-Profeten; es ist ihnen ein Bedürfnis des Gemüts, sich halsstarrig daran zu klammern. Brüderlich verwerfen dann beide die „hoffnungslos veraltete” Radikalkritik, von der sie meistens nicht mehr wissen, als dass sie die Existenz Jesu verneint. Schon mein Kollege De Hartog hat sich gewundert über das Entsetzen, das sich in der Welt der Theologie wegen dieser Kritik verbreitete; ihm war dieses Entsetzen der eindeutige Beweis dafür, wie wenig aus dem ewigen Christus gelebt wird. Und er schließt mit den goldenen Worten: „Auch wenn die Gestalt Jesu Christi erdichtet wäre, wäre sie keineswegs aus willkürlicher Phantasie geboren, sie wäre trotzdem als solche (nl. als Erdichtung) die Frucht göttlicher Offenbarung“3.

Die Verehrer des Osiris zweifelten nicht daran, dass dieser Sohn des Ra im Gebiet des Nildeltas gelebt hatte. Sie wussten um dessen Reisen zur Erziehung der Menschen, um die Hindernisse, die böse Mächte ihm in den Weg gelegt hatten, um gegen ihn geplanter Verrat, um sein Leiden, seinen Tod und Beerdigung und um das neue Leben, das er erwarb. Attisdiener waren genauso informiert über den kurzen, tragischen Lebenslauf dieses göttlichen Hirten. Der Mithrasverehrer Euboulos soll das Leben des Mensch gewordenen Gottes Mithras in zahlreichen Büchern beschrieben haben 4. Texte und Monumente enthalten Anspielungen auf

1  Vgl. G. S. V, S. 28-31.  2 „Cahiers de Jeunesse“, S. 399.   3 A. H. de Hartog, „Noodzakelijke aanvullingen tot Calvijn’s Institutie“, 1911, II 204 n..   4 Vgl. Fr. Cumont, „Die Mysteriën des Mithra“, 3.  Aufl.  Leipzig, Berlin 1923, S. 73.

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seine Geburt, seinen Kampf gegen den Geist des Bösen, sein letztes Abendmahl mit den seinigen, seinen Tod und seine Verherrlichung. Justin der Märtyrer bestätigt in Kapitel 66 seiner ersten Apologie die Ähnlichkeit des liturgischen Mahles bei Mithrasverehrern und Christen, wo er schreibt: „Auch diesen Brauch haben die bösen Dämonen in den Mithrasmysterien nachgeahmt und Anleitung dazu gegeben. Denn dass Brot und ein Becher Wassers bei den Weihen eines neuen Jüngers unter Hersagen bestimmter Sprüche hingesetzt werden, das wisst ihr oder könnt es erfahren“. Und so sagt es Tertullian (de praescr. 40): „… Vom Teufel, versteht sich, dessen Rolle es ja ist, die Wahrheit zu verdrehen, der sogar die Handlungen der göttlichen Sakramente in seinen Götzenmysterien nachäfft. Er tauft auch – natürlich seine Gläubigen und Getreuen; er verheißt Nachlassung der Sünden in Kraft eines Taufbades, und wenn ich noch des Mithras gedenke, so bezeichnet er dort seine Kämpfer auf der Stirn, feiert auch eine Darbringung von Brot, führt eine bildliche Vorstellung der Auferstehung vor und nimmt unter dem Schwerte einen Kranz hinweg“. Das ist offensichtlich als Symbol ewigen Lebens gemeint mit dem Kranz als Lohn der Unsterblichkeit. Jahrhundertelang bis zu Konstantin dem Großen, ja bis Theodosius, konkurrierte Mithras mit Christus. Hätte nicht Christus, sondern Mithras gesiegt, würden heute rationalistische Mithras-Gelehrte in ihm einen überlegenen Ausnahmemenschen sehen, dessen Worte und Taten ihm den Ruf des göttlichen verliehen hatten. Jetzt ist es allein Jesus, der als historische Gestalt betrachtet wird, weil von allen Mysterienkulten das Christentum als einziges übriggeblieben ist.

Regelmäßig lehnen die Bekämpfer der Radikalen Kritik als erstes die Resultate  ihrer Gegner ab; danach suchen sie dann nach Argumente, um ihre Ablehnung zu begründen. Sie haben zwar keine Antwort auf die Argumente des anderen, von seinen Schlussfolgerungen wollen sie aber nichts wissen. Im Altertum, so sagen sie, hat niemand die Historizität Jesu bezweifelt, nicht einmal Celsus, der große Gegner des Christentums, dessen Ansichten wir aus dem Buch contra Celsum des Origenes kennen. Ist es aber erlaubt, von einem Autor des

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zweiten Jahrhunderts mehr Skepsis zu erwarten als von einem des zwanzigsten? Kein Autor des Altertums bezweifelte, dass Herkules auf Erden gelebt oder Orpheus die griechischen Mysterienkulte gestiftet hatte. Vor allem darf das Christentum seinen Ursprung ja keiner gnostischen Lehre mitsamt der Verehrung eines göttlichen Wesens verdanken; man zieht es vor, es in den Halluzinationen unwissender Fischer und überspannter Frauen wurzeln zu lassen1. Zu Recht sagt aber Wellhausen: „Nie bekommt man den Eindruck, dass diejenigen, die mit Jesus zusammen gegessen und getrunken haben, es versucht haben, anderen irgendeine Vorstellung von dessen Persönlichkeit zu vermitteln“, und Bultmann: „praktisch wissen wir nichts über Leben und Charakter Jesu. Der ganze Rahmen seiner Geschichte ist redaktionelle Bearbeitung, eine ganze Reihe typischer Szenen aus dem Leben Jesu wurden offensichtlich von den Evangelisten erdichtet. Für kein einziges Jesuswort ist je der entscheidende Nachweis der Echtheit geliefert worden“2. Die Evangelien sind demselben Bultmann zufolge aus dem Christuskult und dem Christusmythos geboren; sie sind die Kultlegende der christlichen Gemeinde, die zu Missionszwecken und zur Verteidigung des Glaubens aufgezeichnet wurden. Ihre Absicht ist nicht, die Biographie eines großen Menschen zu liefern mit einer Schilderung seiner Persönlichkeit, Familie, Entwicklung, seines Äußern und Charakters. Sie wurden in religiösen Versammlungen zur Erbauung vorgelesen; sie erzählen nicht, sie predigen; sie zeichnen keine geschichtliche Gestalt sondern den Gottessohn, den Herrn. Wie wären die Anhänger eines historischen Jesus dazu gekommen, diesen Titel „Herr“, „Kyrios“, der in der heidnischen Gottesverehrung seinen Ort hatte, auf den Menschen Jesus zu übertragen, und das schon bald nach dessen Tod? Kyrios ist Titel eines Gottes, bei den Juden sogar der von Jahwe selbst. Konnten Juden einen Menschen vergöttlichen, mit dem sie zu tun gehabt hatten und dessen Kreuzigung sie erlebt hatten? Das sollte man als ein größeres Wunder betrachten als sämtliche in den Evangelien erzählten Wundergeschichten zusammengenommen. Wie hätte man unter Juden einen Zimmermannssohn aus der eigenen

1 L. Gordon Rylands, „The Christian Tradition. An Examination of objections to the opinion that Jesus was not an historical person“. London 1937, S. 3—5, 48. 2 „Die Erforschung der synoptischen Evangelien“. Giessen, 1925. S. 10, 13, 33.

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Umgebung zum Logos, zum zweiten Gott machen können? In den Evangeliengeschichten geht es um den himmlischen Christus. Die Idee des Gottmenschen-Heilands ist der Kern des Christentums. Durch die Ausarbeitung des irdisch-menschlichen Lebens Jesu bekam dieser ganz selbstverständlich einen Vorteil in Vergleich mit andern Heilandsgestalten; so hatte man ein anschauliches Bild, an dem man sich halten konnte: keine Gnosis, Theosophie oder irgendeine Art mystischen Erfahrens, sondern Fakten, den fleischlichen Heiland, der sich durch Worte und Taten als Messias gezeigt hatte. Bei Paulus finden wir ausschließlich den himmlischen Menschen, der stirbt und aufersteht. Das ist in Kurzfassung der Inhalt des ursprünglichen Evangeliums. Der himmlische Mensch wird in den später gekommenen Evangelien zu einer quasi-historischen Person, deren Geheimnis in Form eines Gleichnisses erzählt wird. S. Hoekstra hat das für das Markusevangelium akkurat aufgezeigt. Ich übernehme J. van Loons Interpretation der wohlbekannten Stelle Markus 4:11, wo Jesus zu den Jüngern sagt: „Euch ist das Geheimnis des Reiches Gottes gegeben, jenen aber, die draußen sind, wird alles in Gleichnissen zuteil“: Die äußere Form, die metaphorische Sprache, die Einkleidung der göttlichen Wahrheit, das ist für die Massen, der Sinn ist für die Jünger, die Eingeweihten; das Geheimnis ist nicht nur die Verkündigung des Gottessohnes sondern seine Offenbarung. Aus dem Munde Jesu lassen hier die Evangelien selbst durchblicken, wie man sie verstehen soll. Dieser Vers kann als Schlüssel zu ihrer Interpretation angesehen werden. Das Geschehen der Evangelienerzählung ist nur ein Geschehen in Gleichnissen. Redeten die Gnostiker Gottes Weisheit im Geheimnis (1 Kor. 2:7), so schrieben sie diese wohl auch im Geheimnis. Nach den synoptischen Evangelien, die eher den Anschein von Historizität aufweisen können, kommt mit Johannes die stärker gnostisch gefärbte Version als Zugeständnis der werdenden Großkirche an ihre geistige Mutter, die vorchristliche alexandrinische Gnosis. Noch ± 170 wird das vierte Evangelium in kirchlichen Kreisen Kleinasiens von den sogenannten Alogern verworfen. Sie schrieben den Text dem Ketzer Cerinth zu. Vorgefunden wurde er zuerst bei den Valentinianern; Valentinus‘ Schüler Herakleon gab – auch ± 170 – einen Kommentar zum vierten Evangelium heraus. Der Valentinianer Ptolemäus berichtet davon in seinem Brief an Flora. In gnostischen Kreisen war es anscheinend sehr

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beliebt. Irenäus sagt, die Valentinianer hätten ein eigenes Evangelium, das sich vom apostolischen Evangelium  der Kirche ganz und gar unterscheide: sie würden es „Evangelium der Wahrheit“ nennen, wodurch sie die anderen Evangelien als Lügen bezeichneten“. Was nun aber noch zu geklärt werden muss, ist die Frage, ob das mit Pauken und Trompeten dem Volke kundgetane Evangelium der Wahrheit tatsächlich identisch ist mit dem von Irenäus angesprochenen. Unser kanonisches viertes Evangelium ist ein katholisches Buch. Dessen Autor benutzt nicht nur in freier Weise die andern drei, sondern auch Material aus einer anderen, älteren Quelle. Obwohl es zu einem späteren Zeitpunkt als die anderen drei auftaucht, ist es dennoch altertümlicher von Charakter als jene. Als die gnostischen Systeme durch ihren Hang zum Heidentum in der Kirche immer mehr als verbotene Schmuggelware abgelehnt wurden, versuchten verwandte Geister – von der Art der späteren Clemens von Alexandrien und Origenes –, denen auch die ursprüngliche christliche Theosophie noch bewusst war, von den durch die Katholisierung bedrohten gnostischen Elementen jenes alten Evangeliums noch einiges für die Großkirche zu retten. Auch das letzte Buch der Bibel, die Offenbarung, wird dem Johannes zugeschrieben. Schon Luther war klar, dass Evangelium und Offenbarung nicht den gleichen Autor haben können. Dennoch zeigt der Autor der Offenbarung, obwohl er als Katholik die häretische Gnosis bekämpft, eine Christus-Vorstellung, die man als alt-gnostisch bezeichnen kann. Das erklärt dann auch wiederum die Ablehnung in einem großen Teil der Kirche. Im zwölften Kapitel schildert uns der Apokalyptiker die Mutter des Christkindes auf dem Mond als ihrem Fußschemel stehen, bekleidet mit der Sonne und das Haupt umkränzt mit den zwölf Zeichen des Tierkreises. Mit Bousset und Franz Boll erkennt man hier die Königin des Himmels, die Allgöttin Isis, die himmlische Jungfrau. Im Kontext erscheint sie aber hier als das himmlische Jerusalem bzw. das wahre Israel, die wahre Ekklesia, die Kirche, die jungfräulich vor Gottes Angesicht steht, aber dennoch den Sohn gebiert: Archetyp, Modell ist sie der irdischen Kirche. Denn die Kirche gab es schon, als es noch keine Erde oder Menschen gab: „die erste Kirche, die pneumatische, wurde vor Sonne und Mond erschaffen (2 Clemens 14:1 v.), sie ist anôthen, ein zweideutiges Wort, das hier in seiner doppelten Bedeutung verstanden werden muss, nämlich als „von Anfang an“ und als „von oben“. Im

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  1. Kapitel vom Buch der Offenbarung ehelicht diese Frau das Lamm, das ihr Kind ist. Sie ist Mutter und Gattin zugleich in einer „heiligen Ehe“; in beiden Kapiteln ist sie die himmlische Doppelgängerin der Gemeinde der Gläubigen1. Ist es nicht unsinnig, bei diesen Vorgaben den gleichen Maßstab anzulegen, wie er für die Biographie von Alexander dem Großen oder von Kaiser Augustus verwendet wird? Wir stehen hier außerhalb, dem Gläubigen zufolge über der Geschichte. Dem Historiker aber bedeutet dieses über das Gleiche wie außerhalb, und der kritische Religionswissenschaftler erkennt, dass die Historizität des menschgewordenen Gottessohnes ein gewaltiges Stück Dogmatik ist. Mehr als einmal hat man mich gefragt, ob denn niemals, als die Christen ihre Geschichte vom Jesus-im-Land-der-Juden verbreiteten, ein Jude dagegen den Einwand brachte, dass es von der Existenz dieses Jesus noch nie ein Anzeichen gegeben habe? Meine Antwort: geschichtliches Bewußtsein ist überhaupt erst ein Produkt des westlichen Bewußtseins seit der Renaissance. Die Antike zweifelte nicht an der Existenz von Göttern, die auf der Erde wandelten. Die Bestreitung der christlichen Botschaft steht auf ganz anderem Niveau als die Bestreitung des historischen Jesus durch die historische Kritik. Der Jude Trypho im Dialog mit Justin sagt nicht: Ich habe mich Palästina nicht danach erkundigt, ob euer Christus dort im vorigen Jahrhundert wirklich gelebt und gewirkt hat; er sagt nur: „Ihr habt eine törichte Lehre angenommen, macht euch selbst einen Christus. … Vorausgesetzt daß Christus irgendwo geboren ist und irgendwo lebt, so ist er doch … nicht erkennbar“ (Dial. c. Tryph. Jud. 8, 4). Mit anderen Worten: Es geht überhaupt nicht um die Frage nach der Historizität, sondern ausschließlich um Christologie, um das dogmatische Verständnis des Messias, den sich der Jude als immer noch im Himmel verborgen denkt. Um einiges krasser spricht ein Jude bei Celsus, dem heidnischen Philosophen und würdevollen Gegner des Christentums, dessen Polemik wir bereits aus Origenes‘ contra Celsum kennengelernt haben. Da sagt ein Jude zu den Christen: „Nicht einmal durch Lügen konntet ihr eure Erdichtungen glaubwürdig verhüllen (II 26) …. Es gibt unter den Gläubigen einige, die …. das Evangelium nach seiner ersten

1 Vgl. mein Het Karakter der Evangeliegeschiedenis. Assen (1939), S. 24 f., 28 f..

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Niederschrift dreifach und vierfach und vielfach umprägen und umformen, um den Beweismitteln gegenüber die Möglichkeit des Ableugnens zu haben“ (II 27). Es fällt auf, dass die Polemik regelmäßig ausgeht von der christlichen Vorstellungswelt aus der Mitte des zweiten Jahrhunderts und sich gegen die zu der Zeit von den Christen akzeptierte Fassung der Evangeliengeschichte richtet und zwar aus jüdisch messianologischen Gründen oder aufgrund der Widersprüche innerhalb der Evangelienberichte. Dass in einem solchen Kontext kein Zweifel an der Historizität geäußert wird, kann wohl kaum als wissenschaftlicher Nachweis eines  historischen Jesus angesehen werden!

Die Erlöseridee soll Reitzenstein zufolge aus einem iranischen Erlösungs-Mysterienkult in das Christentum eingedrungen sein. Prof. Quispel bestreitet das und zieht Hinweise auf jüdische Vorgänger  vor. Der beste Philo-Kenner, Erwin R. Goodenough, sagt1, die größten unter seinen Vorgängern der letzten dreißig Jahren auf dem Gebiet der Erforschung des jüdischen Alexandrinismus, namentlich Bousset, Bréhier, Windisch, Leisegang, Reitzenstein, Lewy, Pascher u.a., würden zwar nicht in allen Einzelheiten mit ihm einer Meinung sein, sehr wohl aber bestehe Einigkeit über einen wichtigen Punkt: Philo unterscheide sich darin grundsätzlich von der damaligen Norm des Judentums, dass er die heidnische Erlösungsidee übernahm, die besagte, der Geist müsse vom Fleisch befreit werden, um zu seiner geistigen Quelle in Gott zurückkehren zu können.

Niemand wird leugnen können, dass das gnostische Vorstellungen sind. Der ursprünglich himmlische Geist ist in die Gefangenschaft der Materie geraten und muss daraus erlöst werden. Philos idealer Mensch besaß von Anfang an das höchste Gut, das Mose erst am Ende seines Lebens erreichte, nämlich den Sieg über den Dualismus von Leib und Seele und die vollkommene Verwandlung zu einem sonnenähnlichen Geist (Vita Mosis II 288). Kann man da die Ähnlichkeit mit dem persischen himmlischen Menschen übersehen? Dieser ursprüngliche Mensch ist eine der kosmischen Mächte in der Kette von Emanationen, von Äonen, die von der Gottheit hinüberführen zur Welt der Erscheinungen. Das gehört zur Sphäre der Gnosis2. Erstaunlich, dass Prof. Quispel beim Begriff des himmlischen Menschen zwar an unortho-

1 „An introduction to Philo Judaeus“, New Haven 1940, S.  16.   2 Siehe „G. S.“ VIII, S. 49.

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doxes Judentum denkt, von einem persischen Hintergrund aber nichts wissen will. Als ob nicht schon lange zuvor in der Perserzeit von Israels Geschichte Persien dem Judentum so manch neue Vorstellung beigebracht hätte! Denken wir an die Lehre von den Engeln, den Dämonen, der Welt und von der Auferstehung der Toten! Dass die Idee der Erlösung erst aus dem Christentum in die Gnosis eingedrungen wäre, dass es keinen vorchristlichen Erlöser gegeben habe, daran wird Prof. Quispel unmöglich festhalten können, wenn er die vorchristliche alexandrinische Gnosis in Betracht zieht. Der römisch-katholische Gelehrte Josefh Pascher 1 hat aufgezeigt, wie Philos zwischen Gott und Welt vermittelnde Kräfte, die das Heil bewirken, mit iranischen Vorstellungen zusammenhängen. Im übrigen ist es für den, der sich mit Religionsgeschichte befasst, doch kein Geheimnis, dass es die Erlösungsidee mehr oder weniger deutlich in jeder Religion gibt; sie ist so alt wie die Religion selbst. Als Beispiel nenne ich den babylonischen Marduk. Er ist der Mittler, der das Heil der Menschen bewirkt, der Erretter-Gott, der Erlöser-Gott, der die Dämonen vertreibt, die Kranken heilt, Tote aufweckt und neues Leben bringt; er heißt Erstgeborener des Gottes Ea und ist Schöpfer. Er steht wieder auf aus dem Totenreich: der Erlöser, der selbst Erlöster ist. Mit dem babylonischen Neujahrsfest war ein Mysterienkult verbunden, in dem der Eingeweihte miterlebte, was der Erlösergott erlebt hatte. In Adapa, dem Sohn des Menschen, dem babylonischen ursprünglichen Menschen-Adam, verkörpert sich die Idee des erwarteten Erlösers 2. Ich weiß schon, Von Wesendonk und Cumont haben sich gegen Reitzensteins These vom iranischen Erlösungsmysterium ausgesprochen; in Gestalt des Mithrazismus liegt uns aber dennoch sehr wohl ein aus Persien stammender Mysterienkult vor, und Goodenough hat Recht mit der Annahme, dieser sei im Alexandrien des Juden Philo bekannt gewesen.

Im Evangelium lesen wir über Wunderzeichen beim Tode Jesu (Mt. 27: 45, 51 ff.): Sonnenfinsternis, Zerreißen des Tempelvorhangs, Erdbeben, berstende Felsen, sich öffnende Gräber, Aufer-

1 „Hè basilikè hodos. Der Königsweg zu Wiedergeburt und Vergottung bei Philon von Alexandreia“. Paderborn 1931, S. 209-228. 2 Chantepie de la Saussayes Lehrbuch, ed. 1925, I S. 512, 560, 589, 591, 599.

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stehen der Heiligen. Diese Zeichen gehören zum Abstieg in die Hölle1. Ungewöhnliche, übernatürliche Ereignisse bei den Toten in der Unterwelt werden von einem Erdbeben begleitet; die Auferstehung Gestorbener beweist, dass Jesus die Macht der Hölle besiegt hat. Nachdem er die Pforten der Hölle zerbrochen hat, öffnet er den gefesselten Heiligen den Weg zum Licht und lässt sie in die heilige Stadt eingehen, d.h. in die himmlische Stadt, die sie durch eine Himmelfahrt mit Jesus zusammen erreichen. Das älteste Evangelium dürfte den Sieg Jesu über die gottfeindlichen Mächte gelehrt haben und zwar durch dessen Tod am Firmament. Ein schwaches Echo davon findet sich in einer Aussage des Athanasius: „Der Herr ist gekommen, den Teufel niederzuwerfen, die Luft zu säubern und uns den Aufstieg zu den Himmeln frei zu machen…. Durch welchen anderen Tod könnte das geschehen sein als durch den in der Luft, ich meine den am Kreuz? Denn nur dann stirbt jemand in der Luft, wenn er am Kreuz sein Leben beendet“. Die Vorstellung einer Kreuzigung Christi in der Luft kennt auch Justin Martyr (Apol. I 60); er beruft sich dafür auf Platos Timaios VIII 36 bc, wo dieser über die Erschaffung der Weltseele durch den Demiurgen spricht. Die zwei großen Himmelskreise Äquator und Ekliptik überschneiden sich in den Punkten der Tagundnachtgleichen von Frühling und Herbst und bilden ein Chi (X)- Der Äquator bestimmt die Bahn der Fixsterne, die Ekliptik die der sieben Planeten. Justin sieht in der Weltseele den Sohn Gottes und im Chi das Kreuz Christi (auch Irenäus Epid. I 34). Im Weltall ist Gottes Sohn gekreuzigt; er durchdringt den ganzen Kosmos in seiner Breite, Länge, Höhe und Tiefe. Der irdische Jesus am Kreuz ist die körperliche, sichtbare Erscheinung des Gottessohnes, der himmlische Mensch, der, indem er sich in die Materie hineinbegibt, zum Anfang und Bewirker der Schöpfung wird. All dies konnte aus dem Kosmologischen ins Eschatologische und Soteriologische transponiert werden. Man dachte sich das Licht der Welt als leidend am Firmament. Das wohlangenehme Jahr des Herrn, in dem Jesus predigt, gehört zum Gott des Jahres, d.h. der Sonne, die im zwölften Monat leidet und stirbt2. Dass ein Mensch von rechter Gesinnung wie Justin, der

1 Vgl. zu all dem Josef Kroll, „Gott und Holle“, Leipzig 1932, S. 6 ff.; H. Schlier, „Christus und die Kirche im Epheserbrief“. Tübingen 1930, S. 5 ff..  2 Siehe „Nieuw Theol. T.“ 1943, S. 15.

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um des Glaubens willen zum Martyrium bereit war, solche Ansichten über Jesus hatte, spricht nicht für die Richtigkeit der „Leben-Jesu-Forschung“.

Auch der Hebräerbrief setzt durchgehend einen metaphysischen, keinen historischen Jesus voraus; seine Christologie hat einen gnostischen Hintergrund. In seinem Kommentar sieht Windisch den Jesus des Hebräerbriefes als Himmelbewohner, der zur Erde herabsteigt, Fleisch und Blut annimmt und dann wieder zum Himmel zurückkehrt und zur Rechten Gottes seinen Platz einnimmt. Diese Jesusvorstellung gehört Windisch zufolge zum gleichen Genus wie der Logos des Philo, wie der mythische Gottessohn Herakles, wie der Gottesknecht von Jesaja 53. Da aber Windisch als gut liberaler Theologe den Jesus am liebsten als einen großen Propheten sah, klammerte er sich an Hebr. 1:2, wo es heißt, endlich sei nunmehr das Ende der Zeiten angebrochen, da Gott in oder durch seinen Sohn gesprochen haben soll; der Autor und seine Leser müssen ihr Wissen um das Heil den unmittelbaren Augenzeugen dieser Gottesverkündigung des Herrn zu verdanken haben. Windisch hat daraus zuviel schlussfolgern wollen. Das Sprechen Gottes durch einen Sohn am Ende der Zeiten besagt höchstens, dass das Evangelium vor kurzer Zeit gepredigt worden ist, — dass dies durch einen Menschen von Fleisch und Blut, einen Rabbi oder Propheten, geschah, ist nicht impliziert. Da das Wort zunächst vom Herrn und dann von denen, die ihn gehört haben, verkündigt und schließlich in verlässlicher Weise uns überliefert worden ist, wird bereits eine Traditionsreihe vorausgesetzt. Von einem großen Propheten ist nicht die Rede. In Hebr. 1: 3b nimmt der Sohn Gottes seinen Platz ein zur Rechten der Majestät in der Höhe. Das ist doch gewiss eine dogmatische und keine historische Begebenheit. Wo es dann des Weiteren heißt, er habe die Reinigung von den Sünden bewirkt, ist auch das eine dogmatische Formel. Windisch selbst nannte dies dann auch „ein Machtwerk des Sohnes“ und gab als Parallele „die Reinigungsarbeiten des Herakles, Epiktet III 26, 31 ff.“, „die Wiederherstellung des durch die Sünde verdorbenen Kosmos“. Eine Wiederherstellung solch kosmischen Umfangs kann man schwerlich einem irdischen Propheten zuschreiben.

Was soll man dann halten von der üblichen Qualifizierung Jesu als: „einer ganz einzigartigen Persönlichkeit“? Es ist eine leere Phrase, die besser zu Hamlet und Don Quichotte passt, womit dann aber

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auch die Historizität dieser erdichteten Figuren akzeptiert werden müsste. Windisch meint, die Radikalen hätten ein Interesse an der Nicht-Historizität Jesu, weil sie für große Persönlichkeiten keinen Platz haben. Ist es aber immer eine einzige große Persönlichkeit, die das Neue hervorbringt? Wer war der Schöpfer der Reformation? Doch nicht Luther allein, sondern auch Huss, Calvin,  Zwingli u.a.? Wer steckt hinter der französischen Revolution? Wiederum kann man eine Reihe von Namen erwähnen: Mirabeau, Danton, Robespierre, Marat usw.. Wer waren die Väter der “Moderne Richting” im 19. Jahrhundert hierzulande? Opzomer und Scholten! Selbstverständlich stehen Menschen am Anfang des Christentums: schon Bruno Bauer bezeichnete den Autor des ältesten Evangeliums, der die Antithese von Altem und Neuem Gesetz aufstellte, als Autor von Römer 1-8. Jede große geistige Schöpfung verdankt ihre Entstehung einem Kreis einander bekämpfender Personen und Gruppen; nie ist sie mit einem Schlag fertig da; auch die später Kommenden müssen schöpferisch tätig sein. Der Gründer des Christentums ist nicht der vom Rationalismus seiner Gottheit beraubte Jesus, sondern die Idee des Gottmenschen, die in einer bestimmten religiösen Umgebung vorherrschte und von verschiedenen Autoren konkretisiert wurde.

Wie einseitig das Publikum informiert wird, und das nicht nur von Theologen, sieht man an Will Durants Caesar en Christus1. Dieser Historiker hat sich kundig gemacht bei Leben-Jesu-Forschern verschiedener Richtungen. Durch seine Behauptung, nur Arthur Drews bezweifle die Authentizität  von Tacitus, Annalen XV 44, zeigt er sogleich, dass er Drews‘ Werk nicht kennt, denn dessen Christusmythe2 erwähnt als Leugner jener Authentizität: Bruno Bauer, Hermann Schiller, Allard Pierson, Edwin Johnson und P. Hochart. Sogar Franklin Arnold3, der nun ganz und gar kein Radikaler ist und der sogar die teilweise Echtheit der Stelle annimmt, hat eine ganze Menge an Bedenken gegen den Tacitusbericht vorgebracht. Ein Thallus-Fragment aus der Mitte des ersten Jahrhunderts, das Julius Africanus uns ± 220 überliefert hat, beeindruckt Durant  sehr. Es geht um die ungewöhnliche Dunkelheit beim Tod Christi, die vom Autor als ein

1 ’s-Gravenhage  1951,  S.  65l-698.   2 Jena  1911,  II  S.  54.   3 „Die neronische Christenverfolgung“ 1888.

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nur-natürliches, zufälliges Ereignis interpretiert wird. „Jenes Dokument setzt die Existenz Christi als selbstverständlich voraus. Dessen Historizität zu leugnen ist eine Idee, die nicht einmal den erbittertsten heidnischen oder jüdischen Gegnern des entstehenden Christentums eingefallen zu sein scheint“. Dazu lese man jedoch, was Von Wilamowitz-Moellendorff 1 über diesen Africanus schreibt: „eine starke Verirrung, den Ruhm (des Eusebius) auf den kaum halbgebildeten, dem gröbsten Aberglauben frönenden Africanus zu übertragen“. Dieser Mann gehörte zum Umkreis des Hofes von Edessa, der sich durch gefälschte Jesusbriefe einen besonders guten Ruf erwarb! Durant betrachtet auch die auf vor dem Jahre 64 CE datierten Paulusbriefe, von denen er behauptet, ihre Echtheit werde nahezu allgemein anerkannt, als Nachweis der Historizität Christi. Sie erwähnen ja wiederholt das Letzte Abendmahl und die Kreuzigung! Für das Abendmahl kann Durant ausschließlich 1 Kor. 11: 23—26 heranziehen. Als die am stärksten skeptisch eingestellten Forscher nennt er Guignebert und Loisy und verwendet auch noch die schon lange umgestürzten Säulen Schmiedels. Da sollte doch eine wissenschaftlich arbeitende Kontrollbehörde fürs Bauen und Wohnen mal eingreifen, um Unglücksfälle zu vermeiden.

Im Grunde verdient Durant es nicht, dass ich hier so auf ihn eingehe. Ich wollte aber die fast fünfzig Seiten, die er Jesus und den Aposteln gewidmet hat, nicht übergehen in einer Zeit, da niederländischen Laien diese englische rationalistische Erklärung der Entstehung des Christentums als zeitgemäße Geschichtswissenschaft angedient wird. Schade, dass ein Historiker, der für sein eigenes Fachgebiet anscheinend gut qualifiziert ist, der Versuchung nicht widerstehen konnte, sich auch auf dem Felde der Evangelienkritik auszutoben.

Albert Schweitzer schrieb einmal, es gebe nichts Negativeres als die Leben-Jesu-Forschung; er kann es wissen, denn er hat Dutzende von Leben Jesu gewogen und zu leicht befunden. Der Jesus von Nazareth, der die moralische Größe des Gottesreiches verkündete, dieses Reich auf Erden gründete und sein Werk mit seinem Tod besiegelte, hat Schweitzer zufolge nie existiert 2. Seines Erachtens ist das eine vom Rationalismus entworfene Gestalt; der

1 „Die Kultur der Gegenwart“, I VIII, S. 274. 2 „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“ 2, Tüb. 1913, S. 631, 633.

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Liberalismus hat ihr Leben eingehaucht und die moderne Theologie hat sie mit Geschichtswissenschaft bekleidet. Dennoch bekämpft Schweitzer die Radikalkritik. Sein Jesus ist der Mann, der zunächst glaubte, der Messias werde noch vor der Rückkehr der von ihm ausgesandten Jünger erscheinen. Als sich herausstellte, dass er sich in dem Punkt geirrt hatte, kommt er zur Überzeugung, er selbst müsse nach Jerusalem gehen und dort leiden und sterben, um dadurch als Messias vom Himmel herabsteigen und das Gottesreich bringen zu können. Auch das endete dann mit einer Enttäuschung.

Meine Frage lautet: Wie kann man die Entstehung einer Weltreligion aus einem einzigen doppelten Irrtum erklären, aus der beschränkten Sicht oder dem Selbstbetrug eines Phantasten, dessen Erwartungen durch die Realität ad absurdum geführt wurden? In Schweitzer’s Autobiographie1 schreibt er: „Zu behaupten, Jesus habe nicht gelebt, ist nicht schwer. Wenn man aber versucht, dafür den Beweis zu liefern, kommt man unweigerlich zum Gegenteil“. Da er das nun so allgemein behauptet, müssen die Radikalen wohl auch mitgemeint sein. Die haben jedoch wohl ein bißchen mehr getan als pures Behaupten; sie haben doch auch versucht, ihre abweichende Beurteilung zu beweisen. Bruno Bauer, Allard Pierson, Loman, Bolland, sie alle behaupteten zunächst, Jesus habe sehr wohl gelebt, — auch diese Behauptung ist nicht schwer! — aber dann kam der Moment, da sie aus guten Gründen zur Überzeugung kamen, daran nicht mehr festhalten zu können. Haben sie dann etwa nicht versucht nachzuweisen, dass die Hypothese eines historischen Jesus zur Erklärung der Entstehung des Christentums unbrauchbar ist? Dass sie beim Versuch diesen Nachweis zu liefern, zu ihrer früheren gegenteiligen Ansicht zurückgekehrt wären, davon ist mir nichts bekannt. Sehr wohl kann ich aber aus den Werken der Gegner der Radikalkritik so manch eine Stelle zitieren, die genau betrachtet deren eigene Unsicherheit in Sachen Historizität der Evangeliumsgeschichte beweist.

In meinem Aufsatz G. S. VII S. 23—31 habe ich einige aussagekräftige Beispiele von Mythenhistorisierung gegeben, u.a. im Buddhismus und in der Religion Israels. Geo Widengren hat darauf hingewiesen, dass vor allem bei den Israeliten die Tendenz zur Histori-

1 In niederländischer Übersetzung: „Uit mijn leven en denken“. Haarlem 1932, S. 127 f..

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sierung des Mythos zu erkennen ist; der Drache Rahab, der von Jahwe zerschmettert wird, wird mit Ägypten identifiziert. Der mythische Sieg des göttlichen Heroen, der leidet und stirbt, aber die Mächte des Chaos besiegt, konnte leicht zu einen historischen Tatsache werden, denn die Geschichte beginnt mit eben dieser Tat 1. Böhl sieht Gilgamesch und Adapa als Beispiele babylonischer Historisierung des Mythos; das Übersinnliche wird in „die Dimension einmaligen irdischen Geschehens herabgezogen“ 2.

Indirekt lehrreich ist, was Henri-Charles Puech, der Mitarbeiter Prof. Quispels bei der Entdeckung des Codex Jung, behauptet über „Zeit, Geschichte und Mythos im Christentum der ersten Jahrhunderte“. Er fängt mit dem bekannten Gemeinplatz an, das Christentum sei gestiftet worden von einer Person namens Jesus, an deren Historizität kein Zweifel besteht. Das wird dann auch einfach so behauptet ohne Not, und ohne auch nur ein einziges Argument anzuführen. Puech fügt dann hinzu: „das Christentum meint (entend) eine historische Offenbarung als ihr Fundament zu haben, die im Verlauf der Geschichte erschienen ist, gekennzeichnet durch eine Reihe historischer, oder als solche angesehener Ereignisse, die in den Büchern aufgezeichnet worden sind, die es als echte Geschichtswerke betrachtet, Genesis genauso wie die Evangelien oder die Handlungen der Apostel“. Da denkt er offensichtlich an das Römisch-Katholische Christentum und nicht an eine ältere Art von Christen, wie Markion einer war, der vom A. T. nichts wissen wollte, nur ein einziges Evangelium und keine Handlungen besaß. Puechs Sprache verrät, dass er selbst weniger naiv denkt als der orthodoxe Kirchengläubige: das Christentum meint ihm zufolge auf einer Offenbarung zu einem bestimmten Zeitpunkt zu beruhen; diese Offenbarung ist gekennzeichnet durch Ereignisse oder was als solche angesehen wird; sie ist aufgezeichnet in Büchern, die es als echte Geschichtswerke betrachtet. Mit andern Worten: Es ist alles Meinung der Kirche, alles subjektiv. Die Kirche stützt sich offensichtlich nicht auf eine objektive, kritisch-wissenschaftliche, Erforschung von Fakten und Texten, wie wir sie durchzuführen pflegen. In Anbetracht Markions, dessen anfäng-

1 „Proceedings“ van het 7de Congres voor Godsdienstgeschiedenis te Amsterdam 1950 gehouden, S. 103.  2 L. 1., S. 100 f..

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licher Popularität in der römischen Gemeinde und seiner Verbannung, als er die Akzeptanz des Alten Testamentes in der werdenden Kirche nicht mittragen wollte, rede ich lieber nicht von einer subjektiven Meinung der orthodoxen Kirche, sondern von deren absichtlicher, wohlüberlegter Kursänderung, die sie dazu zwang, die Kontinuität von alttestamentlicher und neutestamentlicher Gottesoffenbarung sowie die Identifizierung des jüdischen Schöpfers mit dem gnostischen Vater Jesu Christi zu dogmatisieren. Dadurch war dann von selbst ein Christentum entstanden, das – im Gegensatz zur revolutionären, paganisierenden Gnosis  des zweiten Jahrhunderts –  positiv historisch sein wollte: einmalig in der Vergangenheit wurde die Welt erschaffen und fand der Abfall des ersten Adams statt; einmalig in der Vergangenheit, und zwar unter Pontius Pilatus, wurde das Erlösungswerk vollbracht; einmalig in der Zukunft wird das Ende der Welt sich ereignen. Von Genesis bis zur Offenbarung des Johannes verläuft die gerade Linie der Weltgeschichte. „Die junge Religion“, sagt Puech, 1 „musste ihre Selbständigkeit,  ihre Eigenart,  ihre Ursprünglichkeit allen früheren und gleichzeitigen Religionen gegenüber definieren; anderseits ihr Aufkommen rechtfertigen und ihre Wahrheit beweisen, indem sie aufzeigte, dass sie in der Vergangenheit vorhergesehen, angekündigt, vorbereitet worden war und ihren Ursprung sogar schon zum Anfang jeglicher Geschichte zurückreichen ließ…. Ein vollständiger Bruch mit der Vergangenheit Israels, das Neue Testament als Antithese zum Alten, hätte zur Folge gehabt, die Ankunft Jesu zum plötzlichen und billigen coup de théâtre verkommen zu lassen, durch nichts vorbereitet und von niemandem vorhergesagt. Ein solcher Bruch hätte Sendung und Autorität Christi der Beweise beraubt, die sie brauchten… Das Christentum wäre dann eine superstitio nova, ein neuer Aberglaube gewesen, eine Religion von spät Gekommenen, gerade mal gestern geboren und abscheulich, ein irrationaler Glaube, der  nicht einmal das Argument von Tradition und ehrwürdigem Alter zu seinen Gunsten ins Feld führen konnte; das wäre etwas Anstößiges gewesen für den konservativen Geist Roms, der jeglichem Neuen in Sachen Religion feindlich gegenüber stand“.

Das ist ein langes Zitat, aber ein gut formuliertes und gut überlegtes. Übertreibe ich, wenn ich in Puechs Worten die-

1 L. 1., S. 40.

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selben Gedanken wiederfinde, die ich mehrmals veröffentlicht habe? 1 Unbewusst und ohne es zu wollen reiht er sich ein in die Schar von Zeugen für die Richtigkeit der Radikalkritik. Die ersten Christengenerationen, sagt er immer wieder, machten keinen scharfen Unterschied zwischen dem, was für uns reine Geschichte und dem, was für uns purer Mythos ist 2. „Urzeit“ und „Endzeit“ sind im Christentum nicht prähistorisch und posthistorisch, sondern integrierende Bestandteile der historischen Zeit; Adam ist genauso eine historische Person wie Jesus, der zweite Adam, und auch das zweite Kommen Christi und die Gründung des Gottesreiches werden historische Ereignisse sein 3. Freudig übernimmt Puech von G. van der Leeuw das Wort „Mythhistorie“ 4, was m.E. in der Mathematik mit einem quadratischen Kreis gleichzusetzen wäre, ganz gewiss aber in geschichtlicher Hinsicht uns jegliches Vertrauen auf die Beweiskraft des Zeugnisses der Frühchristen für einen historischen Jesus abhanden kommen lassen muss. Historisierter Mythos ist und bleibt die einzige Lösung.

Was wird die Zukunft der Radikalkritik bringen? Ich bin weder Prophet noch eines Propheten Sohn und die Begabung zur Weissagung fehlt mir ganz und gar. Eine neu Blütezeit erwarte ich vorläufig allerdings nicht. Nicht deshalb, weil sie hoffnungslos veraltet wäre, sondern weil die heutige Theologie lieber mit verstaubten, ihr teuren erbaulichen Begriffen und Vorstellungen arbeitet, als dass sie die Ursprünge des Christentums mit streng wissenschaftlicher Methode erforschen würde. Auf jeden Fall hat der Streit um den Codex Jung die Radikalkritik wieder einmal ins Gespräch gebracht und gewitzte Leser von Tages- und Wochenzeitungen dürften wohl den Eindruck bekommen haben, dass die mit soviel Lärm für tot Erklärte immer noch mehr Lebensgeister in sich hat, als sie es je vermutet hatten. Wozu sollte man auch einem Toten laufend Todesstöße versetzen und weiterhin gegen eine Leiche kämpfen wollen?

Bleibt die Hoffnung, dass nach dem Verfall des kritischen Denkvermögens der heutigen Generation der Geist noch einmal zu einer weniger reaktionären und rationaleren Einstellung zurückfinden möge.

1 Siehe zuletzt „G. S.“ XI, S. 21-52: „De wording van de Katholieke Kerk“.  2 l. 1. S. 47.  3 S. 49.  4 S. 50.

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