Marcion als Zeuge für ein vorkatholisches Christentum

G.A. van den Bergh van Eysinga

Teil 1

Übersetzung aus dem Niederländischen von Hermann Detering, Berlin 2001

Eine der großen Gestalten der Geschichte des Christentums im zweiten Jahrhundert ist der Ketzer Marcion. Von besonderer Bedeutung ist er vor allem für die Rekonstruktion der ältesten Gestalt der Schriften des Neuen Testaments, sowohl was den Umfang der Sammlung als auch die ursprüngliche Lesart einiger Textstellen betrifft. Ich glaube zeigen zu können, dass in vielen Fällen der von der Kirche ausgestoßene und geschmähte Ketzer  nicht der Textverderber und –verfälscher gewesen ist, wie die Ketzerbestreiter behaupten, sondern dass die Kirche häufig aus dogmatischen Gründen den Originaltext nach ihrem Gutdünken bearbeitet und geändert hat. Daß die Theologen ungeachtet all ihrer Kritik an der römisch-katholischen Kirche, von wenigen Ausnahmen abgesehen,  am Urteil Roms festhielten und meinten, dass die Ketzer per se Unrecht hätten, ist erstaunlich. Erst Walter Bauer (1) hat den Bann gebrochen, unter dem aufgrund des Einflusses von Rom selbst protestantische Gelehrte standen (die doch in den Augen Roms selber doppelte und dreifache  Ketzer sind). Mit ihm kam klarere Einsicht in die wirkliche Situation. Ich schrieb einmal an anderer Stelle: „Der Ketzer lebte und starb mit seiner Ketzerei, die er, im Gegensatz zum Irrtum der Mehrheit, für den wahren und seligmachenden Glauben hielt. Marcion oder Valentin kamen nicht aus einer Art gottlosem Vergnügen am Widerspruch zu ihrem Protest gegen die Großkirche oder weil sie Gefallen daran gefunden hätten, alles besser zu wissen; sie hielten sich selbst für  echte, rechtgläubige Christen… Wir haben etwas an unseren Mitketzern aus der Antike wiedergutzumachen, die in der gelehrten Welt des vorigen und noch dieses Jahrhunderts schlechter weggekommen sind als die über sie triumphierende Kirche. Martin Werner machte die geistreiche Bemerkung, dass die werdende katholische Kirche nichts anderes als eine Häresie neben anderen Häresien war, freilich diejenige, mit dem größten Erfolg. Den Kampf [6] gegen ihre Konkurrenten hat sie gewonnen aufgrund ihrer guten Organisation.“(2)

Hierzulande hat Meyboom schon 1888 ein hübsches Büchlein über Marcion en de Marcioniten verfasst, worüber ein Sachkundiger wie Harnack ein günstiges Urteil abgab.(3) Er nannte es die erste umfangreiche Monographie über Marcion und dessen Kirche: „Mit gutem Urteil und lobenswerter Kritik stellt der Autor das Bekannteste und Wichtigste zusammen, geht aber nicht in die Tiefe.“ Am Ende erklärt Harnack es für ein interessant geschriebenes Buch und  eine vortreffliche Einleitung in das Studium Marcions. Harnacks Lob war insofern aufschlussreich, als er selber bereits 1870 für die Beantwortung einer Preisfrage über den Ketzer ausgezeichnet worden war. Als derselbe Harnack vierzig Jahre später sein Lebenswerk über den Ketzer Marcion veröffentlichte,  mussten die Erwartungen groß sein—was freilich auch die Möglichkeit der Enttäuschung  nicht ausschloß. Dieses Buch ist in der Tat ein Standardwerk. Niemand, der über die alte christliche Kirche schreiben möchte, kann es ignorieren, eine „Fundgrube“. Man ist durchgehend über die Gelehrsamkeit und Belesenheit dieses Forschers erstaunt. Sein Versuch, Marcions Evangelium und seine Paulsbriefe wieder herzustellen, ihnen die Gestalt wiederzugeben, in der Marcion sie las, ist eine dankbar zu würdigende Beigabe des Buches, auch wenn ich, was die Durchführung betrifft, des öfteren anderer Meinung bin. Zwischen der ersten und der zweiten Auflage seines Werkes hat Harnack noch Neue Studien zu Marcion hinzugefügt, eine Verteidigung seiner Auffassungen gegen allerlei Kritik, die gegen die erste Auflage vorgebracht worden war. Ungefähr 30 Namen kommen darin vor, auch der meine. Freilich, anstelle einer sachlichen Widerlegung meiner klar vorgebrachten Bedenken (4), bekam ich als einziger von den Dreißig eine Rüge, die mich fragen ließ, ob der Großmeister der deutschen Theologie nun auf dem Wege zum Großinquisitor sei.

In die Tiefe ist Harnack freilich noch weniger gegangen als unser [7] Meyboom 1888 mit seinem Werk (5). Die Gründe dafür? Harnack fehlte es an der notwendigen Selbstkritik, um mit geliebten wissenschaftlichen Vorurteilen zu brechen. Er selber war ein so durch und durch dogmatischer Geist, dass er neue Dogmen aufstellte, die seine Verehrer nachbeteten, auch als deren Unhaltbarkeit längst anerkannt war. In der Vorrede zu seiner  Chronologie aus dem Jahre 1895 schreibt er: „Die älteste Literatur der Kirche ist in den Hauptpunkten und in den meisten Einzelheiten, literar-historisch betrachtet, wahrhaftig und zuverlässig … Auch die Tradition der vorkatholischen Zeit bewährt sich in der Kritik der Quellen des ältesten Christentums ohne  Zweifel in einer rückläufigen Bewegung zur Tradition.“ Harnack hat getan, was er konnte,  um die Autorität der römischen Tradition wiederherzustellen; ich denke an seine Studien über den Arzt Lukas als Verfasser der Apostelgeschichte, deren Resultat der Bibelkommission in Rom so willkommen erschien, dass sie es übernahm und sich damit gegen die Ansicht ihres Hl. Hieronymus stellte.

Eigene Schriften Marcions besitzen wir nicht. Wir kennen ihn nur durch seine Gegner, und die sind nicht vorurteilsfrei, was uns freilich bei Kirchenmännern und Ketzern nicht erstaunt. Wie schwierig es selbst jetzt noch für Theologen, selbst protestantische,  ist,  in ihrem Urteil über den Ketzer objektiv zu bleiben, zeigt Quispels Buch Gnosis und Weltreligion, Zürich 1951, S. 48. Dort wird gesagt, dass Marcion den guten Gott von dem gerechten Schöpfer und Gesetzgeber des Judentums unterschied, das AT verwarf und sich mit unglaublichem Pathos gegen Ehe und Sexualität wandte. Sein Haß gegen den Gott-Schöpfer, so Quispel weiter,  verstehe sich vor dem Hintergrund von Ereignissen aus der letzten Zeit: der Haß sei „die tiefste und raffinierteste Form des Antisemitismus, die auch in Deutschland sich mit einer Sexualneurose zu verbinden pflegte.“ Marcion wird dann auch bei Quispel, das „krankhafte Genie“ genannt. Hier ist jede wissenschaftliche Objektivität dahin.  Dasselbe könnte man von allen früheren und heutigen Asketen behaupten, auch vom Hl. Franziskus. Der Heilige von Assisi würde damit [8] kaum treffend charakterisiert sein. Die Mischung von Antisemitismus und Sexualneurose,  die Quispel Marcion andichtet und mit der er eine große  Gestalt in eine Ecke mit Judenvergasern und Sadisten im Dritten Reich bringen will, ist reine Phantasie des „Christen“ Quispel. Kein ernsthafter Arzt stellt eine Diagnose über physische Abnormitäten, ohne den Patienten persönlich untersucht und ihn lange beobachtet zu haben. Um wieviel unangemessener mag es da erscheinen, über 18 Jahrhunderte hinweg eine Diagnose über die Psyche eines Menschen zu stellen, über den wir keine zuverlässigen Fakten und von dem wir keine eigenen Schriften besitzen und dessen Leben in Dunst und Nebel gehüllt scheint.

Die beste Quelle für die Kenntnis von Marcions  Gedankenwelt wären natürlich seine eigenen Werke, aber seit ± 400 haben Kirche und Staat als Bundesgenossen die reiche gnostische Literatur systematisch vernichtet. Irenäus ± 180 sagt zwar, daß er den Ketzer aus seinen eigenen Schriften widerlegen will (I 27,4; II 12,12), hat es aber nie getan.  Tertullian spricht von Marcions Hauptwerk als den Antithesen (II 29 und IV I von adv. Marcionem), in denen die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium deutlich gemacht wird. Harnack datierte sie zwischen 139 und 144 und hielt sie weniger für eine große Sammlung von kurzen Thesen und Gegenthesen als vielmehr für historisch-dogmatische Ausführungen, für einen durchgehenden Kommentar, mit dem Ziel nachzuweisen, dass Gesetz und Evangelium und damit der Gott der Juden und der Christen eine Antithese bilden. Hippolyt (VII 37) spricht  von Antiparatheseis als Titel des Buches; das meint „Vergleich“ und würde in diesem Zusammenhang heißen, dass darin der Gegensatz bzw.  vollkommene Unterschied zwischen Gesetz und Evangelium  sichtbar gemacht werden sollte. Marcions Gegner haben stets nach den Unterschieden zwischen ihm und der Orthodoxie und dem Schändlichen seiner Lehre gesucht, aber haben alles verschwiegen,  was ihn den frommen Gläubigen hätte empfehlen können (6). Die Gegner sind insofern zu entschuldigen, als Marcion selber mit dem Alten Testament genauso verfuhr, das doch für die Christen auch eine Reihe akzeptabler Gedanken enthielt. Die Überlieferung [9]  sine ira et studio zu betrachten, ist nur einer unabhängigen Wissenschaft möglich.

Für Marcion war das Evangelium etwas vollständig Neues, das in keinerlei Beziehung zur jüdischen Bibel stand. Er sah das im Evangelium selber ausgedrückt, z.B. in den Texten von dem neuen Wein, der die alten Schläuche zerreißt  (Lk 5:37) und von dem guten und dem schlechten Baum (6,43). Die Schöpfung war für Marcion allzusehr mit Mängeln behaftet, als dass sie vom liebenden Vater Jesu Christi hätte stammen können.  Durch strenge Enthaltung alles Natürlichen soll der Gläubige seinen Schöpfer verleugnen. Sein Christus, vom Himmel niedergestiegen, hat nichts Irdisches an sich, kein Fleisch und keinen Körper; er wurde nicht geboren und hatte keine Verwandten. Was mit ihm in die Welt kam, ist in der jüdischen Bibel nicht vorhergesagt worden, diese ist vielmehr buchstäblich zu erklären. Der bis zu seiner Ankunft unbekannte Vater-Gott,  welcher der Welt bis dahin fremd blieb, hatte voll Erbarmen beschlossen, den Menschen von seinem Schöpfer loszukaufen und zwar um den Preis des Todes seines Sohnes. Marcion hielt die Gesetzesgerechtigkeit für den größten Feind des Guten. Für ihn ist Glauben Vertrauen in Gottes unbegreifliche Liebe in Christus, die alles Natürliche übersteigt; nur der Glaube kann die Furcht überwinden. (7)

Marcion behauptete, nichts Neues gebracht zu haben, er wollte nur herstellen, was die Kirchenleute verfälscht hätten. Tertullian spricht davon in gehässig ironischem Ton:  „O Christus, allergeduldigster Herr, der Du so viele Jahre lang die Unterschlagung  (interversio  wird für Geldunterschlagung gebraucht) Deines Evangeliums erduldet hast, bis Marcion Dir zu Hilfe kam!“  Tertullian hatte (I  19) bereits behauptet, dass der Ketzer die beiden Testamente gegenübergestellt und auseinandergerissen habe, um auf dieser Grundlage zu seiner Lehre von den zwei Göttern zu gelangen. Seine Anhänger könnten nicht leugnen, was sie an dem höchsten Testament (= summum instrumentum, ironisch, denn nun will Tertullian über das nach seiner Meinung gottlose Buch Marcions sprechen)  hätten, mit dem sie in diese Ketzerei eingeweiht und darin befestigt würden. Denn diese (hae) seien die Antitheseis. Die feminine Pluralform hae mutet im Zusammenhang mit [10] dem vorangehenden instrumentum (=testamentum (8)), fremd an; hoc wäre zu erwarten; aber Tertullian hat mit seinem ironisch gemeinten höchsten Testament schon die Antithesen im Sinn.

So lautet der Vorwurf der Kirche und der modernen Theologie an Marcions Adresse: Er habe Altes und Neues Testament auseinandergerissen.  – Nur das Neue musste überhaupt erst noch gesammelt und als Fortsetzung des Alten mit ihm verbunden werden. Gegen den damals in Rom sich vollziehenden Prozeß der Judaisierung des Christentums wandte sich Marcion gerade, weil er ein traditionsbewußter Christ war. Die Ketzerbestreiter, die vom Ende dieses Prozesses ausgehen, stellen es so dar, als ob Marcion die Trennung der beiden Testamente auf ruchlose Weise initiiert  hätte. Es ging bei ihm aber nicht, ebensowenig wie dem ursprünglichen Paulinismus,  um zwei kanonisierte Sammlungen, deren künstliche Vereinigung er ablehnte. Die Gegensätze, welche die Kirchenleute beseitigen wollten (ebenso wie sie es bis heute tun), zeigen Marcion deutlich von seinem vor-katholischen Standpunkt. Harnack (S. 79) will aus Tert IV 5 ein Argument für die Richtigkeit seiner „rückläufigen Bewegung zur Tradition“ entnehmen—ein Eiertanz, mit dem er aufgrund seines starken Einflusses negativ gewirkt hat. Er will nämlich aus der Stelle bei Tertullian herauslesen, dass Marcion die vier Evangelien bereits als „autoritative Sammlung“ gekannt habe. Die Kirchenleute beschuldigten den Ketzer, dass dessen einziges Evangelium ein durch ihn verkürztes Lukasevangelium war; und nun fragt Tertullian: „Warum rührt Marcion nicht auch die drei übrigen kanonischen Evangelien an, sei es um sie zu verbessern, falls sie gefälscht sind, sei es um sie zu akzeptieren, wenn sie unversehrt sind?“ Es mußte wohl starke Voreingenommenheit für die römische Tradition bezüglich des Alters und der Zuverlässigkeit der Evangelien sein, die Harnack derart verblendete, dass er nicht sah, wie der Kirchenmann und Ketzerbestreiter von  seiner eigenen Zeit aus polemisierte, ohne etwas für Marcions Zeit zu beweisen. Hier scheint die „rückläufige Bewegung zur Tradition“ nur möglich bei vorangehender „Kritiklosigkeit“. Die weiteren Beispiele, die Harnack (S. 89) bietet, belegen gegen die gängige und von Harnack definitiv behauptete Hypothese, daß Marcion zwar in der Tat unseren Lukas als [11] einziges Evangelium gekannt hat, aber diesen weder verkürzte noch verfälschte. Vielmehr will es uns scheinen, als habe dieser Ketzer ein Evangelium besessen, in dem Texte vorkamen, die später auch von anderen Evangelienverfassern übernommen wurden.

Die fünf Bücher, die Tertullian zur Bestreitung dieses Ketzers für notwendig hielt,  das umfangreichste seiner Werke, beweist die Angst vor der Ketzerei, aber auch die Bedeutung Marcions. Dieser hatte wenig Interesse an der Philosophie oder besser Theosophie der großen Gnostiker und ihren Äonengenealogien; desto gefährlicher war er durch den Ernst seiner Überzeugung, seinen Sendungseifer und sein organisatorisches Talent. Er war für die  werdende katholische Kirche ein großer Konkurrent. Sagte nicht bereits Justin, daß die Marcioniten über den ganzen Erdkreis verbreitet seien (I 26)? Freilich, Tertullian spricht nicht davon, daß Marcions Tradition die ganze Welt erfülle (9). Indem er sagt: „als wäre die ganze Welt voll davon“, will er offenbar die große Verbreitung dieser Ketzerei nicht anerkennen, weil er seinen Feinden diesen Erfolg nicht gönnt.

Nun war Tertullian kein Freund des Judentums, wie die Schrift Anti Judaeos belegt. Daher hätte ihm das Werk Marcions eigentlich sympathisch sein müssen.  Auch die Askese des Ketzers konnte dem späteren Montanisten Tertullian nicht ganz mißfallen. Aber der Glaubenshaß war stärker als die gemeinsame Glaubensverwandtschaft. Und selbst ihre gemeinsame Abneigung gegen die Philosophie vermochte  keine Annäherung zu bewirken.  Tertullian vermag den zu Unrecht verurteilten Sokrates, der keinen Trost wünscht, nicht angemessen zu würdigen. Als dessen Frau sagt: Du bist zu Unrecht verurteilt, antwortet der Philosoph: Möchtest du denn, daß ich zu Recht verurteilt werde? Im Zusammenhang damit  nennt Tertullian ihn dann nicht, wie wir es tun, einen Helden, der mit sauberem Gewissen und aufrechten  Hauptes mutig dem Tod ins Angesicht blickt, nein, er nennt in ihn ein ruhmsüchtiges Monstrum. An anderer Stelle hält er die Philosophen für die Erzväter der Ketzer. Er meint, daß Ketzer und Philosophen sich mit derselben Materie beschäftigen [12], indem sie die Frage stellen: Woher das Böse (unde malum?), und wozu, woher der Mensch? Dann folgt das typische: „Was haben Athen und Jerusalem miteinander zu tun? Was die Akademie mit der Kirche? Was die Ketzer mit den Christen? Mögen diejenigen, die ein stoisches, platonisches oder ein dialektisches Christentum lehren, sich nur vorsehen! Wir brauchen keine Neugier mehr auf Christus Jesus, keine Untersuchungen des Evangeliums.  Wenn wir glauben, brauchen wir nichts mehr darüber hinaus zu glauben. Vielmehr glauben wir dies: daß es nichts gibt, was darüber hinaus zu glauben wäre.“ (10)

Der Philosoph als Monstrum oder Bestie wird dann auch durch Tertullian mit einer langen Liste von moralischen Verunglimpfungen in ein schlechtes Licht gestellt, so daß Tertullian zum Schluß glaubt fragen zu sollen: „Was gibt es denn dann für eine Gemeinsamkeit zwischen einem Philosophen und einem Christen? Einem Lehrling Griechenlands und einem Lehrling des Himmels? Jemandem, dem es um Ruhm zu tun ist, und jemandem dem es um das Heil geht usw?“ (11)

Ungeachtet so vieler übereinstimmender Punkte ist Tertullian auf billigen Beifall aus. Sein Wortgebrauch im Hinblick auf Marcion und dessen Anhänger besteht aus einer Reihe von Schelt- und Schimpfworten; ich eröffne hier keinen Katalog, da dieser an dieser Stelle zu umfangreich würde. Einige Kostproben mögen genügen: „Unverschämter, Heuchler, Fälscher, Giftspeier, Verrückter, Strauchdieb, Antichrist usw.“ Der Anfang von Tertullians fünfteiliger Streitschrift ist bereits äußerst gehässig, wenn er das barbarische Pontus, aus dem der Ketzer stammt, skizziert. „Nichts ist freilich (nach all den aufgeführten Widerlichkeiten dieses gottvergessenen Landes) barbarischer und kläglicher, als daß Marcion hier geboren wurde, abscheulicher … wankelmütiger … unmenschlicher als (es folgen namentlich genannte barbarische Stämme),  aggressiver als eine Amazone, dunkler als eine Wolke,  kälter als der Winter, zerbechlicher als Eis, falscher als die Donau (eine Mündung davon heißt „Falschmündung“), schroffer als der Kaukasus, lästiger als die barbarischen Tiere, die dort leben, ist Marcion. Gibt es einen Biber so verschnitten [13] wie diesen Mann, der die Ehe abschaffte? Welche pontische Maus ist so gefräßig wie er, der an den Evangelien nagte?  Wahrhaftig Pontus Euxinus! Du hast ein Ungeheuer von dir gegeben, das eher von Philosophen als von Christen akzeptiert werden kann.“ (12)

Von den Schülern der Philosophen behauptet Tertullian, daß sie die Bücher der Christen dadurch entstellen, daß sie  philosophische Dogmen einfügen. „Ein Ketzer versichert ohne geringste Gewissensbisse, daß wir diejenigen sind, die die Schrift  verfälschen und verkehrt auslegen und daß er allein die Wahrheit verteidigt. Mag man noch so sehr mit der Schrift vertraut sein—bei einem Disput mit einem Ketzer  ist nichts zu gewinnen und man sollte daher keinen Streit riskieren, bei dem der Sieg immer offen bleiben muß.“ (13) Ein kluger kirchlicher Rat! Totschweigen ist oft zweckmäßiger als widersprechen.

Ungeachtet seiner Klage, daß man den Gegnern des Marcion zu viel nachgesprochen habe, begeht Harnack (14) in seinem Buch denselben Fehler, indem er keinen Augenblick grundsätzlich mit der Möglichkeit rechnet, daß der Ketzer einen ursprünglicheren Text des Evangeliums und der Paulubriefe gehabt haben könnte als die kirchlichen Schreiber.  Daß dessen Evangelium ein verfälschtes Lukasevangelium gewesen ist, darüber braucht nach Harnack kein Wort verloren zu werden. (15) Zwar nennt er es eigenartig, daß  in Marcions Evangelium kein apokrypher Stoff vorkommt. (16) Gleichwohl steht bei diesem großen Marcionkenner von vornherein fest, daß Marcion die alten Texte überbearbeitet hat. Gewinnt nicht angesichts dieses Vorurteils, so möchte ich einmal fragen, Harnacks Urteil über den Ketzer, den er wiederholt und widerwillig als einen unparteiischen und vorurteilslosen Kritiker bezeichnet, an Gewicht? Widerwillig, sage ich, denn eigentlich fühlt er sich dem Theologen Marcion in bestimmter Hinsicht verwandt. Auch dessen Religion war eine Religion, die aller Philosophie entbehrte: [14] das Ideal von Harnacks Wesen des Christentums. Nun hat Marcion in seiner „verstümmelten“ Heiligen Schrift wohl auch Dinge gelesen, die mit dem Standpunkt des Ketzers nicht übereinstimmten. Hier sollte man doch, wenn schon nicht eine bonne marque für des Ketzers Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit, so doch wenigstens  ein kurzes Zögern auf seiten des Gelehrten erwarten, eben diese Eigenschaften in Zweifel zu ziehen. Aber nein! Dieser schreibt: „Marcion ist nicht immer konsequent bei seinen Streichungen gewesen. Für uns bleibt es ein psychologisches Rätsel, wie ein Kritiker, der einerseits die Phantasien der Allegoristik ablehnte, die ‚historia pura’ auf den Schild erhob und im AT keine Zeile änderte, ja den ganzen Text des weitschichtigen Buches als unverfälschte Geschichte anerkannte, andererseits die christlichen Schriften in solchem Umfang als verfälscht zu beurteilen und die Wiederherstellung so zuversichtlich in Angriff zu nehmen vermochte! Nicht nur die Allegoristik, auch die Dogmatik kann Berge versetzen!“ (S.67)—so lautet Harnacks Schluß. Daraus spricht nicht das geringste Bewußtsein dafür, daß dieses ebensogut für den Dogmatismus eines alt-liberalen Theologen gilt, der dem blinden Glauben hartnäckig anhängt; der Ketzer muß per se gefälscht haben. Warum? frage ich, und warum sollte er—man beachte—die Schriften seines eigenen Apostels verfälscht haben, die zuerst bei ihm selber auftauchen  und welche die Großkirche sich erst nach allerlei Änderungen und Umarbeitung aneignen konnte? Harnack kommt nirgendwo der Gedanke, daß er selber parteiisch gegenüber seinem teilweise geistverwandten Ketzer ist. Der alles verfälschende und ändernde Marcion, der willkürlich drauflosstrich und Änderungen vornahm, hat niemals Christus öffentlich zwei Götter predigen lassen, weil ihm das überlieferte Evangelium das nicht gestattete, sagt Harnack (S. 167). Daraus geht hervor, dass der Ketzer nicht so schlimm gewesen sein kann, wie ihn die kirchlichen Herren und die moderne Wissenschaft gemacht haben. Sollte womöglich eine Wahrheit in seiner Aussage stecken, daß die Apostel, die sich nach wie vor zum Judentum hielten, gesetzliche Aussagen mit den Worten des Heilands  vermischten? Wir werden sehen, daß dies in der Tat der Fall war.

Hans Jonas, von dem der erste Teil seines wichtigen Werk Gnosis und spätantiker Geist  über die mythologische Gnosis [14] 1934 erschien, während der zweite wegen der Ungunst der Zeitumstände bis 1954 warten mußte (17), fragt nach der allbeherrschenden, zentralen Idee der Gnosis und sieht diese in dem neuen Existenzverständnis, das mit gewaltiger Kraft und der chaotischen Gärung  des Anfangs zum Vorschein trat und nur mit Mühe die Formen fand, in denen es sich ausdrücken konnte. Alle Zeichen weisen nach Kleinasien als Herkunftsort. Nicht nur das häretische, auch das orthodoxe Christentum,  ja, auch viel Neutestamentliches hält Jonas für verwandt mit der Gnosis. Nur die synoptischen Evangelien glaubt er ausdrücklich ausschließen zu müssen. Was das letzte betrifft kann ich ihm nur teilweise Recht geben.  In der Tat enthalten die Synoptiker wenig gnostische Elemente, aber das kommt daher, daß sie eine römische Bearbeitung des ursprünglichen gnostischen Evangeliums darstellen, eine bewußte Transposition der Botschaft über ein zeitweilig inkarniertes himmlisches Wesen in einen Lebensbericht über einen jüdischen Rabbi. Sehr richtig sagt Jonas, daß das Christentum „aus denselben Kräften einer Umbruchsbewegung gespeist“ ist wie die Gnosis. Aber er hätte noch weiter gehen und sagen müssen, daß das älteste Christentum in der Gnosis wurzelt. (18)

Nach Hippolyt (X 39) lehrte Marcion, daß es drei Prinzipien des Alls gebe: den guten Gott, den gerechten Gott und die Materie. Einige Marcioniten hätten noch ein viertes Prinzip angenommen, nämlich den schlechten Gott, den sie wiederum mit dem gerechten identifizierten. Alle seien sich darin einig, sagt Hippolyt, daß der gute Gott nichts geschaffen habe: die Schöpfung sei das Werk des anderen Gottes, die er mit Hilfe der präexistenten Materie ins Dasein rief. Marcions Gott sei zu gut, um Schöpfer einer so elenden Welt zu sein. Tertullian (I 17) formuliert das so: „Dieses eine Werk ist für den Schöpfer ausreichend,  um den Menschen durch seine ihm eigene allerhöchste und außergewöhnliche Gutheit zu erlösen, die man hoch über die Schöpfung von Heuschrecken stellen muß.“ „Mit [16] stolzer Frechheit wenden sich die unverschämten Marcioniten gegen die Werke des Schöpfers, um sie zu zerstören. „Aber gewiß doch,“ so sagen sie, „ist die Schöpfung ein großartiges und eines Gottes wahrhaft würdiges Werk ” (I, 13) ! Dies hängt natürlich mit Marcions Pessimismus und Askese zusammen. Wenn Harnack nun (S. 132) sagt, daß Schöpfung und Erlösung auf ganz verschiedener Ebene liegen und nichts miteinander zu tun haben, möchte ich dazu bemerken, daß Marcions Gott zwar kein Schöpfer ist, aber daß er, indem er die Menschen vom Schöpfer erlöst, doch mit deren Schöpfer Kontakt haben muß. In den Dialogen des Adamantius, einem theologischen Disput zwischen  Orthodoxen und Ketzern aus dem 4. Jahrhundert, heißt es im Munde eines Marcioniten (II,9): „Der Tod des Guten wird die Rettung für die Menschen“. Dieser Tod war der Preis, womit die Menschen dem Schöpfer abgekauft wurden; mit Recht konnten sich die Marcioniten für diesen Glauben auf Paulus berufen, der Gal 3,13 lehrte: „Christus aber hat uns erlöst von dem Fluch des Gesetzes, da er zum Fluch wurde für uns“ und auch auf Gal 2,20, wo bei der marcionitischen Lesart anstelle von: „[der Sohn] Gott[es], der uns geliebt hat“, stand:  „[der Sohn] Gott[es], der uns losgekauft hat“. Obschon Lietzmann in seinem Kommentar anerkennen muß, daß das „der uns geliebt hat“ „dem formalen Zusammenhang unserer Stelle fremd ist“, will er die Ursprünglichkeit der ketzerischen Lesart nicht zugeben.

Schon mit dem Titel seines Buches: „Marcion, das Evangelium vom fremden Gott“ hat Harnack auf das absolut Fremde des Gottes Marcions Nachdruck gelegt. Denn er meint nicht den bis dahin noch unbekannten Gott, sondern einen, der mit den Menschen eigentlich nichts zu tun hat, da selbst deren Seelen nicht von überweltlicher Herkunft sind. Aus lauter Gnade soll der fremde Gott sie in ihr neues Vaterhaus leiten, nachdem er sie aus ihrem eigenen elenden Vaterland erlöst hat, —hierauf kommt Harnack mit gewissem Behagen immer wieder zurück, vor allem gegen Bousset (S. 436 ff*), wie auf eine Entdeckung, auf die man stolz sein darf.  Ich räume gerne ein, daß der gute Gott die Gnade umsonst schenkt und nicht im geringsten verpflichtet ist, dies zu beweisen: Er ist in der Tat nicht der Schöpfer, Ernährer und Gesetzgeber.  Aber sollte es denn nicht denkbar sein, daß auch Marcion einen Funken dieses fremden Gottes [17] im Menschen anwesend glaubte? Die Anzahl der uns zur Verfügung stehenden Quellen und deren unsicherer Charakter  lassen es, so scheint mir, nicht zu, das Epitheton „fremd“ so zu pointieren, wie Harnack es tut (S. 118). Bei Tertullian (V,16) kann der „von Natur unbekannte und nirgends als im Evangelium geoffenbarte“ Gott des Marcion schwerlich etwas anderes bedeuten, als einen Gott, der auf natürlichem Wege unbekannt bleiben  mußte und erst dadurch sich offenbarte, daß er den Menschen näherkam. Daß ihm gegenüber von den Menschen als „Fremden und Feinden“ (extraneos et hostes) gesprochen wird, besagt nichts über ihr ursprüngliches Verhältnis zum barmherzigen Gott; sie könnten tatsächlich auch von ihm entfremdet und erst Feinde  geworden sein. In jedem Fall müssen wir, wenn die Offenbarung einen Sinn haben soll, einen Anknüpfungspunkt beim Menschen voraussetzen. Seitenweise läßt sich Harnack über die vermeintlichen Gefühle und Gedanken des Marcion aus, wodurch dieser zur Erkenntnis seines Evangeliums gekommen sein soll; mir scheinen diese Seite für die Kenntnis Harnacks wichtiger als für die Marcions. Adamantius (Dial. I 3) fragt den Marcioniten Megethius: „ Hat der Gute Mitleid gehabt mit Eigenem oder mit Fremden (allotrioi)?“ Worauf dieser antwortet: „mit Fremden“. Aber allotrioi bezeichnet auch die Aufständischen, die unter Satans Macht geraten sind. (19) Dies deutet auf Entfremdung hin. Aus der Natur der Sache hat Marcion die Fremdheit und Unbekanntheit seines Gottes um so stärker zugespitzt, als ihm der Judengott weniger sympathisch war. Ihm war das Evangelium eine Botschaft aus einer fremden Welt. Der Weltschöpfer, der Rechte auf den Menschen beanspruchen konnte, mußte bezahlt werden. Harnacks Auffassung, als ob dieses Abkaufen beweisen könnte, daß die Menschen Eigentum des Schöpfers waren (denn was einem gehört, braucht man nicht zu kaufen), ist eine  juristisch falsche Gleichstellung von Besitz und Eigentum. Der Demiurg ist in den Besitz der Seelen gekommen, die eigentlich zur himmlischen Sphäre gehören, aber daraus gefallen sind und die er sich zugeeignet hat, allerdings unrechtmäßig.  Der gute Gott kauft die an den Schöpfer Versklavten  durch Christi Tod los.  „Dem Menschen, der  Schöpfung des Demiurgen, wandte der [18] gute Gott seine Liebe zu; um seinetwillen nahm er die Mühe auf sich, um aus dem dritten Himmel zu den armseligen Elementen herunter- und heraufzusteigen und um seinetwillen ließ er sich in dieser elenden Zelle vom Weltschöpfer selber kreuzigen.“ (Tert I 14). Wie groß ist das Vertrauen in Gottes Liebe und wie grenzenlos die Verachtung der Welt, die aus diesen Worten spricht. Wenn Harnack in diesem Zusammenhang dies als eine „exorbitante aller Vernunft und Spekulation ins Gesicht schlagende Behauptung, dass niemand sie vorher gewagt hat—nur bei Paulus, wenn man ihn missversteht, kann man die finden, und dort hat sie Marcion gefunden“ bezeichnet, dann möchte ich hierbei anmerken, daß das von Harnack  (20) konstatierte Mißverständnis für den kanonischen Paulus gelten könnte, aber nicht für den ursprünglichen  Paulus, den Marcion las und der einen neuen Gottesbegriff einleitete.

Unjüdisch waren Marcions Auffassungen, aber auch ungriechisch, sagt Harnack, und verweist auf den Hymnus, den die Großkirche über Schöpfer und Schöpfung im ersten Brief des Clemens an die Korinther, Kapitel 20, dichtete. Dieses Stück römischer Liturgie ist echt katholisch; hier ist der Einfluß der Stoa, vor allem von Poseidonios (21), unverkennbar. Das stoische Moment paßt gut zum römischen Geist. Die Verbindung von Jüdischem und Stoischem ist kennzeichnend für die Propaganda-Taktik der werdenden römisch-katholischen  Kirche.

Origenes (Comm. In Ioannem 199 v.) sagt, daß die Marcioniten von prophetischen Zeugnissen im Hinblick auf Christus nichts wissen wollen; nach ihrer Auffassung hat der Sohn Gottes keine Zeugen nötig; dieser erhält seine „ausreichende Legitimation durch seine mächtigen Helilandsworte und durch seine alle in Verwunderung setzende Wundertaten.“ Mit dieser Verwerfung der alttestamentlichen Verheißungen im Hinblick auf Christus ist Marcion ursprünglicher als die Kirche, die sich aus propagandistischen Gründen dem Alten Testament immer stärker anschloß. Als Erbin der Antiken Welt im römischen [19] Sinn protestierte die Kirche gegen die stets ansteigende Springflut des antikosmischen Dualismus. Dabei konnte sie das Alte Testament mit seinem Schöpfungsgedanken gut gebrauchen.Tatian (± 180)   erzählt, (Apologie 29), daß er zufällig in gewissen barbarischen Schriften las, die zu alt waren, um sie mit den Auffassungen der Griechen zu vergleichen, zu göttlich, um sie mit ihren Irrtümern  zu vergleichen; und er begann daran zu glauben aufgrund der Schmucklosigkeit dessen was darin gesagt war, der Kunstlosigkeit ihrer Verfasser, der einfach zu begreifenden Geschichte von der Schöpfung der Welt und der Prophezeiung zukünftiger Dinge.  Im folgenden (31-41) beruft er sich auf das hohe Alter: Moses hat vier Jahrhunderte vor dem Trojanischen Krieg gelebt und ist älter als der älteste griechische Schreiber, der dann auch noch daraus  geschöpft haben soll.  Lehrreich für die Mentalität dieser Tage ist auch das Gespräch, daß der zum Juden gewordene gelehrte Heide Aquila mit Kaiser Hadrian geführt hat. Als der letztere seine Befremdung über diese Bekehrung äußerte, antwortete Aquila ihm: Ich bin Jude geworden, weil die Juden lehren, wie Gott die Welt geschaffen hat, wieviel Zeit seitdem vergangen ist und worauf die Welt gegründet ist.

Für die Propaganda der Kirche in der Heidenwelt schien das Alte Testament besonders nützlich. Hier trafen Kraft und Einfachheit zusammen. Die sittlichen Gebote und der strenge Monotheismus machten es zu einem kostbaren Besitz. Aber vor allem mußte es Eindruck machen, daß die Geschichte Jesu schon 1000 Jahre zuvor verheißen worden war, ebenso wie das Neue Gottesvolk, das sich aus allen Nationen bilden sollte. Auch der Verfasser der Predigt  des Petrus (Cl. Al. Strom. VI 15) sagt, daß er durch das Alte Testament  an Gott, den Vater Jesu Christi, zu glauben begann, weil darin Jesu Ankunft, Kreuzestod, Auferweckung und Himmelfahrt vorausgesagt wurden, vor der Zerstörung Jerusalems. (22)  Irenäus (II 3,2) sagt ausdrücklich, daß es eine große Blasphemie sei, zu behaupten, daß die Welt (wie die Gnosis meinte) ein Produkt  des Falles und der Unwissenheit von Engeln  sei. Die Kirche, die daran ging, in der Welt ihre Herrschaft zu errichten, baute unge[20]achtet ihres Interesses am Himmel den Gottesstaat auf Erden, weil die Erde ebenfalls als Werk Gottes angesehen wurde. An die Stelle des Falles von göttlichen Wesen tritt die Erbsünde. Der abgefallene und antigöttliche Kosmos wird anthropologisch auf die Menschenwelt eingegrenzt. Gegenüber der revolutionären Gnosis kommt es in Rom zum historischen Positivismus: im Zentrum steht eine einmalig in der Geschichte stattfindende Erlösungstat.  Dagegen kamen die großen Gnostiker mit ihrem unhistorischen zeitlosen Erlösungsbegriff nicht an. (23)  Die unhistorische Gnosis mußte gegenüber der Kirche den kürzeren ziehen, besaß doch diese mit ihrer Geschichte von Ereignissen in der Zeit und einer realen Heilsgeschichte ein mächtiges Instrument, um die Menge zu erreichen und zu gewinnen. Der jüdische Gott wurde zwar als ein über der Welt thronendes, aber der Welt nicht feindlich eingestelltes Wesen gedacht; die ihm zugeschriebne Schöpfungs- und Erhaltungstätigkeit bewies das. Damit konnte sich die Stoa—die mit Abstand wichtigste Philosophie der Kaiserzeit—bestens verbinden, d.h. die Lehre,  daß das, was im Kosmos herrscht und den innersten Grund  des Kosmos ausmacht, der Logos ist, die göttliche Vernunft, die zugleich das höchste geistige Prinzip des Menschen ist.  Jonas (24) setzt deutlich auseinander, wie die Kirche als Nachfolgerin Israels, nicht nur als geistiger Begriff, sondern auch als reale Volksgemeinschaft, eine Art  polis und civitas bildet und damit den Gegebenheiten der Welt hienieden Rechnung trägt. Während die Gnostiker eine rein Ich-zentrierte Frömmigkeit besaßen, eine Gottesliebe, die in mystischer Weise diese Welt negiert, fordert die Kirche Nächstenliebe und  einen durch die Liebe wirkenden  Glauben. So ist die Kirche zugleich eine soziale Realität.

Merkwürdig, daß ausgerechnet der Gott der Juden, in dessen Name der erbittertste Streit gegen die Gestirnverehrung geführt wurde,  seinen Namen von den Gnostikern mißbrauchen lassen mußte (Iao, Sabaôth, Adônaios, Elôaios, Esaldaios);  dies war sehr degradierend für deren Gott. Die sieben Archonten oder Planetengötter wurden zu einem zusammengefaßt, der sie beherrschte oder auch ersetzte: dem Demiurgen, dem Schöpfer und Gott dieser Welt, der den ungöttlichen Charakter dieser Welt symbolisiert. (25) Auch Marcion kennt nur einen Gott dieser Welt, den Schöpfergott, [21] den Gerechten, den Gott des Gesetzes, den Gott der Juden, das dem Gott der anderen Welt entgegengesetzte Prinzip. Astrologische und phantastische Vorstellungen kamen bei ihm nicht vor; er lehrte einen reinen Dualismus von Welt und „Jenseits“. (26) Wie Marcion den von mir angenommenen, von Harnack bestrittenen, Zusammenhang zwischen dem Gott der Liebe und dem Gott dieser Welt gedacht hat, wissen wir nicht. Aber wir haben keinen Grund, die Fremdheit seines Gottes gegenüber der Menschheit stärker zu betonen, als uns die Texte das derzeit erlauben. Wenn Christus durch den Himmel des Weltschöpfers herabgestiegen ist (S. 159), muß er doch auch vis et imperium, Macht und Herrschaft über die Elemente gehabt haben, was dann abermals auf eine gewisse Beziehung zwischen Gott und den Weltmächten weist. Wenn Harnack  auf die Unerkennbarkeit Gottes und auf unergründliche Seelenstimmungen zu sprechen kommt, wird er warmherzig und beredt. Aber auch er war und bleibt auf dem Boden des Autoritätsglaubens, wenngleich mit einem guten Teil Gemüt gepaart. Wie Marcion will er das Alte Testament als Heilige Schrift fahren lassen, aber nicht das Neue Testament, denn die Kirche hat einen Kanon nötig! So scheint Harnack auch als Wissenschaftler Kirchenmann und Kanongläubiger geblieben zu sein. Echte Religionswissenschaft sieht von derartigen Erwägungen ab. (27)

Der Christengegner Celsus spricht bei Origenes (C.C. V 59) über die Christen der Großkirche, die sich durch ihre enge Beziehung zum Judentum auszeichnen, aus dem sie die Schöpfungsgeschichte, die Abstammung der Menschen usw.  entlehnt haben. Das Judentum weist, wie wir bereits sagten, Verwandtschaft mit der Stoa auf, der römischen Philosophie der Kaiserzeit. Über das Verhältnis von Gott und Welt, über Gott als sittliche Person, über den heiligen Willen, der die sittliche Weltordnung, Recht und Gerechtigkeit  bewacht und sichert, über den Schöpfer auch der natürlichen Ordnung –über dies alles dachten Judentum und Stoa häufig ähnlich. Viele sogenannte jüdische Spuren im frühen Christentum (der Begriff der Überlieferung des Dogmas als notwendige Heilsvoraussetzung z.B.) sollten besser römisch genannt werden. Man kann die Bedeutung Roms für das kanonische Neue [22] Testament kaum zu hoch veranschlagen. Getaufte römische Juden könnten dazu beigetragen haben, daß solche Gedanken zur Bekämpfung der anti-jüdischen Gnosis in die Kirche eindrangen. (28)

Harnack erkennt, daß seine Rekonstruktion des Lebens des Marcion keine absolute Sicherheit beanspruchen kann (S.17*, Anm. 2). Gegenüber Gustav Krügers Auffassung, daß Marcion erst in Rom Christ wurde, setzt er die Behauptung, daß Marcion bereits früher Christ war, indem er darauf hinweist, daß nach Rufin (± 400) in Rom keine einzige Ketzerei ihren Ursprung gehabt haben soll. Dieser Hinweis Harnacks beweist jedoch in der Tat gar nichts: daß die heilige Stadt, Roma aeterna et catholica keine Wiege der Häresie sein kann, ist ein dogmatisches Axiom und hat keinen historischen Wert. Von klerikalem Standpunkt aus gilt der Spruch: „Je näher der Papst, desto schlechter die Christen“ natürlich nicht!

Zwar erkennt Harnack, daß Marcion durch seine Gegner in verschiedener Hinsicht aus böser Absicht diffamiert wurde, aber er glaubt doch, daß dessen eigener Vater ihn als Bischof exkommuniziert haben soll (S.13*) in dem Sinne von „aus der Gemeinde ausgewiesen“ (S.13*). Auch dies kommt mir unwahrscheinlich vor. Es ist von drei Exkommunikationen im Leben des Mannes die Rede: in Sinope, in Asien, in Rom. Nur die letzte wird historisch sein und Anlaß gegeben haben für die Legende der beiden anderen. Wie leicht konnte man aus der Ausweisung des Jahres 144 folgern, daß bereits der gottselige Vater mit diesem Sohn Verdruß gehabt hatte.  Der Konflikt wurde dann noch dramatischer, wenn Bischof und Vater in einer Person  miteinander stritten, mit dem traurigen Resultat, daß der Sohn ausgeschlossen wurde. Warum soll dieser Bericht historisch sein und nicht ebenso unhistorisch wie der über Marcions Bekehrung in extremis (auf dem Sterbebett, Anm. d. Ü.), auf den Harnack keinen Wert legt (S. 22*)?  Dieser Gelehrte glaubte  auch nicht an die hier und da auftauchende Geschichte, Marcion habe eine Jungfrau verführt und daß dies der Grund für die Exkommunikation durch den Vater gewesen sei. Tertullian, der derartige Mitteilungen in seiner Polemik sehr gut hätte gebrauchen können, macht davon keine Meldung und nennt den Ketzer (de praesc. 30) sogar sanctissimus.

Das eine und andere hat uns bereits genügend darauf vorbereitet, [23] nicht unbesehen zu glauben, was die Ketzerbestreiter über Marcions Schriftverfälschung geschrieben haben. Bekannt ist, daß er ein Evangelium und 10 Paulusbriefe besaß: Gal, 1. und 2 . Kor, Röm, 1. und 2. Thess, Laodicäer (im Kanon mit Eph korrespondierend), Kol, Phil, Philemon. Die drei Pastoralbriefe fehlten. Das Fehlen seines Kanons kann uns nur sehr unzureichend durch die Zitate seiner Bestreiter ersetzt werden, die alle behaupten, daß er die als kanonisch erklärte Sammlung von Paulusbriefen der drei Pastoralbriefe beraubt und in den anderen verschiedene Passagen überarbeitet habe. So sagt Irenäus (I 27,7): „Marcion kürzte die Briefe des Apostels und hat entfernt, was den Schöpfergott und die Prophetien betrifft.“ Tertullian (V 3,14) wirft ihm vor, daß er „eifrig  gestrichen“ und (V 4) weggelassen habe. Die Kirche hat den unbearbeiteten Kanon (V 13), und „der Schwamm des Marcion möge erröten“ (V 4). Auch Epiphanius sagt, daß  der Ketzer die Schrift gekürzt habe (42,9). Harnack, der den Kanon des Marcion zu rekonstruieren versuchte, hat dabei den kichlichen Berichterstattern sein volles Vertrauen geschenkt und keinen streng vergleichende Untersuchung der unterschiedlichen Lesarten vorgenommen. Er hat nicht der Tatsache Rechnung getragen, daß das Urteil der kirchlich orthodoxen Parteimänner durch ihren Glauben bestimmte wurde.  Wenn man dagegen in den Spuren von P.L. Couchoud (29) den marcionitischen Text mit dem kirchlichen objektiv vergleicht, gelangt man zu einem Resultat, zu dem W.C. Van Manen (30) im Hinblick auf den Galaterbrief bereits 1887 gekommen ist. Marcions Textstreichungen sind eine unbewiesene Sache.  Es ist leicht zu behaupten: unser Text ist der ursprüngliche, somit muß am kürzeren gestrichen worden sein. Aber Marcion besaß seinen Paulus als einzigen Apostel. Dagegen sehen wir Irenäus und Tertullian noch damit beschäftigt, diesen den Ketzern abspenstig und den Katholiken genehm zu machen. Marcion besaß nicht die geringste Veranlassung, sich auf Paulus zu berufen und ihn dabei immer dann zu bescheiden oder zu verändern, wenn ihm das recht war. Er berief sich in der Tat auf einen diffamierten [24] Zeugen, den erst er selber und die Seinen zu Ehre brachten, als die Gegner noch nicht einmal daran dachten. Was sollte ihn dann dazu genötigt haben, diesen Apostel immer wieder über den Mund zu fahren?

Die Kirchenväter mischten tendenziös ihre eigene Kritik an Marcion in dessen Worte. Schon diese Tatsache hätte eine unparteiische Wissenschaft davor bewahren müssen, den Lehrern der siegreichen Kirche Glauben zu schenken. So lesen wir bei Irenäus (III 11,9): „Auch wenn Marcion das  ganze Evangelium verwirft, ja noch schlimmer, sich von dem Evangelium losreißt, rühmt er sich gleichwohl, einen Teil des Evangeliums zu besitzen.“

Gegenüber dem ganzen, d. h. vierteiligen Evangelium des Irenäus, wird hier ironisch auf jenes Viertel angespielt, dessen der Ketzer sich rühmte. Hier legt der Kirchenvater dem Ketzer etwas in den Mund, das dieser niemals gesagt haben kann. Dieser behauptete gerade, dass er das echte paulinische Evangelium besitze. Wenn Irenäus (I 27,2) ) schreibt, dass Marcion seinen  Schülern erklärte, er sei wahrheitsliebender als die Apostel, die das Evangelium überliefert hatten, dann ist das wiederum e mente Irenaei d.h. aus des Sicht des Irenäus gesprochen. Denn Marcion hatte nur einen Apostel und erkannte nicht an, dass andere sogenannte apostolische Evangelien Autorität besaßen; das vierteiligen Evangelium der Kirche war ihm noch nicht bekannt. Von den Marcioniten behauptet Irenäus (III 2,1), „dass Sie alles besser zu wissen glaubten als die Apostel“; so etwas ist natürlich schlimm in den Augen eines Katholiken; ebenso schlimm wie der heutige Katholik es finden mag, wenn ein Protestant nicht die Autorität des Nachfolgers des Petrus als Statthalter Christi auf Erden anerkennt. Weiterhin sagt er (III 2,2), dass nach den Marcioniten die Apostel die Worte des Heilands mit legalia, d. h. gesetzlichen Dingen, vermischt hätten, was durchaus zutreffen könnte. Die das Evangelium des Lukas nach Irenäus (III 14,4) kürzenden Marcioniten haben ihr Evangelium niemals „Evangelium nach Lukas“ genannt sondern „Evangelium Christi“. Irenäus dichtet den Ketzern die Leugnung von Dingen an, die sie von ihren Standpunkt aus gar nicht leugnen konnten—aus dem einfachen Grunde, weil diese noch gar nicht existierten.

[25] Es ist kirchliches Dogma, dass uns vier Evangelium überliefert wurden (Clemens Alexandria Str. II 93); von den kirchlich nicht akzeptierten Schriften, die bei den Ketzern in Gebrauch waren, heißt es, dass wir diese nicht auf göttlichem Wege empfangen hätten, d.h. durch Christus über die Apostel (Serapion von Antiochien bei Euseb V 12, 3). Die Evangelien wurden den Gemeinden überliefert, so sagt man, aber wie weiß man nicht; ungefähr um das Jahr 200 hat man daran keine historische Erinnerung mehr. Irenäus (I 27,2; III 1,1) behauptet, dass die Apostel das Evangelium der Kirche überliefert hätten. In dem berühmten 39. Passahfestbrief des Athanasius, 376, wird die Feststellung des Kanons der beiden Testamente als ein „Werk der Augenzeugen und Diener des Wortes von Beginn an“ (Lk 1:2) dargestellt, somit der Apostel, die diese Schriften den Vätern überliefert haben.

Harnack und in dessen Fußspur  Blackman treten ganz an die Seite der Ketzerbestreiter; zwar erkennt der erste (S.12), dass die meisten nachapostolischen Schriftsteller bis Irenäus nur geringen paulinische Einfluss erkennen lassen, doch müssen die Briefe um 144 in der Gemeinde zu Rom apostolisches Ansehen genossen haben (S.34) und die Evangelien Geltung gehabt haben, die „einer absoluten Autorität sehr nahe kam“ (S.34, 79). Meine Frage lautet: wie passt es dazu, dass Justin der Märtyrer (nicht vor 150 nach Harnack, S.6*)  die Evangelien nur „Erinnerungen der Apostel“ nennt und ihnen keine kanonische Autorität zuerkennt? Darauf hat Harnack mir nicht geantwortet. Er gerät mit seiner eigenen Behauptung in Widerspruch, wenn er sagt: die vier Evangelium seien zu Marcions Zeit nicht allgemein verbreitet gewesen und seien nicht als gleichrangig mit dem Alten Testament betrachtet worden (S. 211). Vor allem müßte Marcion, nach Harnacks dogmatischer Theorie, unsere kanonische Apostelgeschichte gekannt haben; sonst hätte er sie nicht verwerfen können (S. 179, Anm. 3; 239, Anm. 1, 175, 231*)! Dies alles gehört zum Dogma des liberalen Harnack: die Apostelgeschichte kein Produkt der Großkirche, sondern eine Geschichtsquelle allerersten Ranges; die Paulusbriefe datieren aus der Mitte des ersten Jahrhunderts (S. 207 Anm.). Bei vorurteilsloserer Betrachtung müßte es doch Staunen erregen, dass die bedeutenden Briefe des Apostels erst ein gutes Jahrhundert [26] später zum ersten Mal das Licht der Öffentlichkeit erblicken, dazu noch aus der Hand eines Ketzers stammend, der sich darauf als seine spezielle Heilige Schrift beruft, während die Großkirche diese dann von ihm übernimmt und ihn am Ende auch noch beschuldigt, er hätte sie verfälscht.

Ungeachtet dessen, daß Blackman bestreitet (S. 32), man könne von Marcions Einfluss auf die kirchliche Kanonbildung sprechen, so wie dies Harnack tat, bleibt es trotzdem eine Tatsache, dass der Ketzer eine abgeschlossene Sammlung von Heiligen Schriften besaß, und zwar noch vor der Kirche, die ihrerseits erst auf der Synode von Karthago (397 und 419) mit dem heute geltenden Kanon nachzog (auch wenn Irenäus bereits ein paar Teile daraus kannte). Die Kanonbildung war zur Zeit des Irenäus und danach also noch im Fluß. Blackman steht mit seinem Urteil über Marcions Bedeutung  näher bei Zahn als Harnack. Zahn behauptete nämlich, daß Marcion seine Bibel in ausdrücklicher Opposition  zur Heiligen Schrift der Kirche gebildet hätte, von der er sich getrennt hatte; die Kirche sei sich im Widerstand gegen seine Kritik ihrerseits erst ihres Erbes an apostolischen Schriften bewußt geworden. (31) Dergleichen Untersucher wollen letztlich etwas anderes als reine wissenschaftliche Untersuchung; eigentlich versuchen sie nur, mit einem großen Aufwand an Gelehrsamkeit die Richtigkeit der kirchlichen Tradition zu beweisen. In einer Rezension des Buches von John Knox (32), der mit Harnack darin übereinstimmt, dass die Kirche durch Marcions Kanon zu ihrem eigenen Kanon angeregt wurde, und im folgenden, gemessen an den Maßstab der heutigen Theologie, große wissenschaftliche Ketzereien verkündet, scheint Blackmann (33) etwas konservativer. Knox erklärt unter anderem, dass die Paulusbriefe ihren Ehrenplatz vor den übrigen neutestamentlichen Briefen Marcions Schätzung des Paulus als des einzigen Apostels zu verdanken haben, während vor 150 die allgemeine Anerkennung des Paulus kaum so groß war, dass man dessen Schriften einen derart hohen Platz zuerkannt hätte. Orthodoxe Christen hätten an die Seite des Apostels die anderen Aposteln gestellt  (die katholischen Briefe) sowie die Apostelgeschichte, womit sie zeigen wollten, daß Paulus keineswegs der [27] einzige Apostel war und auch nicht von den anderen Aposteln abwich, die nach Marcion falsche, judaisierende Apostel waren, sondern mit den Zwölfen zusammenarbeitete. Die katholische Ausgabe des Lukasevangeliums und der Apostelgeschichte war ein Stück Reaktion der Kirche auf Marcion, ± 150 erschienen; sie versuchte das Evangelium und den Paulus das Marcion durch Erweiterungen und Einschübe zu korrigieren. (34)

Wenn Blackman mit diesem kurzen  Exposé  des Buches von Knox gemäß seinen eigenen Worten „does less justice to the detailed reasoning of this book“, dann sage ich lieber:  er macht es sich sehr einfach. Er weiß nichts von Van Manens obengenannten Arbeiten, obgleich ihm diese in der englischen Sprache zugänglich waren. (35) Seine Selbstsicherheit ist mit Blick auf die schon lange vorliegenden Erkenntnisse der niederländischen radikalen Kritik nicht zu entschuldigen. Freilich kommt Knox bei Blackman am Ende besser weg als Couchoud, und es wird Knox zur Ehre anerkannt, dass er sich dessen Theorie nicht zu eigen gemacht hat. Dies betrifft Couchouds (36) Nachweis, dass Lukas von Marcion abhängig sei, dessen Evangelium ein Proto-Lukas gewesen sein soll und dass die Synoptiker später entstanden seien als Marcion, und zwar in einem kurzen Zeitraum zwischen 135 und 145.

Über den Platz, den Marcions Kanon und dessen abweichende Lesarten in der Geschichte der christlichen Literatur einnehmen, haben viele geschrieben, zu viele, um ihren Namen hier zu nennen. (37) Von ihnen verdient der Philosoph Fr. W. J. von Schelling erwähnt zu werden, der in Tübingen im Jahre 1795 über De Marcione Paulinarum epistolarum emendatore (38])promovierte. Wollen wir sicher sein, dass die Ketzerbestreiter recht haben, wenn sie Marcion der Verfälschung der Heiligen Schrift beschuldigen, dann muss ihm zufolge die erste Frage lauten: haben sie Marcions Schriftsammlung [28] gebraucht oder nicht? Irenäus sagt nirgends, dass er diese wirklich gesehen habe. Die sogenannten Textverfälschungen scheinen bei näherer Untersuchung Korrekturen oder einfache Wortumstellungen, die man in jeder Handschrift antreffen kann. Dies macht Schelling deutlich durch eine Reihe von Beispielen. Er tritt für den Ketzer ein. Tertullian, so meint er, habe seine Lesarten auf lauter Vermutungen gegründet (S. 137) oder einem Kodex entlehnt, bei dem nicht deutlich sei, ob es sich um den des Marcion handelte. An einer Reihe von Paulustexten zeigt Schelling, daß Marcion bessere Lesarten gehabt habe als die Großkirche.

Zu den neueren Autoren, die sich mit diesem Thema beschäftigen, gehört Henri Delafosse, ein Pseudonym für  l´abbé Turmel, der in einer Reihe von Monographien über die Paulusbriefe (39) durchgängig die marcionitischen Spuren darin berücksichtigt, die nach seiner Meinung einer marcionitischen Bearbeitung der originalen Paulusbriefe zu verdanken sind; was auf diese Weise entstanden ist, wurde von der Kirche  wiederum im orthodoxen Geist retuschiert. Ich habe an Delafosse`s Versuch, mit aller Gewalt doch noch authentische Paulusbriefe aus dem Feuer seiner scharfsinnigen Kritik zu retten, zu gegebener Zeit Kritik geübt. (40) In jedem Fall kann die Lektüre dieses Autors diejenigen kurieren, die im Hinblick an der Echtheitsfrage noch an Optimismus leiden. Obschon die jüngere Generation gegenwärtig darüber klagt, daß das vorige Jahrhundert zu optimistisch gewesen sei, übertrifft sie die vorigen Generationen viel stärker an theologischem Optimismus, wenn sie sich dem römisch-katholischen Dogma der Echtheit der Bibelbücher unterwirft

Bedeutender sind für mich die Studien von Hermann Raschke. (41) Mit seiner Schlußfolgerung, dass das Evangelium des Markus das des Markus gewesen sei, braucht man nicht konform zu gehen, um seinen Beitrag zur Rehabilitierung des Ketzers zu würdigen. Die Hypothese [29] von der Identifizierung des Evangeliums des Marcion mit dem des Markus  wird unwahrscheinlich, wenn wir auf die Passagen achtgeben, die Marcion zwar mit Lukas gemeinsam hat, aber die bei Markus fehlen (Lk 11:5-8; vgl. Tert IV 26; Lk 17:19 die zehn Aussätzigen; die Heilung eines Aussätzigen Mk 1:40-45 hat ihre Parallele in Lk 5:12-16; vgl. Tert IV 35). Starkes Gewicht hat Raschkes These (S. 37), daß es sich nur um eine Vermutung des Tertullian handelt, wenn dieser sagt: „Marcion hat das Lukasevangelium ausgewählt,  um es niederzumachen“ (caederet, Tert. IV 2),  denn er sagt ausdrücklich: videtur, „es hat den Anschein“, was Unsicherheit einschließt. Auch anderswo schreibt Tertullian  (IV 4) in dieser Hinsicht schwankend. Für eine feststehende und für sich selbst sprechende Tatsache scheint er das nicht zu halten, und treffend fügt er hinzu: „Ich nenne mein Evangelium echt, Marcion das seine; ich nenne das seine verfälscht, er das meine. Wer wird zwischen uns entscheiden?“ So kann nur jemand sprechen, sagt Raschke zu Recht (S. 40), der nicht imstande ist, den Beweis für die Richtigkeit seiner Auffassung zu liefern. Er betrachtet das Evangelium des Ketzers als ein eigenes und selbständiges Werk.  Die vorausgesetzte Annahme, daß dieser das Lukasevangelium  der Kirche verstümmelt habe, ist ganz einfach aus dem folgenden Gedanken entwickelt worden:  Marcion ist radikaler Paulinist; sein Evangelium muß demnach von dem Lukasevangelium abhängig sein, das in der Tradition als das vom Paulusschüler Lukas geschriebene gilt und dass auch Tertullian (IV 5) mit Paulus in Verbindung bringt.

Epiphanius (XLII 10) sagt, daß Marcion teils kürzt und teils Dinge hinzufügt.  Raschke (S. 42) weist darauf hin, daß Harnack darauf nicht geachtet habe und verschiedene Wendungen wie: „er hat nicht“, „er schnitt weg“, „er verfälschte“, „er veränderte“ als Synonyme betrachtete und immer wieder mit  gestrichen oder getilgt übersetzte. Nun macht Raschke deutlich, daß das zwölf Mal vorkommende Wort parakoptein „falschmünzen“ bedeute, so daß Epiphanius den Ketzer geradezu als Falschmünzer von Texten erklären könne, was ebensogut „Ergänzer“ wie „Kürzer“ bedeute. Daher nennt Raschke es eine falsche Methode, von vornherein davon auszugehen, daß Gedanken, die bei seinen Gegnern vorkommen und nicht von Marcion gestrichen wurden, schon in dem Kanon gestanden hätten; bzw. Marcions Evangelium aus den verschiedenen Zitaten bei Irenäus, Tertullian, Epiphanius,  [30] Adamantius usw. rekonstruieren zu wollen. Marcion sei ein vorkatholischer Christ gewesen. Doket, Gegner des fleischlichen katholischen Christusbegriffs, der kirchlichen Gesetzlichkeit und der judaistischen Tendenz; Christus war für ihn Geist und das Christentum eine Religion des Geistes (S. 69 f.). Wahrscheinlich sei das, was Tertullian als Evangelium des Marcion bezeichnet, sein eigenes  Fabrikat, daß er frei nach Lukas anfertigte (S. 37).

Wollte ich die abweichenden Lesarten bei Marcion behandeln, würde ich für meine Ausführungen den Umfang eines dicken Buches benötigen. Ich beschränke mich auf einige sprechende Beispiele zum Beweis dafür, daß die größere Ursprünglichkeit auf seiner Seite und nicht derjenigen der Kirche war.

Ich beginne mit Gal 1,1.

Der Text lautet in der kirchlich kanonischen Fassung: „Paulus, ein Apostel nicht von Menschen, auch nicht durch einen Menschen, sondern durch Jesus Christus und Gott, den Vater, der ihn auferweckt hat von den Toten.“ Bei Marcion fehlten die Worte: „und Gott, den Vater“, von denen Harnack (S. 45, 289*) sagt, daß diese „an sich nach Jesus Christus auffallende Worte sind.“ Das sind sie in der Tat. Denn selbst, wenn man die griechische Präposition nicht mit „aufgrund von“ und „durch“ übersetzt, sondern durch „Vermittlung von“, paßt das zwar auf Jesus Christus als Mittler, aber ganz und gar nicht auf Gott, den Vater. Nun könnte man erwarten, daß Harnack sagen würde: Marcion hat die Worte gestrichen. Aber nein, er sagt: „Die Korrektur ist darin interessant, dass sie eine bestehende Textschwierigkeit zum Ausgangspunkt genommen hat.“

Ich frage: könnte die „Textschwierigkeit“ nicht vielmehr dadurch entstanden sein, daß man das Original von der ketzerischen Christologie säubern wollte: Jesus Christus, der sich selber auferweckt hat! Das wird nämlich modalistisch gedacht: Christus=Gott.  Denselben Gedanken finden wir übrigens auch Joh 10,17f, wo Jesus sagt, daß er die Macht hat, Leben zu lassen und wiederzunehmen; der Sohn hat nämlich das Leben von dem Vater in sich selber (Joh 5,26) und sagt im Tempel: „Brecht diesen Tempel ab, und in drei Tagen will ich ihn aufrichten.“ (2,19), womit er den Tempel seines Leibes meint (2,21). Auch bei Ignatius  (Smyr 2,1) lesen wir, daß Jesus wirklich gelitten hat, ebenso wie er sich auch [31] selber auferweckt hat. (42) Kein Wunder, daß die  katholische Kirche hier meinte eingreifen zu müssen; daß tatsächlich sie den Text verändert hat und nicht Marcion, beweist die Unebenheit, die dadurch im Text entstanden ist.

Ein eigenartiger Fall liegt Gal 2,5 vor: „Denen (nämlich den falschen Brüdern, die die Freiheit des Paulus auskundschafteten) wichen wir auch nicht eine Stunde.“ Tertullian (V 3) behauptet, daß Marcion „nicht“ eingefügt habe. Aber viele modernen Herausgeber halten diese Lesart für die ursprüngliche.  Offenbar hat der Ketzerbestreiter folgendermaßen argumentiert: Der Ketzer will mit der jüdischen Religion nichts zu tun haben; darum darf sein Apostel Paulus den judaisierenden Aposteln keine Zugeständnisse machen. Aber, so meint Tertullian, unser Paulus ist allen alles geworden, den Juden ein Jude, den Nicht-Juden ein Nicht-Jude, um so alle zu gewinnen 1 Kor 9,19f). Marcion wird diesen Text aus 1 Kor in der Tat kaum gelesen haben, wenigstens nicht in dieser Form.

Daß in Marcions Text von Gal 3 die Hinweise auf Abraham fehlten, erklärten die Kirchenmänner und erklären noch heute die Wissenschaftler als eine Folge seiner antijüdischen Gesinnung.  Tertullian (V 4) und Blackman sind sich darin vollkommen einig; ja, selbst die Tatsache, daß der Ketzer Abraham in Gal 4,22 zwar erwähnt, und zwar sogar mit einem „es steht geschrieben“, deuten beide auf dieselbe Weise, nämlich mit der Behauptung: er war nicht immer konsequent. Tertullian meint, daß Marcion den Namen Abrahams stehen ließ, ebenso wie Diebe oft etwas von ihrer Beute fallen lassen und dadurch den Beweis ihrer Schuld liefern. Marcion scheint Gal 3,6-9, 15-25 und 29 nicht in seinem Text gelesen zu haben. Wenn wir nun sehen, daß 3,2-5 vom Wert des Glaubens handelt, der schwerlich aus dem Gesetz kommt und ebenso 3,10, dann müssen wir erkennen, daß die beiden Perikopen gut aneinander anschließen und daß außerdem ihr Zusammenhang durch den Hinweis auf Abraham und den Zusammenhang der gläubigen [32] Christen mit diesem Erzvater—durch ein Zitat aus dem Alten Testament belegt— gestört wird. Wir erkennen hier deutlich eine judaisierende katholische Interpolation; Christen sind Söhne Abrahams, obschon sie 3,26 Söhne Gottes und nach marcionitischer Lesart „Söhne des Glaubens“ heißen. Ebenso zerbricht der Abschnitt 3,15-25 den Zusammenhang der Beweisführung, da V. 14 sehr gut an V. 26 anschließt, was V. 25 nicht tut. Hat man das alles erkannt, dann erweist sich, daß 3,29 von derselben Hand stammt wie 15-25. In 3,26 las Marcion: „Ihr seid alle Söhne des Glaubens.“ Harnack (S. 51*) kann nicht glauben, daß das in Marcions lateinischem Text  gestanden haben soll. Er vermutet, daß dieser gelesen hat: „Denn ihr seid alle Söhne Gottes  durch den Glauben.“ M.a.W. der lateinische Text sei hier falsch überliefert, Marcion selber habe dazu nicht beigetragen. „Warum soll Marcion den Grundtext geändert haben?“ Köstlich – dieses Axiom! Die sklavische Abhängigkeit des modernen Gelehrten von den kirchlichen Ketzerbestreitern! Wenn Marcion eine andere Lesart vertritt als der kanonische Text, dann muß er dafür seine dogmatischen Gründe gehabt haben, dann hat er ganz bewußt verändert.  Harnack weist auf Phil 3:9, wo die kanonische Lesart lautet: „die Gerechtigkeit  durch den Glauben an Christus, die Gerechtigkeit  aus Gott.“ Marcion las: „die Gerechtigkeit, die durch Christus aus Gott kommt.“ Man sehe nur, so Harnack, wie Marcion hier geändert habe; er ließ den Glauben weg, weil Christus ihm wichtiger war als der Glaube. Aber warum sollte er dann umgekehrt in Gal 3:25 den Glauben in den Text gebracht haben? Betrachten wir die Sache objektiver und weniger fantastisch, dann sagen wir mit Van Manen (43): die kanonische Lesart ist sekundär und die kirchliche Änderung wurde angebracht, weil in „Söhnen des Glaubens“ ein Gegensatz zu „Söhne des Gesetzes“ anklingt, der Anstoß erregen konnte. Gegen „Söhne  Gottes“ konnte niemand etwas haben.

Steht im kanonischen Text Gal 3,15:  „Ich will nach menschlicher Weise reden“, so läßt Marcion, der wie wir sahen 3,15-25 nicht hatte, diese Worte Gal 4,3 vorangehen, was Harnack „undurchsichtig“  nennt. Ich finde umge[33]kehrt, daß die Worte in 3,15 viel weniger „durchsichtig“ sind , denn dort stehen sie vor dem Bild, das menschlichen Verhältnissen entlehnt ist; bei „Paulus“ stehen  sie aber immer nach dem Bild (siehe Röm 3,5; 1 Kor 9,8). Bei Marcion bezieht sich die Formulierung auf das vorangehende: „Solange der Erbe unmündig ist, unterscheidet er sich, obschon er der Herr von allen ist, in nichts von einem Sklaven“; er hat also noch nicht das Recht, um über sein Vermögen zu bestimmen, sondern er steht unter den Vormündern und Verwaltern, bis zu der Zeit, die der Vater bestimmt hat. Hierauf folgen die Wort: „Ich spreche nach menschlicher Weise“, d.h. ich illustriere eine höhere Wahrheit mit einem Bild, das einer menschlichen Situation entlehnt ist. Darauf folgt dann, vollkommen richtig, eine geistliche  Bemerkung: „So waren auch wir. Als wir unmündig waren, waren wir den Engel- und Gestirnmächten der Welt (Elemente als Götter gedacht, Himmelskörper) wie Sklaven unterworfen. (44) Als aber die Fülle der Zeit gekommen war, sandte Gott seinen Sohn“. Daß ein aus dem Himmel gesandter Gottessohn von einer Frau geboren wurde, ist keine Aussage, die Marcion aus tendenziösen Gründen gestrichen hat, sondern wurde sehr offensichtlich von dem katholischen Redaktor eingefügt: eine dogmatische Ergänzung zur Abwehr des Doketismus, d.h. jener Leugnung des Realismus (45), die Christus nur einen Scheinleib und einen Anschein des Menschseins zuerkannte. Dieser Doketismus, der nach Hieronymus (adv. Lucif. 23) so alt ist wie das Christentum selber (Hieronymus schreibt einmal: „Das Blut von Christus  war noch frisch in Judaea, als sein Körper bereits ein Phantasma, d.h. Ergebnis von Einbildung, genannt wurde“), dieser  Doketismus war die Konsequenz der gnostischen Vorstellung, daß die Materie das Böse sei. Wie sehr sich die werdende Kirche gegen diese Auffassung wehrte, wird aus den Worten des Irenäus deutlich (III 11,3): „Es gibt keinen einzigen Ketzer, der die Auffassung vertritt, daß Gottes Logos Fleisch geworden sei“. Obschon das Neue Testament in unserer kanonischen Form diesen Doketismus als eine der gefährlichsten Ketzereien bekämpft, gibt es doch Spuren dieser Vorstellung darin, namentlich bei Paulus, Röm 8:3, wo Christus „in der Gestalt des sündigen Fleisches“ erschienen sein soll; m.a.W. sein Körper schien nur fleischlich, er war nur die Nachbildung eines gewöhnlichen Körpers  aus sündigem Fleisch.

[34] Daß Christus als „unter das Gesetz getan“ bezeichnet wird  (Gal 4,4), steht im Gegensatz zu 3,10, wo Marcion nicht las, was der Redaktor daraus gemacht hat und was offensichtlich einer fremden Ausdrucksweise entspricht: „Alle, die aus den Werken des Gesetzes sind, sind unter dem Fluch.“ Marcion las deutlicher: „Alle, die unter dem Gesetz sind, sind unter dem Fluch.“ Hätte Christus, wie die kirchliche Lesart es will, unter dem Gesetz gestanden bzw. wäre er darunter geboren, dann hätte er selber unter dem Fluch gestanden und hätte andere nicht erlösen können. Erst am Kreuz wurde Christus zum Fluch (3,13). Die Lesart des Marcion: „Gott sandte Gott seinen Sohn, damit er die unter dem Gesetz loskaufte, damit wir die Sohnschaft erlangten.“ Das Gesetz als eine gottfeindliche Macht, die zu den stoicheia oder Elementen dieser Welt gehört, das ist gnostischer Dualismus.

Gal 4,8 lautet im katholischen Text: „Aber damals, als ihr Gott nicht kanntet, dientet ihr den von Natur nicht seienden Göttern.“ Marcion las stattdessen:  „die Götter, die in der Natur sind“, die Naturgottheiten also. Dies bezeichnet Harnack (S. 46 und 75*) als eine von Marcions „frappanten Korrekturen“; diesem sei es nämlich wichtig gewesen, daß die Götter der Heiden als Naturgottheiten bezeichnet würden, während ihm ihre Bezeichnung als Nicht-Gottheiten  unbequem war, mit Blick auf den Demiurgen und dessen Engel. Blackman geht hier mit Harnack; es sei für Marcions Theorie ein integraler Bestandteil gewesen, dass heidnische Götter reale Wesen waren, Naturgottheiten und Engel des Demiurgen. Aber, so frage ich, ist dieser Gedanke unserer kanonischen katholischen Heiligen Schrift wirklich fremd? Keineswegs, vgl. 1 Kor 2,8, wo von der Weisheit Gottes gesagt wird, daß keiner der Herrscher dieses Äon  sie kannte. Die Herrscher sind wiederum die heidnischen Gottheiten, die von den Christen als Dämonen angesehen wurden. Deren Existenz wurde nicht von ihnen geleugnet, aber die hatten nach ihrer Auffassung kein Anrecht auf den Namen Götter, vgl. 1 Kor 10,20f. Auch 2 Kor 4,4 ist von dem „Gott dieser Welt“ die Rede, offenbar eine dem christlichen Gott untergeordnete Gottheit;  der „Fürst dieser Welt“ heißt er bei Johannes (12,31; 14,30; 16,11): der „Fürst der Mächte der Luft“ (Eph 4,27; 6,11). Anderswo wird er der „Teufel“ genannt (Eph 4,27; 6,11)  oder der „Böse“ (6,16). Von „Mächten und Gewalten“ spricht Kol 2,15. Die Realität dieser göttlichen Wesen außerhalb Gottes und Christus [35] wird durch den katholischen Text des Neuen Testaments somit zwar anerkannt, aber sie sind durch Christus im Prinzip überwunden. Man vergleiche Röm 8,38f, 1 Kor 15,24-26. Die marcionitische Lesart von Gal 4,8, die neben dem guten Gott noch Raum ließ für einen niederen Schöpfergott, scheint die ursprüngliche zu sein. Meinte Harnack, daß Marcion hier eine frappante Korrektur angebracht  habe, so hindert uns umgekehrt nichts, in dem kirchlichen Bearbeiter den Textverfälscher zu erkennen.

Tertullian V 4 höhnt, daß Gal 4,22ff die einzige Stelle sei, wo Marcion „Abraham“ stehengelassen habe. Dieser konnte, so scheint mir, keine Einwände haben gegen den allegorischen Gebrauch des alttestamentlichen Berichts. In jedem Fall hätte der systematische Beschneider der paulinischen Briefe, für den man unseren Ketzer hält, hier einmal Lob verdient; denn daß er diese ganze Perikope Gal 4,22-31 über Abrahams zwei Söhne übersehen haben soll, kann man  von einem so kritischen Ketzer nicht erwarten. (Eine Anmerkung am Rande:  das juristische System, das dieser Allegorie zugrunde liegt, ist eher griechisch oder römisch als jüdisch. (46)) Wie stark Harnack unter dem Einfluß Tertullians steht, wird deutlich, wenn  er zu den Worten „aber es steht geschrieben“  anmerkt (S. 75*): (die Worte) „können bei Marcion gestanden oder gefehlt haben (vor einem gegraptai scheute sich M. unter Umständen nicht).“ Es ist wahrhaftig, als ob man Tertullian selber hören würde. Indessen hat Marcion doch die verständlichste Lesart, wenn er die beiden Frauen des Abraham allegorisch erklärt als jüdische Synagoge und heilige (christliche) Kirche. Der katholische Text steht dem Judentum versöhnlich gegenüber  und ersetzt die zwei total verschiedenen, gegensätzlichen Größen durch zwei Bundesschlüsse (diathèkai), ja durch zwei Jerusalems. Verworren die Vorstellung: „Hagar ist der Berg Sinai in Arabien“, so daß danach die Mutter der heidnischen Araber die Juden symbolisiert. Zum Schluß stellt der kanonische Text nicht, wie Marcion, Gesetz und Gnade gegenüber, nicht einmal die beiden Bundesschlüsse, sondern das Jerusalem, das von den Römern unterworfen wurde, und das himmlische [36] Jerusalem, das wir in der Offenbarung des Johannes beschrieben finden.  Es ist undenkbar, daß Marcion aus diesem verworrenen katholischen Text seine klaren Aussagen entwickelt haben soll; dagegen ist es vollkommen verständlich, dass Marcions klarerer Text aus dogmatischen Gründen bearbeitet wurde, und zwar  ungeschickt. Der Bearbeiter hat dann noch die Worte, die Marcion hier über die christliche Gemeinde las, weggelassen und nach Eph 1,21 versetzt:  sie lauten: „über jede Macht, Kraft, Herrschaft und jeden Namen, der genannt wird,“ aus dem nach Eph 1,21 übertragenen Text hat  er dann einen Hymnus auf Christus gemacht.

Daß Gal 4,27-30 eine Einfügung eines kirchlichen Redaktors ist, wird deutlich, wenn wir wissen, daß dieser, sofern er erst einmal die jüdische Bibel zitiert hat, es nicht lassen kann, auch noch verwandte Texte hervorzukramen  (hier Jes 54,1). Vers 31 schließt gut an V. 26 an.

Die katholische Lesart von Gal 5,14 steht im Widerspruch mit 5,3, wo gelehrt wird, daß derjenige, der sich beschneiden läßt, schuldig ist, das ganze Gesetz zu erfüllen. Heißt es nun 5,14: „Denn das ganze Gesetz ist in einem Wort erfüllt, in dem: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!«“, dann widerspricht dies 5,3. Deswegen hat Sieffert (47) darauf hingewiesen, daß  das hier gebrauchte Verb plèroen, „erfüllen“ bedeutet, aber nicht „zusammenfassen“, wie der Verfasser  meint. (48) Dann wird die marcionitische Lesart klarer: „Denn das ganze Gesetz ist bei euch erfüllt »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.«“Das ist keine tendenziöse Textveränderung des Ketzers, wie Harnack (S. 47, 153*) meint und auch Blackman (p. 44), da nicht an die  Juden gedacht ist. Beide erkennen ja auch, daß G, cod. Boernnerianus (9. Jh. Dresden) und D, Claramontanus (6. Jh., Paris) ebenso wie Marcion „bei euch“  lesen, was Harnack, getreu seiner Devise „der Ketzer fälscht“, zu der Annahme veranlaßt, die zwei Worte seien auch in die kirchliche westliche Überlieferung eingedrungen. Um den armen Ketzer doch noch der Fälschung zu bezichtigen, sagt Blackman: die Worte passen so gut zu Marcions Lehre, daß sie vielleicht wahrscheinlicher (man achte [37] auf die schwebende unsichere Ausdrucksweise bei dem Theologen!) eine tendenziöse Änderung des Marcion sind und der Beweis dafür, daß diese Lesart wahrscheinlich den westlichen Text beeinflußt hat.

Bot mir der kurze Brief an die Galater viel Gelegenheit, um die Ursprünglichkeit des Textes des Marcion nachzuweisen, so würde eine ähnliche Behandlung der übrigen neun Paulsbriefe und seines einen Evangeliums die Grenzen des Umfangs dieser Studie bei weitem überschreiten. Ich werde mich daher auf einige besonders auffallende Beispiele beschränken.

1 Kor 15,1-3 weisen ein wiederholtes „gemäß den Schriften“ und die Worte „was ich empfangen habe“ auf katholische Bearbeitung; in Marcions Text fehlten alle drei Einschübe. Nach Harnack (S. 91*) hat der Ketzer diese ursprünglichen Textbestandteile gestrichen, was ein typisches Beispiel seiner  antiklerikalen Tendenz sein soll. Aber Harnack muß anerkennen, daß die Worte „was ich empfangen habe“ auch bei Irenaeus, Tertullian, Hilarius, Ambrosius, Ambrosiaster usw. fehlen; „wohl Einfluss des marcionitischen Textes“. Oder des originalen, noch nicht durch kirchliche Bearbeitung im judaisierenden Sinn interpolierten Textes?  Daß die Auferstehung Christi durch alttestamentliche Verheißungen  bestätigt wird, finden wir sonst bei „Paulus“ nicht. Der Katholik legt darauf Nachdruck gegenüber den Marcioniten, die tatsächlich die Auffassung vertraten, daß Christus als Offenbarung des guten Gottes nichts mit dem Alten Testament zu tun hat, dem Produkt des Demiurgen. Naiv und doch in diesem Zusammenhang nicht ohne Bedeutung ist die Bemerkung von H.D. Wendland (49):  „Der Schriftbeweis bestätigt, daß die Gemeinde Christi wirklich das wahre Gottesvolk ist.“ Der Apostel Marcions brauchte dafür keinen Beweis aus dem Alten Testament.

Liest der katholische Text 2 Kor 3,14, daß „die Gedanken der Israeliten verhärtet“ (oder „verstockt“) waren, so las Marcion:  „die Gedanken des Kosmos“. Harnack nennt das „eine schwerwiegende Korrektur.“ (S. 97*), Marcion soll den Kosmos als den Weltschöpfer aufgefaßt haben; dessen Gedanken waren „verstockt“.  Nun frage ich mich, ob Marcion mit kosmos = mundus nicht den natürlichen Menschen, speziell die Juden [38], gemeint haben kann.  Tertullian sagt zu mundi: „in keinem Fall den Schöpfer, sondern das Volk in der Welt (V.11). Der Unterschied zwischen den beiden Lesarten erscheint mir nicht bedeutend.

Der katholische Text liest 2 Kor 7,1: „… laßt uns von aller Befleckung des Fleisches und des Geistes uns reinigen“. Marcion, der statt des Geistes las des Blutes, soll an dieser Stelle  nach Harnack wiederum tendenziös geändert haben (S. 48, 100*). Ich meine nicht. Der Ausdruck „Fleisch und Blut“ für den natürlichen Menschen ist bekannt. (50) Dann meint Marcion, daß wir uns reinigen sollen von der Verschmutzung durch Fleisch und Blut (Genitivus subjektivus). Der Redaktor machte daraus einen Genitivus objectivus, um anzudeuten, daß wir sowohl Fleisch als auch Geist verunreinigen.  Dass aber der Geist verunreinigt werden kann, ist ein unpaulinischer Gedanke. Pneuma als Gegenüber des sôma (Körper), sarx (Fleisch) steht Mt 26,41: Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach, vgl. Mk 14,38. So  auch an einer Reihe von Stellen bei „Paulus“, z.B. Röm 9,8f; 7,18; 8,3; 13,14 usw.

Nach Harnack (S. 103*) sind Röm 1,19-2,1 durch Marcion „sehr wahrscheinlich getilgt“. Tertullian V 13 sagt in diesem Zusammenhang, daß der Ketzer in dem Brief an die Römer die meisten foveas („Gruben“) aufweise, indem er wegließ, was ihm gefiel. Der Ketzerbestreiter argumentiert mit der Auskunft:  „Das soll aus der Integrität unserer Schrift deutlich werden.“ Die allerdings erst noch zu beweisen wäre! Wenn also nun diese Perikope über die Heiden, über die Gottes Zorn ergeht und die darum bestraft werden, bei Marcion fehlt, meint Harnack, daß dem Ketzer dieses Stück „natürlicher Religion ebenso zuwider sein musste, wie der Gedanke, dass die Menschen den schwärzesten Lastern zur Strafe preisgegeben werden“. In der Tat haben wir hier ein Stück Religionsphilosophie in stoischem Stil vor uns, vgl. was Ps. Aristoteles (51), de mundo, lehrt: „Gott wird, obschon unsichtbar, aus seinen Werken erkannt“ mit Röm 1,20. Die ganze Perikope enthält eine Reihe von Parallelen zur Weisheit des 39] Salomo, Philo usw. Das alles steht in Übereinstimmung mit meiner Auffassung, daß hier der katholische Redaktor dabei ist, Marcions „Paulus“ mit alttestamentlichen und hellenistisch-philosophischen Ausführungen zu ergänzen.

In einem folgenden Aufsatz hoffe ich auf weitere Unterschiede zwischen Marcions Text und dem katholischen hinweisen zu können und damit das bisherige Ergebnis zu bestätigen

Fortsetzung folgt.

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(1) „Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum“. Tübingen 1934.

(2) „De oudste Christelijke Geschriften“,. s` Gravenhage, 1946, S. 22.

(3) „Theol Literaturztg.“ 1888, no. 14,19 Juli, Kol. 348 f.

(4)  In „Nieuw Theol. T.“, 1921, S. 218-226.

(5) Das Werk hat einen tiefer gehenden Kritiker gefunden (im „Bijblad van de Hervorming“, 1888, no. 2, 28 Februar) in J. van Loon

(6) So Eugène de Faye, „Gnostiques et Gnosticisme“. Paris 1913, S. 147.

(7) Vgl. meine „Oudste Christelike geschriften“, S. 21 f.

(8) Vgl. Harnack, S. 76, Anm. 2

(9) Wie E.C. Blackman, „Marcion und sein Einfluß“, London 1948 meint.

(10) De praescr. haer. 7

(11) Apologeticum 46

(12) Adv. Marcionem I 1.

(13) De praescr. haer. 17-19. Ernest Bosshardt, « Essai sur l´originalité et la probité de Tertullien das son traité contre Marcion », Florence 1921, findet Tertullian im Vergleich mit anderen Ketzerbestreitern und mit deren Bekämpfung anderer Ketzer  korrekter und gemäßigter.

(14) Harnack, „Marcion“, S. 20.

(15) A.a.O. S. 221*, 235*.

(16) S. 44*.

(17) Hans Jonas, „Gnosis und spätantiker Geist“. Teil I „Die mythologische Gnosis“, 2. Auflage Göttingen, Vandehoeck und Ruprecht, 1954. Teil II, 1: „Von der Mythologie zur mystischen Philosophie.“

(18) A.a.O., I S. 81.

(19) Vgl. Sophokles’ „Greek Lexicon“.

(20) Ein Artikel aus: „Die christliche Welt“ 43, 1929, S. 362-`70, abgedruckt in: Adolf von Harnack, „Aus der Werkstatt des Vollendeten“ Giessen, 1930, S. 128ff. ist das letzte, was dieser Gelehrte über Marcion publiziert hat. Darin findet man das Zitat, das ich oben kritisiere.

(21) „Recherches des Sciences religieuses“, 12 (1922, S. 73-85).

(22) Vgl. meinen Aufsatz in „N.T.T.“ 1936, S. 11-128: „Het Oude Testament als Christelik geschrift“.

(23) Vgl. Hans Jonas a.a.O. I S. 155, 227.

(24) A.a.O. II 1, S. 31ff.

(25) A.a.O. I, S. 167 und Fußnote, S. 228ff.

(26) I S. 231.

(27) Vgl. „N.T.T.“, 1921, S. 223ff.

(28) „Oudste Christelijke Geschriften“, S. 24f.

(29) „Premiers écrits du Christianisme“, Paris-Amsterdam, 1930, S. 7 : « La première édition de Saint Paul »..

(30(30) In „T.T,“ 1887, S. 382ff und in „Paulus II“, 1891, S. 107ff.

(31) Theodor Zahn, „Geschichte des neutestamentlichen Kanons“ I, S. 586,

(32)  „Marcion and the New Testament. An essay in the early history of the Canon”. Chicago 1942, S. 98.

(33) Blackman, S. 38-41.

(34) Knox, Marcion, S. 139.

(35) Siehe Cheyne´s „Encyclopaedias Biblica“ III. London 1902, 3620-´38. Whittaker „The Origin of Christianity“ 2.ed. London 1914, S. 108 sq. Mein “Radical Views about the N.T.”. London 1912, S. 86.

(36) In „Hibbert Journal“ 34, S. 265-277: „Is Marcion´s Gospel one of the Synoptics?”

(37(37) Unser Landsmann D. Harting gibt in einer lateinischen Dissertation aus dem Jahre 1849 eine Übersicht über die Vorgänger auf diesem Gebiet,

(38) „Sämmtliche Werke“ I, Stuttgart u. Augsburg, 1856, S 113-148.

(39) 1926-´28 in Couchoud´s „Christianisme“, 12,17,23,28, Paris, ed. Rieder et Cie.

(40) In „N.T.T.“ 1925, S. 159f: 1929, S. 268-270.

(41) „Werkstatt des Markusevangelisten. Eine neue Evangelientheorie“, Jena 1924. Ein Kapitel „Markion und sein Evangelium“, S. 31ff. ist erstmals erschienen in „N.T.T.“ 1923, S. 28-44. Vgl. auch „Der Römerbrief des Markion nach Epiphanius“ in „Abhandlungen und Vorträge der Bremer wiss. Ges.“. Dez. 1926, S. 128-201.

(42) Robert Eisler hat in „Eranos“, Jahrbuch 1935, S. 352, den ursprünglichen Charakter  der marcionitischen Lesart in Gal 1:1 nicht verstanden; darum konnte er sagen, daß  derselbe „Verfälscher“ in 1 Kor 15:20 „Christus ist auferweckt“ ersetzt hat durch: „Christus wird als Auferstandener gepredigt.“

(43) Schon in „Theol. T.“ 1887, S. 481.

(44) Vgl. Kol 2:8; 1 Kor 8:5; 2:6; 6:8; Eph 6:12.

(45) Bolland „Het Evangelie“, Leiden 1919, S. 108.

(46) So Ramsay in seinem Kommentar, S. 433ff.

(47) In dem Meyerkommentar.

(48) Mit Walter Bauers Übersetzung in seinem „Griechisch-Deutschen Wörterbuch“, Sp. 1222 kann ich mich nicht anfreunden: „d. ganze Gesetz hat in einem Wort s. ganzen Inhalt od. s. vollen Ausdruck gefunden“.

(49) „Das Neue Testament deutsch“ 7, 1932, S. 79.

(50) Vgl. Mt 16:17: Gal 1:16; Eph 6:12; 1 Kor 15:50.

(51) Stoiker aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert. – Auch bei Cicero, Tusc. I. 29, 70 und Seneca, Ep. 41,3 findet man diese Vorstellung.

Teil 2

Übersetzung aus dem Niederländischen von Frans Joris Fabri,  2001

Einem bekannten Zitat aus Horaz zufolge ist sogar der gute Homer manchmal ein bisschen geistesabwesend. Dieser Satz fiel mir ein, als ich bei HARNACK[1] die folgenden Ausführungen las. Auf die Frage Tertullians (I 27), warum Marcion, da sein Gott doch reine Güte sei, nicht „auf Teufel komm heraus“ sündige (eine reichlich banale katholische Moral!, antwortet der Häretiker: „absit, absit“ = „das sei fern von mir“.  Dem entnimmt Harnack, dass Marcion es für unnötig hielt, die Gläubigen in Sachen Moral noch speziell zu motivieren. Dieses „absit“ bezeichnet er dann als ein „religionsgeschichtliches Dokument ersten Ranges“, jedoch hätte er diese Ehre nicht dem Marcion, sondern Marcions Apostel Paulus (Röm. 6:15 ‚mè genoito’ = absit) zukommen lassen sollen.

Der Redaktor hat an den bei Marcion ursprünglicher klingenden Texten Änderungen angebracht. Seine Dogmatik bringt mit sich, dass er nichts wissen will von Marcions Unterscheidung zwischen einem Schöpfergott und einem Gott, der mit dieser Welt nichts zu tun hat. Er setzt den Gott des Alten Testamentes als identisch mit dem des Neuen. Aber manchmal übersieht er doch einen mit dem kirchlichen Monotheismus nicht im Einklang stehenden Ausdruck. Das sieht man in 2 Kor. 4:4, wo der Gott dieses Äons erwähnt wird, der die Sinne der Ungläubigen geblendet hat, so dass sie das Licht des Evangeliums von der Herrlichkeit Christi nicht erblicken. Dieser ist offensichtlich ein niedrigerer Gott als der Vater Jesu Christi. WINDISCH[2] hat schon festgestellt, dass der Autor hier „ganz gnostisch spricht“; weniger korrekt war seine Ansicht, dass der Gott dieses Äons oder dieser Welt Satan sein müsse.[3] Ich denke hier eher an Marcions Schöpfergott-der-Juden (vgl. Röm. 8:20; 1 Kor. 2:8; 15–24). Ptolemaeaus’ Epistula ad Floram nennt den Gott des Mosaischen Gesetzes, den Weltschöpfer, den gerechten Gott und als diesen gewiss nicht den Bösen – aber doch auch noch nicht den [4] Guten Vater. Cerinthus, ein Jude aus Vorderasien am Anfang des 2. Jahrhunderts, der ägyptische Weisheit in sich aufgenommen, aber Beschneidung und Sabbatsfeier nicht abgeschafft hatte, betrachtete die Schöpfung und das Gesetz nicht als Werke des Allerhöchsten, sondern als die eines niedrigeren Gottes bzw. Anführers der Engel, der den Allerhöchsten nicht einmal gekannt habe. Es sei ja erst der Christus in Jesus gewesen, der nach dessen Taufe den bis dahin unbekannten Vater offenbart habe.[4] Noch der Autor von 2 Clemens 3: 1 und 3 sagt, dass die Christen den Vater kennenlernten durch Christus, während die Juden sich nur einbildeten, Gotteserkenntnis zu haben. Diese Unterscheidung zweier Götter schimmert noch durch in unserm kanonischen N.T., zum Beispiel in Joh. 8 : 44, wo die Rede ist vom Vater, dem Teufel; die Juden sind Kinder desselben Vaters, des Demiurgs. Marcion (Tert. II 10) nannte diesen Demiurg auctor diaboli und den Teufel angelus creatoris (V 16).[5]

Auch bei „Paulus“ begegnet uns dieser Demiurg, obgleich  die Überarbeitung ihn in den Hintergrund gedrängt hat. Paulus zufolge stammt das Gesetz nicht vom Vater der Christen (Röm. 8 : 3; 3 : 20–22), der das Evangelium, den Glauben und die Gnade schenkt, welche alle drei dem Gesetz entgegen stehen (Röm. 3 : 21; 8 : 32: 2 Kor. 3 : 6–17; Gal. 3 : 10ff.; 19). Auch WINDISCH hat gesehen, dass der gnostisch-marcionitische Radikalismus zum Großteil durch Paulus vorbereitet und inspiriert wurde. Gott lasse sich nicht ein auf die vernunftlose Schöpfung; diese sei der Vergänglichkeit unterworfen worden durch denjenigen, der sie unterworfen habe, d.h. durch den Demiurgen (Röm. 8 : 20). Dieser oberste Herrscher der Welt habe unter sich die Herrscher dieses Äons, die den Herrn der Herrlichkeit nicht gekannt und infolgedessen sich an ihn vergriffen hätten (1 Kor. 2 : 8); es gebe viele Götter und Herren (1 Kor. 8 : 5), dämonische Mächte, welche Christus vernichten werde (1 Kor. 15 : 24). Im Brief an die Epheser (Marcion kannte ihn als Brief an die Laodicener) ist in 2 : 2 die Rede von einem Wandel „nach der Art des Äons dieser Welt, des Herrschers der Mächte im Bereich der Lüfte“, des Luftraums zwischen Himmel und Erde, einer Macht außerhalb Gottes, welche über die Materie herrsche, die [5] in unserm materiellen Leib wirke. Christus habe Fürsten und Gewalten entwaffnet und sie besiegt (Kol. 2 : 15). Der Herr oder Fürst dieser Welt habe die Erschaffung einer bösen Welt auf dem Gewissen; diese Schöpfung müsse rückgängig gemacht  werden (1 Kor. 15 : 24–28). Ein Vorläufer dieser Gedankengänge war Philo. Bei ihm preist Gott an seiner Schöpfung den materiellen Anteil nicht, denn dieser sei unbeseelt, gebrechlich, könne aufgelöst werden, sei ungleich und ungleichmäßig (qu. rer. div. 180).

So konnte der nur gerechte und nicht im ganzen gute Gott leicht zum Bösen werden, insbesondere im Vergleich zum liebevollen Vater. So z.B. in Eph. 6 : 11, wo von den Listen des Teufels die Rede ist; daraus folgt (vs. 12): „Denn wir kämpfen nicht gegen Fleisch und Blut, sondern gegen Fürsten und Gewalten, gegen die Beherrscher dieser Welt der Finsternis, gegen die Geister des Bösen in den Lüften“. Wenn es jedoch von Jesus Christus heißt: „wegen unserer Sünden hingegeben und wegen unserer Gerechtmachung auferweckt“ (Röm. 4 : 25), dann bedeutet dies nicht: hingegeben dem Teufel, sondern dem Schöpfer. Durch diese Hingabe habe der Vater seinen Sohn als Lösegeld bezahlt, um die Sünden dem Gesetz gegenüber frei zu kaufen (vgl. Röm. 8 : 32; 1 Kor. 5 : 7; Gal. 3 : 13; auch Joh. 1 : 29, wo Jesus Lamm Gottes heißt, weil er anstelle des Osteropferlammes kommt).

Es ist Marcions Paulus, den wir aus dem bereits zitierten Text von Eph. 2 : 2 heraushören: Der Schöpfergott hat dem Menschen einen fleischlichen Leib gegeben, um ihn sündigen zu lassen und so Grund zu haben, seinen Zorn über ihn auszugießen. In dieser Weise sind die Menschen Söhne des Zorns, insofern ihre fleischliche Natur automatisch zur Sünde führt, worauf dann die Rache des Schöpfers folgt. Nach ihrer Erlösung sind sie das Werk (2 : 10, die Vulgata hat factura) des guten Gottes, erschaffen in Christus Jesus. Kommt auch der Leib nach dem Fleische vom Schöpfer; wenn sie Christen geworden sind, ziehen sie den neuen Menschen an, der von Gott erschaffen wurde. Dies alles ist Gnosis. Der katholische Herausgeber hat aber Änderungen angebracht. Wir sehen das in 3 : 5: dem Apostel wurde das Mysterium offenbart, ein [6] Mysterium (3:4), „das den Menschen früherer Generationen nicht bekannt gemacht wurde, wie es jetzt offenbart worden ist“. Wir haben hier eindeutig eine gnostische Vorstellung. Die gleich danach folgenden Worte: „an seine heiligen Apostel Propheten“ gehören zur Überarbeitung. ‚Heilige’ Apostel kommen sonst im N.T. nicht vor, es handelt sich um eine katholische Qualifizierung. Diese Elite-Kategorie erwirbt die Kenntnis vom Christusmysterium durch Offenbarung, die große Menge durch die Verkündigung. Den Äonen, die man hier personalisiert sehen muss, blieb dieses Mysterium verborgen (3 : 9). Beim Lesen des katholischen Textes: „In Gott, der alles erschaffen hat“ fragen wir uns: wozu diese nähere Bestimmung? Sinn macht in diesem Kontext nur die Lesart des Marcion: „(verborgen) dem Gott, der alle Dinge erschaffen hat“. Kein Wunder dass Tertullian von der katholischen Lesart ausgehend behauptete: „Marcion hat das in gestrichen“, aber er verschwieg nicht, dass die Marcioniten die Katholiken beschuldigten, das in eingefügt zu haben. Wer der obigen Argumentation ohne Vorurteil gefolgt ist, wird HARNACKs Bemerkung (S.50), in der er auf „Marcions berüchtigtste Streichung“ hinweist, amüsant finden. Als wäre der Häretiker ein Fälscher von Banknoten oder Wechseln gewesen! Das Bemerkenswerteste am ganzen Vorgang ist aber, dass Marcions Lesart ohne „in“ sich auch in der Handschrift vom Sinai (Codex Sinaiticus, Aleph) findet. BLACKMAN (S. 45) ist ehrlich genug, um diese Tatsache zu erwähnen, aber sagt: „but no importance can be attached to this“.

Auch Eph. 2: 20 verlangt unsere Aufmerksamkeit. Der uns überlieferte Text lautet: „(Ihr seid) auf das Fundament der Apostel und Propheten gebaut“. Bei Marcion fehlen die Worte „und Propheten“; der Katholik wollte die Apostel durch die alttestamentlichen Propheten sekundiert sehen (vgl. was ich oben aus Anlass von 3 : 5 bereits ausgeführt habe).

In Eph. 5 : 22 – 6 : 9 werden die Pflichten der verschiedenen sozialen Klassen beschrieben; zunächst die der Ehegatten. In der katholischen Variante lesen wir: „Wer seine Frau liebt, liebt sich selbst“, bei Marcion heißt es: „Sein eigenes Fleisch liebt, wer seine Frau liebt, wie auch Christus die [7] Kirche“, d.h. ungeschlechtlich. Hier spricht die frühchristliche Askese, wie sie sich äußert in Christi Wort Mt. 19 : 12 : „Es gibt Verschnittene von Geburt an, manche sind durch Menschen kastriert worden, und es gibt auch welche, die sich selbst kastriert haben um des Himmelreiches willen“; womit dann noch Origenes bitteren Ernst gemacht hat. Dieses Wort wird dann auch als ein geheimnisvolles Orakel vorgetragen, wobei Jesus vorausgehen lässt: „nicht alle verstehen dieses Wort, sondern nur die, denen es gegeben ist“, und abschließend noch einmal sagt: „der es fassen kann, fasse es!“ KLOSTERMANN stellt in seinem Kommentar die Frage, ob diese Selbstkastration um des Himmelreiches willen geschieht, um für dieses Reich zu arbeiten oder um es zu gewinnen. Die Römische Kirche, der wir die Platzierung dieses logion zu verdanken haben, hat anscheinend ersteres gemeint. Sie verstand diesen Ratschlag als an die Adresse einer Elite kirchlicher Heiligkeit gerichtet, während vorher die Probleme der gläubigen Menge, Eheprobleme, abgehandelt würden. Die alttestamentliche, jüdische Forderung von Gen. 2 : 24 verlangt vom Manne, dass er Vater und Mutter verlasse und seinem Weibe anhange und dass die beiden ein Fleisch werden (Mt. 19 : 5). Etwas derartiges ist effizienter für Fortbestehen und Wachstum einer Kirche auf Erden als die einseitige Empfehlung der Selbstentmannung, wie sie beispielsweise die russischen Skopzen des 18. Jahrhunderts vertraten. Aber die frühchristliche Aszese, deren Vertreter Marcion war, obwohl sie in seiner Kirche aus praktischen Gründen auch schon abgeschwächt wurde, scheint doch immer noch deutlich im Hintergrund des katholischen Neuen Testamentes durch. So in Lk. 14 : 26, wo gefordert wird, Vater und Mutter zu verlassen, nicht jedoch um seiner Frau zu folgen; denn auch diese Frau, die Kinder, Brüder, Schwestern und das eigene Leben soll man hassen. Die Bewahrung der Jungfräulichkeit gilt als Ideal in 1 Kor. 7 : 27b: „Bist du ohne Frau, dann suche keine“ und in vs. 29b: „Daher soll, wer eine Frau hat, sich  in Zukunft so verhalten, als habe er keine“. Das ist doch eine deutliche Aufforderung, den geschlechtlichen Umgang miteinander in der Ehe zu meiden, obwohl vs. 28 diese wiederum wohlwollender sieht, indem sie nicht-sündig genannt wird. Der unjüdische, gnostische Gedanke: „Es ist gut für den Mann, keine Frau zu berühren“ (7 : 1) wird auch gleich wieder als für [8] die Menge unerfüllbare Forderung von seiner Kraft beraubt durch die Fortsetzung: „Wegen der Gefahr der Unzucht soll aber jeder seine Frau haben und jede ihren Mann“ (7 : 2). Als allgemeine These akzeptiert der Autor die absolute Jungfräulichkeit; wenn es aber auf die Anwendung ankommt, muss Wasser in den Wein gegossen werden, und in den unmittelbar folgenden Versen 3 – 5 werden die Ehepflichten den Eheleuten sogar ausdrücklich empfohlen, damit der Satan sie nicht verführe in Anbetracht ihres Unvermögens, sich zu enthalten. Eine Konzession also an die menschliche Schwäche. Keine Spur finden wir von einer höheren, moralischen Wertschätzung der Ehe, wie sie der Stoiker Musonius lehrt (ed. Hense, S. 67ff.). Der Zölibat steht in vs. 7 doch wieder obenan nach dem Beispiel des „Paulus“, und echt gnostisch und frühchristlich heißt es dort: „Ich wünschte, alle Menschen wären wie ich. Doch jeder hat seine Gnadengabe, charisma, von Gott, der eine so, der andere so“. Unverheiratete und Witwen werden dann auch gelobt, wenn sie so bleiben wie der Apostel; können sie sich aber nicht enthalten, lass sie heiraten, denn es ist besser zu heiraten als zu brennen (7 : 8f.). Die echt-römischen Pastoralbriefe richten sich gegen alle Enthalter der Ehe sowohl wie des Fleischverzehrs (1 Tim 4 : 3) und erachten die Askese als wenig nützlich (1 Tim. 4 : 8). Ein ganz anderer Tenor als der alte marcionitische, den wir in Gal. 5 : 24 heraushören: „Alle, die zu Christus Jesus gehören, haben das Fleisch und damit ihre Leidenschaften und Begierden gekreuzigt“.

Nach diesem ausführlichen Exkurs, berechtigt und sogar notwendig durch Marcions Lesart von Eph. 5 : 28b, komme ich zurück zur Fortsetzung dieser Perikope. Nachdem Marcions Paulus gesagt hat, die Liebe des Mannes zur Frau solle ungeschlechtlich sein wie diejenige Christi zur Kirche, und er dadurch zu erkennen gegeben hat, dass Christus der Geist und die Kirche das Fleisch ist, fügt er in vs. 29b hinzu: „Keiner hat je seinen eigenen Leib gehasst, sondern er nährt und pflegt ihn, wie auch Christus die Kirche“. Die Worte von vs. 30: „Denn wir sind Glieder seines Leibes“ fehlten bei Marcion. Sie sind eine Erweiterung, um das Verhältnis Christi zu seiner Kirche und sein Ihr-Zugetan-Sein zu erklären. Marcion fährt dann fort mit dem, was wir in vs. 31 lesen, jedoch mit einem kleinen Unterschied: ihr zum Vorteil [9] (der katholische Text hat: „deshalb“ ) wird der Mensch Vater und Mutter verlassen und sich an seine Frau binden, und die zwei werden ein Fleisch sein (vs. 32). Dieses Geheimnis ist groß: ich (nämlich im Gegensatz zur gängigen Meinung, da der Autor kraft Offenbarung Einsicht in das Christusmysterium bekommen hat), ich beziehe dies auf Christus und die Kirche. HARNACK beschuldigt hier seinen Häretiker der tendenziösen Änderung; der habe deshalb in zu ihrem Vorteil, d.h. der Ecclesia umgewandelt und vs. 30 weggelassen. Aber Harnack muss zugeben, dass das in vs. 31 ebenfalls tendenziös weggelassene „und er wird seinem Weibe anhangen“ Origenes und Hieronymus zufolge auch in katholischen Manuskripten fehlte; mehr noch: Origenes scheint kein Manuskript gekannt zu haben, das dieses Sätzchen enthielt! Dies kann jedoch unsern protestantischen Gelehrten nicht zu einem milderen Urteil über den römischen Häretiker bewegen, denn er schreibt: „Die Ausstoßung ist aber doch wohl marcionitisch-tendenziös“ (S. 120*). Eine Bemerkung, die ich meinerseits als „harnackianisch-tendenziös“ bezeichnen möchte; trotz allem Anschein: „Marcion, und nicht Barbertje (Lothario) muss hängen“.

Hieronymus hat sich bei diesem alttestamentlichen Zitat in Marcions Lesart verwundert gefragt, wie der Mann ein solches jüdisches Bibelwort auf Jesus beziehen konnte, da doch ihm zufolge das Alte Testament mit Christus nichts zu tun hat. Diese Bemerkung scheint auf den ersten Blick wohl vernünftig. Dennoch ist der Ketzerbekämpfer hier inkonsequent. Seine These lautet: Marcion hantiert immer am Text herum, also hat er es auch hier getan. Er hat vieles weggelassen, vieles hat er geändert. Trotzdem hat er auch etwas stehen lassen, das seinen eigenen Prinzipien widersprach: ein Zitat aus der von ihm verachteten jüdischen Schrift, und er hat dieses dann sogar auf Christus und dessen Kirche bezogen! Meiner Meinung  nach spricht es für Marcions Objektivität im Umgang mit Paulus’ Text, dass er dieses Zitat hat stehen lassen trotz seines eigenen Widerwillens gegen den Judengott und dessen Gesetz. Wie einfach wäre es doch für [10] diesen „Helden des Schwammes“ gewesen, neben so viele anderen auch diesen kompromittierenden Vers wegzuwischen. Ein besonnen Urteilender muss hier wohl zum sovielten Male zur Schlussfolgerung kommen: Marcion war nicht so finster, wie die Ketzerjäger – antike und moderne Theologen – ihn dargestellt haben.

Die wahre Ehe war nach Marcion und seinem Apostel Paulus nicht die eines Mannes und einer Frau, sondern die eines Menschen mit der Kirche.  Darauf zielt ihnen zufolge en mysteriôi, d.h. spirituell, der biblische Ausdruck „aus zwei eins machen“. SCHLIER[6] sieht dann auch in Eph. 5 : 31 „Mensch“ als den Anthrôpos, den himmlischen Menschen. Der Redaktor, welcher aus der katholischen Lesart spricht, hat gegen den ursprünglichen Text die Rechte der normalen menschlichen Ehe wiederherstellen wollen. Deshalb ersetzte er „zum Vorteil von“ bzw. „um ihretwillen“ durch „deshalb“. Er hat das Zitat aus Genesis hinzugefügt, um zu zeigen, dass es sich um Mann und Frau handelt, und dadurch ist ein Satz zustandegekommen, dessen Anfang klar, dessen Schluss jedoch unverständlich ist. Nicht Marcion hat gekürzt, wie HARNACK behauptet mit der Erläuterung (S. 50): „dieser Abschnitt über die Ehe war ihm überhaupt unbequem“. Die Lesart des Marcion ist offensichtlich dem Redaktor „unbequem“, weil zu asketisch.

Über die Perikope Phil. 2 : 5–11 hat LOHMEIER[7]  höchst Wichtiges gesagt, u.a. dass sie ein carmen Christi ist, vom Autor des Briefes einer alten Tradition entnommen. Wo von Christus gesagt wird, dass er sich „entäußerte und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich und an Gestalt als ein Mensch befunden“ (2 : 7), weist LOHMEYER darauf hin, dass eine Konstruktion von „befunden werden“ mit „als“ (heurethènai hôs) äußerst befremdlich ist. Bei Marcion fehlte „als“, und er war damit ursprünglicher als der Redaktor. Seine Lesart las sich nämlich: „in der Erscheinungsweise eines Menschen und in der äußeren Gestalt eines Mensch befunden“. Das ergibt gewiss [11] einen guten Sinn: die Sklavengestalt Christi bestand in der menschlichen Erscheinungsweise, er nahm Sklavengestalt an dadurch, dass er einem Menschen ähnlich sah, und, in äußerer Gestalt als ein Mensch  befunden (oder: für einen Menschen gehalten), erniedrigte er sich selbst, gehorsam geworden bis zum Tode. Die katholische Lesart hat dann eine andere Nuance hineingebracht: die Sklavengestalt besteht darin, dass Christus in Gleichheit mit dem Menschen, i.a.W. , dass er dem Menschen gleich geworden ist (dieses geworden fehlte bei Marcion ebenfalls). Um jedoch von vornherein den Gedanken auszuschließen, dass der den Menschen gleich gewordene Christus nur Mensch gewesen sei und auf Erden aufgehört habe, Gott zu sein, hat der Redaktor ausdrücklich „als ein Mensch befunden“ geschrieben. Dadurch ergibt sich ausgerechnet in der katholischen Version ein semi-doketischer Zug, den der Doket Marcion weniger deutlich ausspricht. Die unterschiedliche Bedeutung von „befunden“ (heuretheis) bewirkte, dass Marcion es verstehen konnte als „er wurde angesehen als“ und der Katholik als „er wurde befunden zu sein“. Das führt uns zum merkwürdigen Ergebnis, dass der Katholik „als (wäre er) ein Mensch“ sagt, während man dies gerade aus der Feder des Doketen erwarten würde. Wie billig kommt einem beim hier von mir skizzierten, komplizierten Problem von Ausdrucksweise und Gedankengang der zwei Kontrahenten HARNACKs (S. 51) unsachliche Bemerkung vor: durch Weglassen von genomenos (= geworden) und hôs (= als) erreichte Marcion das Christologische Bild, das er sich wünschte.“

Vom Sohne sagt Kol. 1 : 15–17 im katholischen Text: „Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene der ganzen Schöpfung. Denn in ihm wurde alles erschaffen im Himmel und auf Erden, das Sichtbare und das Unsichtbare, Throne und Herrschaften, Mächte und Gewalten; alles ist durch ihn und auf ihn geschaffen. Er ist vor aller Schöpfung, in ihm hat alles Bestand“. Marcion hat an dieser Stelle nur gelesen: „der das Abbild ist des unsichtbaren Gottes, und selber ist er vor allen Dingen“. Das bei ihm fehlende „Erstgeborener“ ist Röm. 8 : 29 entliehen. Dort ist übrigens auch nicht die Rede von einem erschaffenen Sohn, wenn dieser „der erstgeborene unter vielen Brüdern“ genannt wird. Der frühe Paulinismus betrachtet die Schöpfung als [12] außerhalb Gottes stehend; die hier gemeinten Brüder gehören dann auch nicht zur Schöpfung. Die kirchliche Lesart von Kol. 1 : 15–17 erweist sich wieder als Erweiterung aufgrund des jüdischen Schöpfungsdogmas. Dieses hat einen Vorläufer in der hellenistischen Philosophie des Philo, bei dem wir in seinem Buch über die Schöpfung der Welt (§§ 20ff.) die Scala vorfinden: Gott, Weltgedanke = Logos, Welt. Von letzterer ist der Mensch dann ein Teil. Man kann hier auch die Hermetischen Schriften heranziehen (IX 8, X 14).

Ein schwieriger Punkt ist Kol. 1 : 19. Die katholische Version: „Denn Gott wollte in seiner ganzen Fülle in ihm (Christus) wohnen“, wurde nach der üblichen Einschätzung von Marcion verpfuscht durch die Änderung von ihm (autôi) in sich selber (heautôi). Er las also: „(Christus) wollte, dass die ganze Fülle in ihm selber wohne“. Selbstverständlich hält man dies wieder für eine tendenziöse Änderung, einen Beweis für den Modalismus des Häretikers. SCHLIERs[8] Studien haben seit 1930 den hellenistischen Hintergrund des Epheserbriefes und gleichzeitig des damit verwandten Kolosserbriefes neu beleuchtet. Die Fülle (das plèrôma) ist in der Gnosis die Höhere Welt, das göttliche Reich der Äonen.[9] Wenn nicht Gott, sondern Christus selbst Marcion zufolge sich entschließt, die Höhere Welt in sich selbst wohnen zu lassen, dann haben wir hier wieder die schon oben erwähnte Gleichstellung von Christus mit Gott. Das ist der später heftig bekämpfte Modalismus, der im Patripassianismus seine Fortsetzung fand: Christus nur ein Modus, eine Erscheinungsform Gottes. Es ist der Vater selber, der das Heilswerk verrichtet, indem er geboren wird, leidet und stirbt. Dem Modalismus zugrunde liegt sichtlich das Bedürfnis, die Alleinherrschaft Gottes zu retten. Galt diese Überlegung jedoch auch schon bei Marcion? Nach Eph. 1 : 22f. ist die Fülle = der Leib = die Kirche. Somit bilden Gott, Christus und Kirche eine Einheit. Christus ist hier der himmlische Mensch (Anthrôpos), der sowohl das Ganze als auch einen Teil des Ganzen darstellt, Leib und Haupt [13] zugleich. Die Kirche ist ein Leib (Eph. 4 : 4) und zwar der Leib Christi (Kol. 1 : 24b); die Gläubigen sind Christi Glieder und dadurch einander zugehörend und eng verbunden (Eph. 4 : 25; 5 : 30). Diese Vorstellung hat Marcion auch, wo er den Leib Christi als die Kirche bezeichnet (Kol. 1 : 24b), und Christus ebenso als das Haupt der Kirche (Eph. 5: 23). SCHLIER traut sich nicht, diesen Vorstellungskomplex dem Paulus zuzuschreiben;[10] dennoch habe ich den Eindruck, dass er schon einer Form des Paulinismus angehört hat, die älter ist als die durch die Orthodoxie passend gemachte Katholische. Trotz SCHLIERs Argumentation[11] finde ich in Röm. 12 : 5 und in 1 Kor. 12 : 12 ff. einen Gedanken von der gleichen Art wie „der Leib Christi = die Kirche“.

Kol. 2 : 8 lautet in der Version der Kirche: „Gebt acht, dass euch niemand mit seiner Philosophie und falscher Lehre verführt usw…“, und bei Marcion: „ … als falscher Lehre“. Warum dies nun eine „ingeniöse Vertauschung“ des Häretikers  genannt werden muss[12], der alle Philosophie verachtete, leuchtet mir nicht ein. Beide Lesarten zeigen nur einen geringen Unterschied, eine Nuance in der Ausdrucksweise desselben Gedankens und gehören zu den nicht beabsichtigten variae lectiones, womit jeder Textkritiker vertraut ist.

Weshalb ist HARNACK so leidenschaftlich ausfällig geworden[13] gegen seinen Häretiker aus Anlass von Kol. 4 : 14a, welches in der katholischen Lesart lautet: „Auch der Arzt Lukas, unser lieber Freund, grüßt euch“. HARNACK sagt nämlich: Lukas der Arzt wird bei Marcion  wohl gefehlt haben, er wünschte sich kein Lob für Lukas, dem er ja das Evangelium abspenstig gemacht hatte. Wenn ich solche hypothetische, total aus der Luft gegriffene Bemerkungen lese, in denen die  noch zu beweisende Annahme von vornherein als richtig angesehen und die Redlichkeit eines Autors angezweifelt wird, drängt sich mir der Gedanke auf: zum Glück war dieser Gelehrte kein Zeitgenosse des Häretikers. Über einen seit mehr als siebzehn Jahrhunderten toten Autor kann man ja ungestraft so herziehen. Psychologisch erhellt sich der ganze Vorgang, da es hier HARNACKs Entdeckung vom Mediziner Lukas betraf, der sowohl das Evangelium wie auch die Apostelgeschichte geschrieben habe, eine Hypothese, die seitdem von [14] Schürer, von Wilamowitz–Möllendorff, Cadbury und von mir selbst überzeugend widerlegt worden ist.

Röm. 3 : 31–4: 25 fehlte bei Marcion  ganz. Die Vorstellung, dass bei Annahme des Glaubens das Gesetz dennoch aufrechterhalten bleibe, d.h. bestätigt werde und nicht aufgehoben, ist die katholische Wertung des Alten Testamentes, so wie sie uns immer wieder begegnete. Die radikalste Änderung des Gesetzes lässt von diesem Standpunkt aus kein i-Pünktchen dieses Gesetzes verloren gehen. Es heißt, Jesus sei nicht gekommen, es abzuschaffen sondern es zu erfüllen, zu vollenden (Mt. 5 : 17 ff.). Nach dem Urteil der Kirche kann man auch zu weit gehen mit revolutionären Bestrebungen. Anschluss an Israels Heilige Schrift, für christliche Verkündigung durch allegorische Auslegung brauchbar gemacht, verschaffte der Kirche den Ehrenplatz in derjenigen Weltgeschichte, die Schöpfung und Zeitenende mit einander verband. Die ganze Synagogenpredigt, Midrash bzw. Schrifterklärung, was Röm. 4 doch recht eigentlich ist, passt nicht im Munde von Marcions Paulus. Sehr wohl jedoch passt es zu den  vielen Zitaten aus dem A.T. und der Berufung auf Abraham und David im Munde des durch die Großkirche für ihre Zwecke katholisierten Paulus. Abraham ist nicht der Stammvater der Juden, sondern der Gläubigen! Dieser Gedanke Philos, dass nämlich der Patriarch bereits vor seiner Beschneidung an Gott glaubte und dieser Glaube ihm als Gerechtigkeit angerechnet wurde (Röm. 4 : 3; 5; 10) führt den Autor zur Schlussfolgerung, dass die Beschneidung im Grunde nicht mehr war als die Besiegelung von Abrahams Glauben (4 : 11ff.). Man möge Röm. 9–11 lesen um zu verstehen, dass Marcions Paulus damit genauso wenig hat anfangen können als mit der gerade eben von mir abgehandelten katholischen Exegese des Gesetzes. Diese Kapitel behandeln ein Thema, dass mit Röm. 1–8 ursprünglich in keiner Beziehung steht und nicht kann als eine Ausarbeitung der in Röm. 1 : 16 aufgestellten Behauptung betrachtet werden.

Marcions liebevoller Gott richtet nicht; deshalb wird der Häretiker in Röm. 11 : 33 die Worte: „unergründlich sind seine Gerichte“ weggelassen haben, so HARNACK[14]. Aber an dieser Stelle fehlt bei ihm auch im Ausruf: „O Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes“ ausgerechnet die Erwähnung dieser Kenntnis bzw.  Gnosis, die ihm doch wohl kaum unangenehm gewesen sein kann. Weshalb er dieses „wegstrich“, bleibt für HARNACK [15]ein Geheimnis[15]. Die Stelle ist anscheinend nicht tendenziös, aber dennoch wurde sie nicht gestrichen. Dass dem Marcion eine kürzere Version dieses Textes vorlag, die durch eine spätere Hand erweitert wurde, diese Vermutung kommt HARNACK nicht einmal an dieser Stelle.

Liest man bei den Gegnern des Häretikers immer wieder von Marcions Falschmünzerei, seinem Beschneiden und Korrumpieren von Texten, und vertraut ihnen aufs Wort, dann müsste man in ihm einen Kranken sehen, der ein manisches Behagen darin fand, überall in den Texten seines Apostels willkürlich Änderungen vorzunehmen, und der dabei dann noch nicht einmal konsequent sein Ziel verfolgte. Ausgehend von der Mentalität eines Orthodoxen einem Ketzer gegenüber kann man verstehen, dass er den Exkommunizierten sinnlos[16] und vollkommen total verrückt[17] nennt. Wenn aber Gelehrte unserer Zeit sich dieser Beurteilung unkritisch anschließen, dann muss ich wohl bei ihnen so etwas wie eine idée fixe diagnostizieren.

Dass bei Marcion Röm. 15–16 fehlte, gründet nach HARNACK[18] jedoch nicht in dogmatisch-tendenziösen Absichten; vielmehr nimmt er an, dass diese Kapitel dem Häretiker nicht vorlagen[19] (S. 164). Dessen Textänderungen jedoch beruhen immer auf dogmatisch-tendenziöse Absichten[20] andere Absichten hatte der nie. Jedoch: „dagegen lässt der breite Boden der großen Kirche für die Annahme der verschiedensten Möglichkeiten Raum“. Beinhaltet denn diese Bemerkung eigentlich nicht, dass die Kirchentreuen willkürlicher mit dem Text des Neuen Testamentes umgingen als Marcion? Harnack[21] betrachtet Röm. 16 : 25–27 als isoliert für sich stehend. Marcion habe es nicht gekannt. Es ist aber streng marcionitisch und durch ein paar Hinzufügungen notdürftig und unvollständig katholisiert worden. In meiner folgenden Übersetzung der Perikope setze ich die katholisierenden Hinzufügungen zwischen Klammern: „ 25) Dem aber, der euch zu stärken vermag nach meinem Evangelium (und der Predigt von Jesus Christus), nach der Offenbarung eines Geheimnisses, das ewige Zeiten hindurch verschwiegen war, 26) jetzt aber offenbart worden ist (und durch prophetische Schriften) nach Befehl des ewigen Gottes zum Glaubensgehorsam an alle Heiden (bekannt gemacht worden ist), 27) dem allein weisen Gott durch Jesus [16] Christus, ihm sei die Herrlichkeit in Ewigkeit! Amen“.

In meinen Augen ist dies ein wunderbares Beispiel dafür, wie katholische Redaktoren versucht haben, marcionitische Texte durch Hinzufügungen zu entschärfen. Hier ist ja wohl ganz klar, dass sie bei Übernahme eines Textes diesen dogmatisch-tendenziös überarbeiteten. Bei Marcion folgte auf Röm. 14 : 23 wohl 16 : 25–27; beide Stellen geben so in dieser nicht von einem Redaktor korrumpierten Lesart einen guten Sinn.

Selbstverständlich war es nicht ohne einen bestimmten Anlass, dass seit Irenäus’ Zeiten das von Marcion benutzte Evangelium in Beziehung gebracht wurde mit dem kanonischen Lukas, den der Häretiker dann allerdings korrumpiert habe. War nicht Paulus sein einziger Apostel und Lukas dessen Reisegefährte? Irenäus[22] behauptet, der dritte Evangelist habe das von Paulus gepredigte Evangelium niedergeschrieben. An anderer Stelle[23] heißt es, Lukas habe auf Anordnung des Paulus geschrieben, und[24] er sei Begleiter und Schüler der ersten Apostel gewesen. Nachdem Paulus kein Evangelium gepredigt hat im Sinne einer Lebensgeschichte Jesu und seine Briefe sich daran auch gar nicht interessiert zeigen, können wir Irenäus’ Angaben zur Sache als Produkt großkirchlicher Phantasie und als historisch wertlos betrachten. Für Mitteilungen des Tertullian gilt das Gleiche. Spätere Autoren kennen noch weitere Einzelheiten. LOYSY[25] hat gezeigt, wie nichtssagend dies alles ist. Es fehlen aber im dritten Evangelium mehrere speziell jüdische Bemerkungen und Besonderheiten, die wir bei Matthäus und Markus vorfinden. Worte wie Mt. 5 : 17; 19f.; 10 : 5f; 10 : 23, oder auch eine Erzählung wie Mc. 7 : 1–23 finden wir bei Lukas nicht. Hingegen finden wir schon eine spezielle Vorliebe für die Sünder, welche das orthodoxe Judentum verachtete. Dies stimmt überein mit dem Charakter des Heidenapostels Paulus.

HERMANN RASCHKE meint, Marcions Evangelium sei das Markusevangelium gewesen.[26] Dieser Gelehrte hat ein weit freieres Verhältnis zur römisch-katholischen Tradition, als HARNACK es hat. [17] Nach RASCHKE konnten die Gegner des Häretikers die Fakten nicht objektiv beurteilen, weil die dogmatisierte Fälschungsidee ihnen im Wege war.[27] Allein weil Marcion radikaler Paulinist war, müsse sein Evangelium Tertullian zufolge vom paulinischen Lukasevangelium abhängig sein (S. 41). Auch Epiphanius sehe den kanonischen Lukas als Grundlage und gebe von dort aus Übereinstimmung und Unterschied bei Marcion an. Er hätte genau so gut den Matthäustext als Grundlage nehmen können. Vieles von dem, was Marcion als Textfälschung angekreidet werde, sei als varia lectio zu erklären.

Grundsätzlich Bemerkungen über den Charakter der Evangeliengeschichte kann man bei RASCHKE in Fülle finden. Die Frage, ob Jesus Christus Mensch war im Sinne unseres historischen Realitätsbegriffes, habe im antiken Bewusstsein nicht einmal aufkommen können, er könnte auch als Gott gelebt haben; die Realität Jesu Christi sei von der gleichen Art wie die Realität Gottes. Tertullian habe Marcion vieles vorgeworfen, niemals aber, dass dessen Christus nicht real wäre, weil er von ihm nicht als von einer Frau geboren und nicht als Mensch aus Fleisch und Blut betrachtet werde. Tertullian wisse wohl, dass die metaphysische Realität des marcionitischen Christus sich messen könne mit derjenigen Realität, die die Kirche verkünde. Die Kirche brauche aus praktischen Gründen (Auferstehung des Fleisches!) den realen Christus-im-Fleische. Die historische Realität Christi sei ein soteriologisches Postulat der Katholischen Kirche. Marcion habe den gnostischen Standpunkt einer metaphysischen Realität, der ursprünglicher sei, vertreten. Nach antiker Auffassung könne man Zeus und Caesar gleichermaßen als historische Figuren betrachten; unser Begriff „historisch“ gehöre dem 20. und nicht den frühchristlichen Jahrhunderten an. Klassisch formuliert RASCHKE den Unterschied so: „Der evangelische Christus ist nur ein geschichtlich gekleideter paulinischer Christus. Der paulinische Christus ist ein katholisch [18] frisierter gnostischer Christus. Der gnostische Christus ist nur eine metaphysische Wirklichkeit“ (S. 29f.). Die Großkirche, die in Jesus das ideale Vobild als Garantie für die Auferstehung des Fleisches haben wollte, sei auf die unmögliche Vorstellung gekommen, dass dieser aus dem Geiste geboren und zugleich von der Natur hervorgebracht sei. So ginge ja unser menschliches, auf natürliche Weise entstandenes Fleisch doch noch verloren. Ein geistiger Leib könne den Tod und das Grab überleben, aber da gehe es nicht mehr um einen Menschenleib, sondern um den eines Engels, so dass Jesus sich als Wesen einer höheren Wirklichkeit erweise. Deshalb würden in den Evangelien die Geister sofort seine geistige und göttliche Natur erkennen[28]. In seiner späteren wichtigen Studie über Marcions Paulusbrief an die Römer nach Epiphanius[29] hat RASCHKE Tertullian „das Irrlicht der ganzen neueren Marcionkritik“ genannt. Nur die Tübinger Schule habe sich später von ihm emanzipiert: „die Späteren, vor allem Harnack, sind ihm wieder in den Sumpf gefolgt“. Raschke beurteilt den Stand der gegenwärtigen Kritik so: „Wir stehen wissenschaftlich gesprochen noch mitten in der Aufgabe, die uns die großen Tübinger gestellt haben und die die holländische Kritik vertieft hat“. A. POTT[30] hatte aus Tischendorfs und Sodens textkritischen Apparaten schon viele Textzeugen gesammelt für Lesarten, die HARNACK als „unbezeugt“ vermerkt hatte. Dies beweist, dass Marcions Text dem vorkanonischen näher stand als Harnack glauben machen wollte. Pott hielt dann auch dessen Datierung der Evangelien als für zu früh angesetzt.

Lange habe ich jetzt verweilt bei RASCHKES überzeugende Darstellung vom Gegensatz, der besteht zwischen dem gnostischen Christus und dem Christus der Kirche. Dieser Gegensatz wirft ja ein Licht auf das vorauszusetzende älteste Evangelium. Die kanonischen Evangelien wollen den Christus dem Fleische nach darstellen, halten dies aber nicht konsequent durch und verraten dadurch, dass sie ein ursprünglich doketisches Evangelium übermalt haben. Es ist meines Erachtens RASCHKE vollkommen [19] gelungen, zu beweisen, dass Marcions Evangelium ursprünglicher war als das des Lukas und dass man, um Vergleiche anzustellen, nicht speziell auf Lukas zurückgreifen muss. Die Beziehung zwischen Lukas canonicus und Marcion könnte sehr wohl um einiges weniger einfach sein, als man sich das im allgemeinen denkt. So dachte auch LOISY[31] darüber. Man könnte genauso gut Matthäus als Ausgangspunkt nehmen, um die Unterschiede zwischen kirchlichen und marcionitischen Lesarten zu beleuchten. RASCHKE hat schließlich die ganz enge Verwandtschaft  von Marcions Evangelium auch mit Markus vertreten. So ist der Bann gebrochen, den Tertullian zuerst und HARNACK noch vor einigen Jahrzehnten der Marcionforschung auferlegt haben. Tertullian schrieb 70 Jahre nach Marcion, dass dieser einfach nur das Lukasevangelium gekürzt habe. Dass dies die Beurteilung eines Häretikerbekämpfers war, hätte allein schon Zweifel an seiner Aussage aufkommen lassen müssen. Diejenigen Passagen, die Lukas hat und Marcion nicht, sind jüngeren Datums und auffällig im Stil und Gedankengang im Vergleich zu den Marcion und Lukas gemeinsamen. Zum Beispiel fehlen bei Marcion die ersten vier Kapitel des Lukas canonicus; Marcion fängt erst mit dem Auftritt des Heilands in Kapernaum und enthält nichts über die Empfängnis von Johannes dem Täufer und Jesus, nichts über beider Geburt, über den zwölfjährigen Jesus im Tempel, über die Predigt des Täufers und über die Taufe, die er Jesus spendete; es fehlen auch der Stammbaum und der Bericht über Jesu erstes Predigen  in Nazareth. Der Autor dieser Kapitel ahmt alttestamentliche Erzählungen nach, namentlich über Samuel und Samson, fügt psalmenähnliche Lieder ein, betont Jesu Abstammung von David, – all das in Gegensatz zu dem, was wir sonst im Evangelium vorfinden.[32] Bei seinem ersten Predigtauftritt in Nazareth wird Jesus gebeten, die Wundertaten zu wiederholen, die er in Kapernaum gewirkt hat; Lukas hat diese im vorausgehenden Text noch nicht erwähnt, Marcions Evangelium jedoch fing damit an und ließ den aus dem Himmel herabgestiegenen Jesus [20] sofort in der Synagoge zu Kapernaum unterrichten. Und alle wunderten sich über seine Lehre, denn sein Wort war mit Macht.

All diese Erweiterungen zeigen, dass der kanonische Lukas später ist als Marcion. Einen treffenden Beweis für die Ursprünglichkeit Marcions liefert Lk. 16 : 17: „Es ist aber leichter, dass der Himmel und die Erde vergehen, als dass ein Strichlein des Gesetzes wegfalle“. Das ist ja wirklich eine Verbeugung vor dem jüdischen Gesetz. Marcion las an dieser Stelle: „Es ist aber leichter, dass der Himmel und die Erde vergehen, als dass von meinen Worten ein Strichlein wegfalle“. Natürlich sagt hier die Kirche – und HARNACK mit ihr –, dass Marcion hier dem Text Gewalt angetan hat um seiner Theorie willen. Aber Lukas hat an anderer Stelle den doch wohl sehr für Marcions Lesart sprechenden Text: „Der Himmel und die Erde werden vergehen, meine Worte aber werden nicht vergehen „(21:33). Geht hieraus nicht hervor, dass der kanonische Lukas eine Bemerkung zugunsten des jüdischen Gesetzes in einen Text eingefügt hat, den diese nicht hatte?

In unserer Untersuchung, ob Marcions Evangelium älter war als die kanonischen Evangelien, müssen wir dieses nicht ausschließlich mit einem dieser vier, sondern mit allen vieren vergleichen. HILGENFELD hat des öfteren betont; dass dem Johannesevangelium eine dualistische Gnosis zugrunde liegt, eine Art Mittelding zwischen Valentinus und Marcion, den beiden Häretikern, die Johannes dem Irenaeus zufolge wiederlegt habe. Auch VOLKMAR und CORRODI erkannten marcionitische Denkweisen im vierten Evangelium: einen plötzlich aus dem Himmel herabgekommenen Heiland (6 : 38; 8 : 14), das Fehlen von Genealogien und Geburtsgeschichten usw. … Sogar EISLER[33] hat Harnacks Bemerkung zugestimmt, dass das Johannesevangelium auf einer Linie von Paulus zu Marcion liege. HARNACK[34] hat diesem Punkt zwei Seiten seines Buches gewidmet. Sowohl Marcion wie auch Johannes nehmen der Tradition gegenüber einen unabhängigen Standpunkt ein; beide wollen sie das Neue von der Erscheinung Christi und seines Evangeliums beleuchten, d.h. die absolute Bedeutung seiner Person und seines Werkes, seinen überweltlichen Charakter und seine Gottheit. Gott ist bei Johannes (4 : 24) Geist, Marcion nennt ihn spiritus salutaris; beide bezeichnen ihn als Liebe. So manche johanneische Äußerung stimmt mit dem marcionitischen Modalismus überein. Als Vater urteilt Gott nicht; das [21] überlässt er dem Sohn. Dieser jedoch sagt: „Ich bin nicht gekommen, über die Welt zu urteilen, sondern um die Welt zu erhalten“. Er ist ausschließlich liebevoller Erlöser, ganz im Geiste Marcions. Das vierte Evangelium ist scharf anti-jüdisch, auch das ist ein Charakteristikum für Marcion. Im Gespräch Jesu mit der Samariterin stehen jüdische und heidnische Anbetung als gleichermaßen unwahr der christlichen Anbetung im Geiste gegenüber (4 : 21ff.). Alle diejenigen, die vor Jesus gekommen sind, werden Diebe und Räuber genannt (10 : 8). Das Predigen von Gnade und Wahrheit gehört nicht zum Alten Testament, denn Moses hat nur das Gesetz gegeben (1 : 17). Zwar heißt es, das Wort sei Fleisch geworden, aber das Fleischliche des Christus bleibt phantomhaft; man beachte doketische Züge  (4 : 32–34; 7 : 30; 8 : 59; 10 : 39; 12 : 36).

Auch das Markusevangelium hat diese Charakteristik. Mit der sogenannten Markushypothese habe ich mich nie anfreunden können; ich halte das zweite kanonische Evangelium für nicht älter als Matthäus. Ich habe dafür an mehreren Stellen die Beweise geliefert, jedoch auch dafür, dass Markus darin mit Johannes und Marcion übereinstimmt, dass in allen dreien ein älterer Evangelientyp vorliegt. Wer irgendeines  der kanonischen Evangelien als ursprünglicher als das des Marcion einschätzt, leugnet im Einklang mit den kirchlichen Häretikerbekämpfern den gnostischen Charakter der ältesten Evangelienentstehung. Sowohl Markus als auch Johannes stehen dem gnostischen Evangelientypus näher, und damit auch dem Marcion. Beide kanonische Evangelien sind jedoch stark katholisch redigiert worden. Alles, was Jesus bei Markus tut, sagt, erleidet, ist Gleichnis. Der wahre Jünger schaut die geistige Wahrheit, die durch diese symbolische Tatsachen sowohl verborgen als auch offenbart wird. Geschichte steht hier im Dienste der Dogmatik. COUCHOUD[35] hat in hervorragender Weise erläutert, wie die großen Massen, die der Kirche beitraten, eine neue Einkleidung des Glaubens erforderten. Die Gleichnisse, die im Pastor Hermae neben den Visionen und den Vorschriften zur Katechese gehörten, bildeten einen Übergang im Prozess, den geistigen Wahrheiten einen realhistorischen Aspekt zu verleihen. Manch [22] ein Evangelienbericht wird ursprünglich wohl ein Gleichnis gewesen sein, so das Wandeln über dem Wasser, die Verfluchung des Feigenbaums, die Auferweckung des Lazarus. Ja, das gesamte Evangelium ist ein bewundernswert gelungenes synthetisches Gleichnis. Kann man sagen, das sei Betrug? fragte COUCHOUD[36] und antwortete selber: Betrug wäre es, wenn Grundlage des Glaubens eine „biographie réelle“ wäre, „qui n’aurait rien de malléable ni d’extensible“. Mit Recht weist er darauf hin, dass es vor allen andern die Juden und die Römer waren, die die Gabe hatten, ihren religiösen Vorstellungen mit einer historischen Einkleidung zu versehen[37] , dies ein Euhemerismus, der in der antiken Welt verbreitet war und der den Gefühlsbedürfnissen der Menge entgegenkam.

Marcion markiert die Grenze zur Historisierung des Mythos, wo er Jesus genau hundert Jahre vor seinem eigenen Auftreten hat in Erscheinung treten lassen. Esnik, Bischof von Kolb in Armenien (5. Jahrhundert), berichtet uns dies in seiner Schrift Gegen die Sekten.[38] Ich habe diese Mitteilung in Beziehung gesetzt zu persischen Vorbildern.[39] RASCHKE verneint jedoch, dass Marcion die Zeitangabe „im 15. Jahr des Kaisers Tiberius“ gehabt habe; diese lukanische Datierung sei ihm zu Unrecht durch Tertullian zugeschrieben worden. Zwar habe sie  auch Epiphanius in seiner Schrift gegen die Häresien, jedoch nicht in seinen zuverlässigeren Anmerkungen  (scholia) zu den Evangelien.[40] Ich halte es für möglich, dass es gerade Marcion war, der das Herabsteigen Christi mit einem Datum versehen hat und dass die Große Kirche diese Angabe  dankbar von ihm übernommen hat. Sie hat ja auch seine Kanonbildung nach ihren Bedürfnissen nachgeahmt. Es mag sein, dass sein berühmtes, sich in der Praxis seiner späteren Reform deutlich zeigendes, organisatorisches Talent ihm die Notwendigkeit dieser Historisierung des Mythos für die Propaganda hat einsehen lassen. Diese Historisierung machte ihn gleichzeitig zum Vollender des Erlösungswerkes Christi. [23] So ist dann auch die Behauptung einiger Marcioniten zu verstehen, ihr Meister säße im Himmel neben Gott, er zur Linken, Christus zur Rechten. Nachdem die Datierung des Herabsteigens Jesu durch die Kirche nun einmal akzeptiert worden sei, haben sie alttestamentliche Bestätigung dafür gesucht und gefunden, welche Marcion gewiss verschmäht hätte.[41] Nach Tertullian I 19 liegen etwa 115 Jahre und 6 ½ Monate zwischen Christus und Marcion. Die Epiphanie Christi, mit der das Heil seinen Anfang nahm, kommt erst zu ihrem Recht, als der durch die Kirche Roms exkommunizierte Marcion im Jahr 144 seine eigene Kirche gründet.

Ein aufschlussreiches Beispiel bietet uns die Art und Weise, wie Lukas den Marcionitischen Text über das Herabsteigen Jesu aus dem Himmel und sein unmittelbar darauf folgendes Auftreten in der Synagoge von Kapernaum[42] abgeändert hat. Nach Lukas’ Geburtserzählung und der weiteren Vorgeschichte heißt es Lk. 4 : 31: „Und er kam (vom höherliegenden Nazareth) nach (dem tieferliegenden) Kapernaum hinab“. Der Gegensatz von Himmel und Erde wird abgeflacht zur rein geographischen Angabe eines niedrigeren Landschaftsniveaus. Der Aufbruch des Sohnes Gottes aus der Herrlichkeit des Vaters zum Land der Fremdheit wird jetzt zu einer kurzen irdischen Fußreise eines jüdischen Rabbis.

Bei Lukas lesen wir: „In dieser Stunde jubelte Jesus im Geist und sprach: Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, dass du dies vor Weisen und Verständigen verborgen hast und hast es Unmündigen geoffenbart. Ja, Vater, denn so war es wohlgefällig vor dir“ (10 : 21). Bei Marcion fehlt „der Erde“ und „Vater“ in der ersten Hälfte des Verses. Wieso sind das notwendigerweise vom Häretiker vorgenommene Änderungen? Gibt „Herr des Himmels“ etwa „für sich allein keinen guten Sinn“? Ist der Herr des Himmels keine gute christliche Vorstellung? Unmöglich konnte Marcion etwas dagegen haben, dass Gott durch den Sohn als Vater angesprochen wird. Dass er dann anstelle von: „dass du dies … verborgen hast“ die Lesart hat: „dass du die Dinge, die verborgen waren … den unmündigen Kindern offenbart hast“ kann ich unmöglich mit HARNACK[43] als tendenziös einstufen.[24] In Hom. XVIII 15 hat Clemens das Gebet in marcionitischer Fassung.

Die Fortsetzung lautet dann bei Lukas: „Alles ist mir übergeben von meinem Vater; und niemand weiß, wer der Sohn ist, als nur der Vater, und wer der Vater ist, als nur der Sohn und wem der Sohn ihn offenbaren will“. An dieser Stelle ließ HARNACK nach „weiss“ in Klammern „hat gewusst?“ drucken. Es ist bekannt, dass „hat gewusst“ die Lesart der Markosier war, der Anhänger des Valentinianers Markus, eines Zeitgenossen des Irenäus. Da Megethius in Adamantius’ Dialogen I 23 diese Lesart hat und Marcion damit übereinstimmt, können wir ruhig sagen, dass dies die einzig mögliche Lesart ist. Die Lukasperikope nämlich –wie auch die Parallelstelle Mt. 11 : 27– haben eine unsinnige Lesart. Wenn niemand den Sohn kennt als nur der Vater und wenn dieses Kennen des Sohnes unmöglich ist, ohne dass der Vater es offenbart, dann kann dem kanonischen Text zufolge niemand den Sohn kennen, da zwar der Sohn den Vater, nicht aber der Vater den Sohn offenbart. Dieser Einwand entfällt in der Lesart der Markosier: „niemand hat den Vater gekannt als nur der Sohn“. Auch Irenäus[44] wirft den Ketzern an dieser Stelle nicht vor, den Text korrumpiert zu haben.[45] In der Lesart der Markosier kann sowohl der Vater wie auch der Sohn Objekt des Offenbarens sein. Niemand hat vor der Erscheinung Christi den Vater der Wahrheit gekannt, wohl aber den Schöpfer der Welt. Diese Vorstellung kennen wir übrigens auch aus Johannes (6 : 46; 8 : 19; 14 : 6; 15 : 15; 17 : 3, 6, 25), insbesondere 7 : 28: „der mich gesandt hat, den ihr nicht kennt“; 8 : 55: „Und ihr habt ihn nicht erkannt, ich aber kenne ihn“ und 16: 3: „Und dies werden sie tun, weil sie weder den Vater noch mich erkannt haben“. Irenäus[46] sagt, die Häretiker würden ihre abweichende Lesart zu Lukas 10 : 22 in folgender Weise erklären: der wahre Gott war vor der Ankunft unseres Herren niemandem bekannt gewesen, und der durch die Propheten verkündete Gott ist nicht der Vater Christi. Diese Ansicht ist typisch alexandrinisch. Die Großkirche, die den Vater Christi mit dem Herrn der Juden zu einem einzigen Gott verschmolzen hatte, hat [25] die kanonische Lesung anstelle der ursprünglichen eingefügt. Die griechisch-jüdische Theosophie, der Hintergrund für Cerinthus, Basilides, Valentinus und Marcion, konnte dem Philo nicht beipflichten, wo dieser Platons guten Vater mit dem grimmigen Herrn des Moses gleichgesetzt.[47] Die Geringschätzung der Gnosis für den Herrn der Juden machte es unmöglich, ihn als das allerhöchste Wesen anzuerkennen. Die Kirchenleute dachten darüber ganz anders nach dem Zeugnis des Irenäus, der in seiner ‚Epideixis (=Beweis) der apostolischen Predigt’ (99) lehrt: „Man soll Gott den Vater nicht unterscheiden von unserm Schöpfer, wie die Sektierer meinen, die den Seienden Gott verschmähen, um das Nicht-Seiende zu ihrem Abgott zu machen; sie bilden sich einen Vater ein, hoch erhaben über unsern Schöpfer, und so wähnen sie dann, etwas Größeres gefunden zu haben als die Wahrheit. Dieser Art sind alle Gottlosen, die ihren Schöpfer und Vater lästern, wie wir es aufgezeigt haben in unserer Widerlegung und Bloßstellung der sogenannten Gnosis.“ So etwas kann man getrost ein Musterbeispiel klerikaler Ketzerbekämpfung nennen!

Während man in Lukas 15 : 10 liest: „… ist Freude bei den Engeln Gottes über einen Sünder, der Buße tut“, hat Marcion in seinem Text „den Engeln“ nicht; die Freude ist bei Gott. Selbstverständlich sagen seine Gegner, dass er absichtlich, tendenziös die Engel weggelassen hat. Ihm zufolge hat ja allein der niedrigere Gott, der Schöpfer, Engel. Aber sogar G. KITTEL[48] erkennt, dass auch „Paulus“ dazu neigt, eine gewisse Minderwertigkeit der Engel zu lehren, so in Gal. 3 : 19 und Hebr. 2 : 2, derart, dass sie es eigentlich sind, die das jüdische Gesetz auferlegt haben, denn es kommt nicht vom Gott Jesu Christi. Eng verbunden mit dieser Vorstellung steht auch die paulinische Ansicht, dass in der vorchristlichen Zeit die Menschheit unter der Herrschaft der ärmlichen und schwachen Geister der Elemente, halbgöttlicher Wesen, gestanden habe. Nach Irenäus I 24, 5 lehrten die Anhänger des Basilides, dass das Weltall von Engeln geschaffen wurde, deren Oberhaupt der Gott der Juden sei. Darin äußert sich die gnostische Verachtung der Schöpfung. Basilides selber[49]: die Schöpfung möchte die Söhne Gottes (die auserwählten [26] Christen) gern loswerden; sie leidet unter deren Anwesenheit; sobald sie aufgefahren sein werden, wird die große Unwissenheit über den Kosmos kommen. Saturnilus von Antiochia lehrte, der Gott der Juden sei einer der Engel, welche die Welt gemacht hätten; über ihn stünde der bei allen unbekannte Vater von allem. Jesus „unser Herr und Heiland“ sei von oben aus der Höchsten Macht gekommen, um den Gott der Juden zu Fall zu bringen und diejenigen zu erhalten, die an ihn glaubten. Nach Simon Magus[50] haben die Engel und die niederen Mächte die Welt erschaffen.

Das Gleichnis des verlorenen Sohnes (Lk. 15 : 11–32) scheint Marcion nicht gekannt zu haben. So beschreibe ich das Fehlen lieber, als dass ich die übliche Unterstellung verwenden würde: er hat es gestrichen. Wozu sollte er das getan haben? Dem Evangelisten Johannes, der den verlorenen Sohn genauso wenig erwähnt, wirft man so etwas niemals vor. Gerade weil in diesem Gleichnis Gottes Mitleid mit Menschen beleuchtet wird, hätte Marcion es sehr gut verwenden können. Hieraus geht wieder einmal hervor, dass ein Vergleich seines Werkes mit dem kanonischen Lukas ein Anachronismus ist, er repräsentiert eine ältere Phase der Evangelienschreibung. Das geht auch daraus hervor, dass er im Gegensatz zu Lukas 18 : 31–33 die Ankündigung von Jesu Leiden und Sterben nicht als Erfüllung jüdischer Prophetie wiedergibt, oder auch dadurch, dass er in der Zachäuserzählung (19 : 9) die Worte „weil auch er ein Sohn Abrahams ist“ nicht hat. Man braucht weiter die Erzählung über die Emmausjünger in Lk. 24 nur zu lesen, um zu begreifen, dass Marcion die alttestamentlichen Texte, die sich auf den irdischen jüdischen Messias beziehen, der noch kommen musste (vs. 27), genauso wenig hatte wie die Verse 44–46, in denen es heißt, die jüdische Schrift sei in Jesus Christus erfüllt worden. Die Verse 39f., die einen echt katholischen Beweis für den Christus nach dem Fleische liefern sollen, fehlten aus selbstverständlichen Gründen beim Häretiker.

In Marcions Evangelium trank der Heiland keinen Wein und aß kein Fleisch. Daraus spricht der Geist des allerältesten Christentums, der in Rom verwässert wurde[51]. Die kanonischen Evangelien beweisen dies, wo der Gegensatz aufgezeigt wird zwischen dem Täufer, dem weder Essenden noch Trinkenden, [27] und Jesus, der aß und trank[52]. Der katholische Autor lässt Jesus dann auch Fleisch essen und  Wein trinken bei einem jüdischen Paschamahl[53]. Die echt kirchlichen Pastoralbriefe polemisieren gegen Häretiker, die die Ehe und gewisse Speisen und Getränke verbieten.

Tertullian (IV 17) und auch Harnack (S. 127) haben sich darüber gewundert, dass Christus[54] nicht unzweideutig  einen neuen Gott predigte. Tertullian[55]  erklärt dies so: das überlieferte Evangelium erlaubte es nicht, Christus die öffentliche Verkündigung  zweier Götter zuzuschreiben. Dieser habe nämlich seine Geduld und Langmut beweisen wollen: er erlaubte es dem Aussätzigen, sich dem Priester zu zeigen (IV 9); er wies diejenigen nicht zurecht, die wegen der von ihm erwirkten Wunder den Weltenschöpfer priesen (IV 18); er duldete Missversständnisse seiner Anhänger, sogar das große Missverständnis des Petrus bei dessen Glaubensbekenntnis (IV 21). Dasselbe gilt auch für Lk. 12 : 22, weswegen  Marcion gesagt haben soll: Christus, der Verachter des Schöpfers, will nicht, dass man sich über Frivoles (wie Nahrung und Kleidung) Gedanken macht; im Widerspruch dazu hat er in Lk. 12 : 30f. stehen lassen: „euer Vater aber weiss, dass ihr dies benötigt. Trachtet jedoch nach seinem Reich! Und dies wird euch hinzugefügt werden“. Nicht einmal bei seinem Verhör hat Jesus ausgesagt, er sei der Sohn eines anderen Gottes, „damit er leiden könne“ ( IV 41). Die weltbeherrschenden Mächte mussten offensichtlich unwissend bleiben über seine Gottessohnschaft, – sie hätten sie sonst verhindern können; so waren sie hereingefallen.

Meine Frage lautet ein weiteres Mal: Was hätte den rücksichtslos streichenden und willkürlich ändernden Marcion daran hindern können, für die oben genannten, für ihn wirklich anstößigen Stellen seinen berüchtigten Schwamm zu verwenden? Ist hier nicht deutlich erkennbar, dass er persönlich eine marcionitischere Einstellung hatte als seine Heilige Schrift?

Marcion lehrte im Stile der Stoiker die apatheia Gottes; Gott kennt keine Gefühlsregungen. Wäre Gott zornig [28] und eifersüchtig, würde er aufbrausen oder verbittert sein, so wäre er geschwächt und würde auch sterben (II 16). Dann kann aber das Alte Testament keine Offenbarung Gottes sein. Marcions Gott ist Tertullian (II 27) zufolge „der Gott der Philosophen“, von dem wiederum er nichts wissen will. Dennoch will auch Tertullian seinen Gott von Gemütsregungen frei halten, meint aber, dass man deshalb das Alte Testament nicht aufgeben müsse, indem alle scheinbar anstößigen Stellen nur auf den Logos zu beziehen seien, der seinem Wesen nach geringer sei als Gott. Der Dualismus der gegensätzlichen Götter, des  guten und des gerechten, ist bei diesem Gegner Marcions[56] noch nicht überwunden. Zeigt sich hier nicht wiederum, dass dieser Gegensatz in der vorkatholisch-christlichen Vorstellungswelt zuhause war?

 

[1]  „Marcion, das Evangelium vom fremden Gott”, 2. Aufl., Leipzig 1924, S. 135

[2]  H. Windisch, „Der zweite Korintherbrief“, Göttingen 1924

[3]  a. a. O., S. 135

[4]  Vgl. Hippol. VII 33; 10 : 21; Iren. I 26, 1; Epiphan. 28, 1

[5]  Vgl. Walter Bauers Kommentar zum Johannesevangelium, Tübingen, 1933, S. 127ff.

[6]  „Christus und die Kirche im Epheserbrief“ („Beiträge zur historischen Theologie“.5). Tübingen 1920. S. 66

[7]  „Kyrios Ièsous: Eine Untersuchung zu Phil. 2 : 5–11“. Heidelberg 1928. Vgl. seinen „Meyerkommentar“ zu Phil., Göttingen 1928 und meine Rezension in „N.T.T.“ 1928, S. 250ff.

[8]  Heinrich Schlier, „Christus und die Kirche im Epheserbrief“ („Beiträge zur historischen Theologie 6“). Tübingen 1930

[9]  Vgl. K. Müller in “Nachrichten der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse”, 1920, S. 179

[10]  A. a. O., S. 89

[11]  A. a. O., S. 40ff.

[12]  so Harnack, Marcion, S. 51

[13]  A.a.O.

[14] Marcion, S. 109

[15] A.a.O., S. 49

[16] Tertullian, IV 10

[17] IV 11

[18] A.a.O., S. 49

[19] A.a.O., S. 164

[20] S. 165

[21] A.a.O.

[22]  Haer. III, 1, 1

[23]  III, 14, 1

[24]  III, 10, 1

[25]  “L’Evangile selon Luc”, Paris 1924, p. 10–12

[26]  S. „G.S.” XVIII, S. 28ff.

[27]  Raschke, “Die Werkstatt des Markusevangelisten“, Jena 1924, S. 34. Das gnädige Nicken, mit dem Harnack Raschkes Werk „ein durch Fleiß ausgezeichnetes Buch“ nennt, wird dem Autor vergällt durch die Hinzufügung „aber ganz unbrauchbares“. Aber gerade im Hinblick auf Harnacks „Marcion“ steht Raschke in einer besonders starken Position, wie es diese süßsaure Beurteilung ausreichend aufzeigt. Hätte Harnack dieses ‚Unbrauchbare’ ernsthaft in Gebrauch genommen, die 2. Auflage seines „Marcion“ hätte dabei gewonnen. (Siehe S. 246, Anm. 1).

[28]   Raschke, S. 73f.

[29]   „Marcions Paulusbrief an die Römer nach Epiphanius“, in „Abhandlungen und Vorträge herausgegeben von der Bremer wissenschaftlichen Gesellschaft“, Heft 2/3, Jahrgang 1, S. 129, Dez. 1926, Bremen, Car Schünemann Verlag, S. 139

[30]  „Zeitschrift für Kirchengeschichte“, 42, S. 202–203

[31]  „L’Evangile selon Luc“. Paris, 1924, p. 62

[32]  Man vergleiche die Kommentare von Loisy (s.o.), E. Klostermann in Lietzmanns „Handbuch“, 2. Aufl. Tübingen, 1929; zu empfehlen ist auch Gottfried Erdmanns „Die Vorgeschichten des Lukas- und Matthäusevangeliums und Vergils vierte Ekloge“, Göttingen, 1932

[33]  „Eranos-Jahrbuch“, 1936, S. 351f.

[34]  „Marcion“, 2. Aufl., S. 204f.

[35]  In „La Nouvelle Revue Française“. 27. année, No. 312, 1er Sept. 1939, p. 413

[36]  S.  P.-L. Couchoud, „L’ Evangile de Marc a été écrit en latin“, in „Premiers écrits du Christianisme“ par G. A. van den Bergh van Eysinga, Paul-Louis Couchoud, Robert Stahl. Paris – Amsterdam 1930. Couchoud nimmt an, wie bereits Ephraem der Syrer im 4. Jht., dass das Markusevangelium in Rom in lateinischer Sprache abgefasst wurde.

[37]  S. 389

[38]  ed. J. M. Schmid, 1900, S. 176

[39] „Godsdienstwetenschappelijke Studies“, XI, S. 34f.

[40]  Raschke, S. 71

[41]  Vgl. meinen Aufsatz in „Nieuw Theologisch Tijdschrift“, 1933, S. 237–248

[42]  Vgl. Tertullian I 19; IV 7

[43]  „Marcion“, S. 206

[44]  II 14, 7; vgl. I 20, 3

[45]  Vgl. E. Norden, „Agnostos Theos“, Berlin 1913, S. 277ff.; Johannes Weiss, in „Neutestamentliche Studien Georg Heinrici dargebracht“, 1914, S. 120ff.

[46]  IV 6, 1

[47]  Vgl. Bolland, „De Theosophie in Christendom en Jodendom“, Leiden 1910, S. 27

[48]  in „Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament“, I 84

[49]  Siehe Hippol. VII 27

[50]  a.a.O. VI 19

[51] vgl. Röm. 14 : 2, 17

[52] Matth. 11 : 18f.)

[53] Darüber findet man das Nötige in: G. W. Wolthuis, „Wijsbegeerte van den Godsdienst, bewerkt naar dictaten, geschriften en brieven van prof. Bolland, Leiden 1923, S. 89ff.

[54] Im Original steht hier „Marcion“ – wohl ein Flüchtigkeitsfehler.

[55] Im Original steht hier ‚Harnack’ – wohl ein Flüchtigkeitsfehler.

[56] Vgl. Max Pohlenz, „Vom Zorne Gottes“, Göttingen 1909, S. 28