Hermann Raschke

Aus: Das Christusmysterium

Persönliches Nachwort (von Hermann Raschke)
 S.360-364 – 1954

Hermann Raschke

Geboren Hamburg-Altona 1887
Universitäten Marburg und Berlin 1910-1914 Prüfungen in Hamburg
Pastor in Bremerhaven seit 1917
Arbeiten
Werkstatt des Markus-Evangelisten 1923
Römerbrief des Markion 1926
Orte und Wege Jesu, Pariser Vortrag 1927
Der innere Logos im antiken und deutschen Idealismus 1949 Metaphysizierung. Ein Wort zur These Rudolf Bullmanns 1953 Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, V. Jahrg. Heft 2
Reisen
1925 Palästina, Untersuchung der Königsgräber
1927 Paris, Kongreß für Geschichte des Christentums zu Ehren Alfred Loisys

In meiner philosophischen Entwicklung ist seit 1908 das System Eduard von Hartmanns entscheidend gewesen, vor allem seine realistische Erkenntnistheorie und seine kritische Haltung gegenüber Kant. Freilich bin ich zu einem tieferen Kant-Verständnis unter dem Einfluß Fichtes, Hegels und Schellings, vor allem durch des letzteren Münchener Vorlesungen erst um 1935 gekommen und glaube in meiner Schrift über den Inneren Logos die offenbare Einseitigkeit Hartmanns in seinem Kant-Verständnis überwunden zu haben.
Der Begriff des unbewußten Geistes als absolutes metaphysisches Prinzip und als Synthese des absoluten Logos und des absoluten Willens (Hegel und Schopenhauer) ist die Voraussetzung meiner lebenslangen Mühe um das metaphysisch Letzte und Höchste geblieben, wie ich überhaupt eine wesentlich dem Spekulativen zugeneigte Natur bin und meine eigentliche Heimat im deutschen Idealismus von Kant bis Schelling und Hartmann gefunden habe.

Meine theologisch wissenschaftliche Entwicklung stand seit 1910 unter dem Einfluß der historisch-kritischen Schule, die über Adolf Harnack hinaus den Einfluß der Religionen der Antike, besonders des Orients auf die Entstehung des Christentums bis ins einzelne der Evangelien hinein verfolgte. Hier fesselte mich besonders die Frage nach der Sprache, die hinter den Evangelien steht, insbesondere die Forderung Julius Wellhausens, Göttingen, daß das Aramäische als „Sprache Jesu“ für die Erklärung der Evangelien zu berücksichtigen sei. In diesen Studien über den gegenseitigen Einfluß der griechischen Koine und des Semitischen und besonders des Aramäischen traf mich die Frage „Hat Jesus gelebt?“, die mich um so mehr erregte, als sie von Arthur Drews aufgeworfen wurde, der mir unter den damals lebenden Philosophen als Hartmannianer am nächsten stand; seine „Religion als Selbstbewußtsein Gottes“ hatte mich endgültig für die religiöse Metaphysik Hegels und Hartmanns gewonnen und mich über den liberalen Protestantismus hinausgeführt, der auf antimetaphysischen Agnostizismus und unkontrollierbare Innerlichkeit und auf das Gefühl des sog. christlichen Selbstverständnisses hinausläuft. Die Jesus-Schwärmerei der menschlich so aufgeschlossenen Liberalen stieß mich ab und drängte mich immer mehr in die tiefe religiöse [361] Spekulation Hegels, Schellings und Hartmanns. Mein Hang zur Metaphysik machte es mir selbstverständlich, daß Jesus Christus eine Gestalt ist, die der metaphysischen Sphäre des Ewigen und nicht der physischen Sphäre des diesseitig Historischen angehört. Über meinem ganzen Denken und Forschen stehen die Worte Fichtes und Lessings: „Das Metaphysische, nicht das Historische macht selig, das Historische macht nur verständig. – Zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von notwendigen Vernunftwahrheiten (und ich füge hinzu: von methaphysischen Heilswahrheiten) nie werden. Und das Christentum wäre überhaupt keine Religion und hätte niemals den Sieg über die hohe antike Metaphysik davongetragen, wenn es das wäre, als was Harnack und der historische Positivismus es uns darstellte: Es war einmal ein Mann namens Jesus.“`

So sehr mich aber in der Folgezeit die Diskussion über die profangeschichtlichen Zeugnisse vom Leben Jesu (Tacitus, Sueton, Josephus), die heute theologischerseits preisgegeben werden, damals an die Seite von Arthur Drews drängte, so wenig befriedigte mich sein eigener Versuch, Jesus als eine Gestalt aus dem Sonnenmythos zu erklären. Ich hatte besonders bei meinem Lehrer Wilhelm Heilmüller in Marburg gelernt, daß die Evangelienerklärung zunächst ein Problem der Sprachen sei und daß wir uns in den engeren Kulturkreis von Syrien und Ägypten und die Kultur des alexandrinischen Zeitalters hineinzuarbeiten hätten. In dieser wissenschaftlichen Entwicklung befand ich mich etwa 1917, als ich nach dem galizischen Feldzug, verwundet und genesen, in den bremischen Kirchendienst trat. Die folgenden Jahre verwandte ich auf eine gründliche Einarbeitung in das biblische und außerbiblische Hebräisch und Aramäisch, behielt aber dabei immer die Frage im Auge, wie sich der Einfluß des den ganzen Orient beherrschenden Spätgriechischen der Koine auf das nachbiblische Hebräisch, und wie sich überhaupt die Schichtung und der Zusammenstoß der griechischen und orientalischen Kultur geltend macht, besonders wie sich diese eigenartige Kulturmischung auf mein Problem der Entstehung des Christentums auswirkt; denn zwischen zwei Sprachen und zwischen zwei Kulturen ist das Christentum entstanden.

In dieser Arbeit stieß ich auf die Fährte, die seitdem meine ganze Forschung bestimmt hat: der Evangelienverfasser, er sei, wer er sei, ist zweisprachig, und er macht sich bewußt diese Situation zunutze, indem er dichterische Wortverflechtungen und Wortgleichungen der hebräischen Innenseite hinter der griechischen Außenseite verbirgt, so daß im griechischen Übertragungstext die hebräisch-aramäischen Beziehungen und Kombinationen der Unterschicht nicht unmittelbar zu erkennen sind. Der Evangelienverfasser ist Dichter; die Evangelien sind Dichtung; der Verfasser verbirgt absichtlich, er macht bewußt Mysterium, indem er Motive zweier Sprachen und Kulturen und Religionen ineinanderwebt. Wir haben also die Evangelien bisher nur von der griechischen Außenseite gelesen, wir müssen sie aber auch von der hebräischen Rückseite und Innenseite her lesen, nach dem Worte Goethes, daß Gediächte gemalte Fensterscheiben mit einer Innen- und Außenansicht sind.
Ich habe mich während des ganzen Jahrzehnts, von 1920-1930, lediglich mit dieser Frage der Form und der Methode beschäftigt und Szene für Szene auf ihre Doppelseitigkeit hin untersucht und aufgelöst. Erst seitdem erweiterte sich mein Blickfeld; ich arbeitete mich in die griechische Mythologie hinein und fand, daß man in das Geheimnis der bisher undeutbaren griechischen Götternamen nur auf diesem Wege eindringen kann; denn unter der uns bekannten griechischen Oberfläche liegt als nächste eine semitische Kulturschicht, und von ihr aus lösen sich viele bisher ungelöst gebliebene Probleme der griechischen Kultur; m. a. W. unsere [362] Altphilologen müssen zugleich Semitisten werden, wenn sie ihre Aufgabe lösen wollen.

Das für mich entscheidende Ergebnis dieser mythologischen Wanderung war das gründliche Studium der Mythen von Dionysos und Herakles und die Gewißheit, daß diese beiden Gestalten in ihrer späteren Ausbildung auf die Formung der Jesus-Gestalt eingewirkt haben; schon Hölderlin, Schelling und Nietzsche haben darauf hingewiesen. Von hier aus richtete ich dann meinen Blick auf den philosophischen Hintergrund des Dionysos- und Herakles-Mythos in Verbindung mit dem Jesus-Mythos der Evangelien, zumal ich mich seit 1935 tiefer in die alte Philosophie und besonders Plotin einlas. Ich erkannte, daß das Grundmotiv der ganzen antiken Philosophie die Arbeit am Logos-Begriff ist und daß dieser eine ganz klare Entwicklung durch alle Systeme von Heraklit bis Plotin durchgemacht hat, aus dem Klassischen der Ausgangsstellung bis ins Romantische des Neuplatonismus und der Gnosis. Und wenn die älteste kirchliche Soteriologie auf der Gleichung Jesus-Logos beruht, so sah ich nun, daß es beim späten Dionysos- und Herakles-Mythos nicht anders ist. Ich kam zu der Ansicht, daß der Übergang von der Soteriologie der ausgehenden Antike zur christlichen Soteriologie eine durchaus organische Entwicklung ist im Sinne von Schelling: Jesus Christus ist Gipfel und Ende der alten Götterwelt und ist der letzte Gott. In dieser Ansicht wurde ich bestärkt dadurch, daß es eine Reihe gnostischer Beweisstücke gibt, wonach der Name „Jesus“ aus dem Hebräischen übertragen an sich schon die beiden Inhalte der griechischen und alexandrinischen Spekulation, nämlich „das Sein“ und „das Heil“ in eins zusammenfaßt und daß aus diesem Grunde der Nimbus um das Haupt des Ikonen-Christus der östlichen Kirche bis heute die Inschrift ho ôn, der Ewig-Seiende, trägt. Damit war der Weg frei zu meiner These: Jesus Christus ist die Gottheit der Gnosis. Schon während meiner Beschäftigung mit der Frage nach dem ersten Zeugnis über das Markus-Evangelium und dann, in welchem Kreise es zuerst auftaucht, war mir seine nahe Beziehung zur markionitischen Gnosis aufgefallen. Es traf sich, daß in jener Zeit die gewaltige Monographie über Markion von Harnack erschien und mich zur genauen Durchprüfung meiner Vermutung nötigte, daß das Markus-Evangelium ein gnostisches Evangelium aus der Partei der Markioniten ist, und noch bei meiner letzten persönlichen Begegnung mit dem durch sein Buch über die Gnosis bekannten Hans Leisegang in Bremen im Oktober 1950 bestätigte er mir, daß meine diesbezüglichen Ausführungen in meinem Markusbuche ihn sofort von der gnostischen Herkunft des für die drei ersten Evangelien grundlegenden Markus-Evangeliums überzeugt hätten. Da aber der gnostische Charakter des Johannes-Evangeliums sowieso anerkannt ist, so ergab sich in Verbindung mit diesem Resultat meiner Markusforschung, daß die Evangelien überhaupt zur gnostischen Literatur gehören.

Philosophisch ergab sich für mich die Frage nach dem Verhältnis des alexandrinischen Neuplatonismus aus der Linie Philon-Plotin zur Gnosis als einer religiösen Philosophie und Soteriologie, und ich fand, daß die durch die Evangelien hindurchleuchtende Heilslehre ein naher Verwandter, um nicht zu sagen Bruder des Neuplatonismus ist. Andererseits ergab sich für mich bei der nahen Verwandtschaft, die zwischen Plotin und Eduard von Hartmann besteht, worauf besonders Arthur Drews in seinem Buche über Plotin 1907 hinweist, die Frage, inwieweit Hartmann als Religionsphilosoph in seiner philosophischen Heilslehre selbst schon Gnostiker ist, und ich fand, daß die aus dem Neuplatonismus heraus entwickelte christlich gnostische Heilslehre und die Heilslehre Hartmanns grundsätzlich auf das gleiche hinauslaufen. Eduard von Hartmann ist gnostischer Christ ohne es [363] zu wissen, wie sich auch in einem Vortrage über das Wort Gottes vom Jahre 1933, zwei Jahre vor seinem Tode, Arthur Drews im Sinne des Johannes-Evangeliums und des johanneischen Logos zum Christentum bekannt hat.

Eduard von Hartmann ist Christ im Sinne der gnostischen Soteriologie, wie das berühmte Wort am Schlusse seiner gewaltigen „Phänomenologie des Sittlichen Bewußtseins“ vom Jahre 1879 zeigt:

Das reale Dasein ist die Inkarnation der Gottheit, der Weltprozeß ist die Passionsgeschichte des fleischgewordenen Gottes und zugleich der Weg zur Erlösung des im Fleische Gekreuzigten.

Aber ihm fehlten noch die gelehrten Mittel, die wahre Sachlage zu erkennen, wie andererseits den Theologen noch die philosophischen Voraussetzungen zu der Erkenntnis fehlen. daß die philosophische Erlösungslehre Schellings und Hartmanns mit der echten Christologie gleich ist. In der vorliegenden Arbeit über das Christus-Mysterium verfolge ich dieses Ziel: Versöhnung zwischen den tiefsten Tendenzen der deutschen Spekulation und dem Christentum im Sinne der Johannes-Gnosis.

Es war vorauszusehen, daß das religiöse und vor allem das christliche Bewußtsein nicht bei der sogenannten liberalen Ansicht über den Ursprung des Christentums aus der „Predigt eines Mannes namens Jesus“ stehenbleiben konnte. Religion ist Befriedigung des metaphysischen Bedürfnisses, das aus dem Ewigen und Unbedingten im Geiste des Menschen entspringt. Das Unbedingte des Geistes, das als Denken nach Wahrheit und als Wollen nach Freiheit strebt, ist das Element des Glaubens, und darum kann das echte Christentum niemals Feind der metaphysischen Spekulation sein, wenn es sich selbst richtig versteht. Schon Albert Schweitzer richtete „die Predigt Jesu“ von dem leeren Begriff der Liebe (zu Gott und dem Nächsten) wenigstens auf den Glauben an das Gericht des nahen Weltendes aus und gab durch seine konsequente Eschatologie dem Christentum wenigstens einen Anhauch von Metaphysik zurück. Unter dieser Blickrichtung auf das Letzte und unter dem Druck der Katastrophe des ersten Weltkrieges bereitete sich dann um 1920 die Wendung vom Kulturoptimismus der Vorkriegszeit zum Kulturpessimismus der Nachkriegszeit vor. Dieser Umschwung trat unter Anlehnung an Luther, Pascal und Kierkegaard, als ob es niemals einen Schopenhauer gegeben habe, in einer Art von theologischem Romantizismus in Barth, Brunner und Bultmann hervor, um in der Verzweiflungstheologie des Nichtwissenkönnens und des blinden Glaubens und in einer völligen geistigen Unzugänglichkeit dessen, was man ohne denkende Kontrolle durch Anleihe an ein längst überholtes theologisches System blindwillkürlich „Gott“ nennt, zu enden. Hiernach ist dann das Christusgeschehen der urzufällige Einbruch des Jenseits in das Diesseits und jeder wissenschaftlichen Kritik unerreichbar.

Diese kurzhandige, um nicht zu sagen brutale Re-metaphysizierung als Gegenschlag gegen die liberale Ent-metaphysizierung geschah also auf Kosten der Wissenschaftlichkeit und stützte sich auf den unkontrollierbaren Begriff „Kirche“. „Kirche“ aber umschließt das christliche Bewußtsein rückwärts bis in seine frühesten Anfänge und zwingt zu einem kritisch wissenschaftlichen Rückgang auf die Gleichung Logos-Christus als Ausgangsstellung. Dieser augenblicklich voll in Gang befindliche christliche Wiederholungskursus muß notwendig beim Logosbegriff des Anfangs unserer Religion wieder ankommen, wie es besonders bei Brunner deutlich wird.

Ebenso ist die Forderung Bultmanns, das Christentum zu ent-mythologisieren und es aus der Sprache des Mythos in die Sprache der Wissenschaft umzusetzen, [364] nichts anderes als die Reduktion des Christentums auf seinen wahren Inhalt, und das ist der Logos als Heiland der alexandrinischen Spekulation.
In diese theologische Situation und Diskussion zwischen Barth, Brunner, Bultmann und Thielicke tritt meine These von der radikalen Metaphysizierung des Christentums ein.
Wenn wir wissenschaftlich schrittweise die Richtung der neuesten kirchlich theologischen Entwicklung einhalten, so kommen wir notwendig bei der LogosGnosis als dem echten Ursprung des Christentums an, und dem Nachweis, daß eine Wiederherstellung des Christentums nur durch eine Rückkehr zur Erlösungsgnosis oder zur Soteriologie unter Abstreifung der mythischen Hülle möglich ist – daher die Berechtigung der Forderung nach Entmythologisierung -, diesem aus der theologisch wissenschaftsgeschichtlichen Situation notwendigen Nachweis dient diese Arbeit über das Christus-Mysterium oder über die Wiedergeburt des Christentums aus dem Geiste der Gnosis.

Gott will Mensch werden, damit der Mensch Gott werde und mit immer reineren und freieren Kräften im Dienste der Erlösung dieser Welt stehe. Im Menschen nur kann Gott zum Heil gelangen. Christus am Kreuz ist das höchste Symbol. Der Mensch selbst ist der gekreuzigte Gott. Der Heiland am Kreuze ist das ähnlichste Bild deiner selbst. Und der wahre Gnostiker liest über dem Gekreuzigten das tiefe Wort

Das bist Du selbst

Hermann Raschke: Historischer und metaphysischer Christus

Aus: „Die Werkstatt des Markusevangelisten. Eine neue Evangelientheorie“,1924, Seite 26-30.

Es ist dem Kundigen von vornherein klar gewesen, daß in der Frage nach der historischen Existenz oder Realität Jesu Christi wieder einmal der Krankheitskeim zum Durchbruch kam, der im Christentum von Anfang enthalten war und der das Christentum nicht eher zur Ruhe kommen läßt, als bis er kritisch überwunden oder ausgestoßen worden ist. In Wahrheit wird diese Frage darum heute nur zum Schein als eine solche der Wissenschaft behandelt, da sie in Wirklichkeit eine Sache der Religion oder der Christologie ist, eine innerchristliche Angelegenheit, die so alt ist wie das Christentum selbst. Es hat immer Christen gegeben, denen die metaphysische Wirklichkeit über die physische ging, denen der metaphysisch wirkliche Christus näher stand als der geschichtlich reale, es hat immer Leugner des „historischen“ Jesus gegeben, weil es im Christentum immer Gnostiker gegeben hat, im Altertum, im Mittelalter und nun in der Gegenwart. Heute wie vor achtzehnhundert Jahren stehen einander Gnostiker und Vulgärchristen gegenüber, Fleischeschristen und Geisteschristen, Sarkiker und Pneumatiker, oder wie wir sagen: Metaphysiker und Positive, d. h. Positivisten des Christentums. Die Frage nach der historischen Existenz Jesu Christi muß darum heute noch einmal so gestellt werden, wie sie zu Anfang unserer Religion gestellt wurde: Ist Jesus Christus ein vom Weibe geborener Fleischesmensch, m. a. W. wurde er überhaupt geboren oder ist er so wirklich, wie die Gottheit wirklich ist, ohne deshalb fleischliche Wirklichkeit zu haben? wie ist Erlösung möglich? durch den gnostischen oder durch den fleischlichen Christus, den vom Weibe geborenen, den katholischen? durch den fleischlich wirklichen, den „geschichtlichen“ Christus oder durch den geistigen ewigen? muß dieser Erlöser metaphysische oder fleischliche Wirklichkeit haben, muß er ewiger oder zeitlicher, einmalig vergangener oder ewig gegenwärtiger Christus sein? Ganz ähnlich wie heute stritten sich etwa ein Markionit und Tertullian um 200. Beide wollen Erlösung; sie sind rein soteriologisch und christologisch interessiert; beide brauchen einen realen Christus, sie stehen insofern auf gleicher Basis mit ihrer Christuslehre, nur die soteriologische Wertbetonung ist auf beiden Seiten verschieden. Tertullian wirft Markion nicht vor, daß dessen Christus nicht wirklich sei, weil Markion die Geburt Christi leugnet und leugnet, daß er ein Mensch von Fleisch und Blut ist, er weiß wohl, daß die höhere Realität, die der Gegner von seinem Christus aussagt, sich mit der von ihm vertretenen messen kann; ihm ist die metaphysische Realität des gnostischen Christus theoretisch ausreichend, darauf seine Erlösungshoffnung aufzubauen. Tertullian muß nur auch zugleich die fleischliche, konkrete „geschichtliche“ Realität behaupten, weil sein praktisches Erlösungsbedürfnis die Auferstehung des Fleisches fordert, [26] daher auch die fleischliche Auferstehung verlangt und so rückwärts Fleischestod und Fleischesgeburt und was damit zusammenhängt. So ist die „historische“ Realität soteriologisches Postulat der katholischen, wie die metaphysische Realität soteriologisches Postulat der gnostischen Kirche ist.

Darüber aber läßt sich heute kaum noch streiten, welches von diesen beiden Postulaten innerhalb des Christentums das Prioritätsrecht beanspruchen darf. Die Gnosis ist älter und edler, aus ihr ist das Christentum geboren, das katholische Prinzip ist später eingedrungen, und das älteste Evangelium, das des Markus, gehört der Gnosis, und zwar derjenigen an, die einen wirklichen, d. h. aber metaphysisch wirklichen Christus verkündete, den fleischlichgeborenen aber leugnete und darum keine Geburtsgeschichte Jesu Christi erzählt. Erst wenn heute beide Parteien so übereinander klar geworden sind, daß sie nichts anderes sind als die Vertreter des uralterr Gegensatzes innerhalb des Christentums, des Gegensatzes zwischen Fleisches- und Geisteschristus, dann hört auch das Recht zu gegenseitiger Verketzerung auf. Denn ebensowenig wie der „historische“ Christus jemals Gegenstand des urchristlichen Bewußtseins gewesen ist, ebensowenig der rein metaphysische der deutschen spekulativen Religionsphilosophen. Ebensosehr haben aber auch beide Prinzipien das Recht, ihren Ursprung im ältesten Christentum zu behaupten. Keine von beiden Parteien kann sagen: ich bin Christ — du nicht; denn den Gegensatz zwischen Historisch und Nichthistorisch gibt es für das urchristliche Bewußtsein überhaupt nicht, da .es noch kein Wirklichkeitsbewußtsein im heutigen Sinne gab. Es handelt sich nur um die Frage: Ist Jesus Christus eine Wirklichkeit oder nicht? Darauf nun gibt das urchristliche Bewußtsein zweierlei Antworten. Die Gnösis sagt: zwar eine Wirklichkeit, aber nicht eine Wirklichkeit, die von dieser Welt ist, sondern eine Wirklichkeit des Geistes, eine wahre Wirklichkeit, eine ewige Wirklichkeit, eine unvergängliche, während diese Welt ja nur Schatten und Schein ist, der vergeht. Das Vulgärchristentum sagt: auch diese Welt ist von dem einen und demselben Gott, der sowohl diese Welt geschaffen hat als auch der Vater Jesu Christi ist, und also muß auch Jesus Christus an dieser Weltwirklichkeit teilhaben, ebenso wie wir mit unserer Fleischesnatur in diese Welt versenkt sind. Der Vulgärchrist wollte mit der ihm durch die Geburt anhaftenden Fleisches- und Weltnatur und überhaupt mit dieser Welt durch Jesus Christus erlöst werden und mußte darum fordern, daß Christus teilhabe an dieser Welt, der Gnostiker wollte von dieser Welt erlöst werden und mußte darum seinen Erlöser von allem, was auf diese Welt Bezug hätte, unberührt und unbefleckt denken. Darum aber, weil ein Wesen nicht von dieser Welt war, mußte es deswegen nicht unwirklich sein, im Gegenteil, gerade als ein Wesen der höheren Welt war es erst recht wirklich, [27] weil die offenbare, die sichtbare und greifbare Wirklichkeit nur eine abgeleitete, sekundäre, eine Minderwirklichkeit war gegenüber der wesenhaften Wirklichkeit des Geistes, die wahrhaft und ursprünglich, die erst eigentlich Wirklichkeit ist — realissimum. So lagerten, von uns aus gesehen, für das urchristliche Bewußtsein zwei Wirklichkeiten nebeneinander, und zwar auf demselben Bewußtseinsniveau, die Wesenwirklichkeit oder die metaphysische Wirklichkeit, das Realissimum, und die Weltwirklichkeit oder Minderwirklichkeit, das Reale. Und beide Wirklichkeiten können der Geschichte angehören: Zeus und Cäsar sind beides geschichtliche Größen, oder wenn man will auch nicht; denn in unserem Sinne gibt es den Begriff „geschichtlich“ überhaupt noch nicht. So ist also der Gegensatz, der heute zur Debatte steht, ein Thema des zwanzigsten und nicht des zweiten Jahrhunderts. Von einem geschichtlichen Jesus Christus sprach im zweiten Jahrhundert weder Tertullian noch Markion, während sie sich die Wirklichkeit im einen oder anderen Sinne gegenseitig ohne weiteres zugestanden. Das Problem des einmalig geschichtlichen Jesus Christus ist dagegen ein Ergebnis der Bewußtseinsentwicklung, das notwendig erst jetzt, d. h. erst dann auftauchen konnte, da das Wirklichkeitsbewußtsein die Stufe der naiven Ununterschiedenheit und Beziehungslosigkeit von metaphysischer und physischer Realität, von erster und zweiter Wirklichkeit, von Realissimum und Reale verläßt und nun genötigt ist, Wirklichkeit im einen Sinne zur Wirklichkeit im anderen Sinne in ein neues Verhältnis zu setzen. Wie die antike Malerei sich erst langsam zu der Fähigkeit, perspektivisch real zu sehen, hinaufarbeiten und entwickeln mußte, so ist auch das Wirklichkeitsbewußtsein der Antike weit entfernt, perspektivisch real zu denken. Es trägt die verschiedenen Wirklichkeiten mit demselben Pinsel und mit denselben Farben auf und bringt es kaum bis zu einer schwachen Unterscheidung des Farbentones, während wir tausend Fackeln aufleuchten lassen, die uns die Wirklichkeit in vielen Hintergründen in immer neuem Lichte zeigen.

Wie der philosophische Positivismus heute im Fortgange der Bewußtseinsentwickelung auf die Frage nach seiner metaphysischen Begründung Rede und Antwort stehen muß, so steht auch der christliche Positivismus heute zum ersten Male vor der Aufgabe, zu begründen, warum nach seiner Behauptung die Erlösung im Sinne des Christentums nur auf dem Boden der einmaligen geschichtlichen Wirklichkeit Jesu Christi und nicht vielmehr auf dem der ewigen metaphysischen möglich sein soll. Jedenfalls hat der christliche Positivismus kein Recht, die Angriffe, die ihn von der christlichen Metaphysik her treffen, als Angriffe gegen das Christentum als solches hinzustellen; denn auch die positivistische Christlichkeit ist nur eine sehr relative. Und nachdem sich nun herausgestellt hat, daß die älteste Quelle des [28]

Christentums, wie es sich in den Evangelien darstellt, nämlich das Markusevangelium, gerade da entsprang, wo das historistische und positivistische Christentum sie am wenigsten vermutete, in der Gnosis, die die Geburt Jesu leugnete und darum die Geschichte seiner Geburt mit lautem Schweigen überging, so sind beide Parteien quitt. Denn das proton pseudos war überhaupt die Behauptung von der historischen Existenz Jesu Christi. Wer die historische Existenz behauptet, muß aber auch eine andere Geburt als die aus der Jungfrau behaupten, bewegt sich damit aber schon außerhalb des Christentums. Wer aber die Geburt aus der Jungfrau behauptet, dürfte sich damit außerhalb der Möglichkeit der historischen Existenz eines wirklichen Menschen von Fleisch und Blut bewegen — jedenfalls nach heutigen Wirklichkeitsbegriffen.

Und so leugnete die eine Partei die historische Existenz auch nur deshalb, weil die andere sie behauptete, wozu sie nicht berechtigt war. Es wäre demnach an der Zeit, daß beide Parteien ihre Akten zum Zwecke der Prozeßrevision zurückerbitten; denn sie haben die gegenseitigen Anklagen unter irrtümlicher Voraussetzung erhoben.

Die historische Existenz Jesu braucht nicht geleugnet zu werden, weil sie in Wirklichkeit gar nicht behauptet werden konnte. Denn das, was das christliche Altertum von Jesus Christus behauptet, ist zwar eine Wirklichkeit überhaupt, aber nicht eine historische Wirklichkeit in unserem heutigen Sinne, und es ist eine philosophische Fahrlässigkeit und Unterlassungssünde der sog. historischen und kritischen Schule, unkritisch dem altchristlichen Wirklichkeitsbegriff unseren Sinn und unsere Bedeutung unterzuschieben und zu meinen, als ob damit alles in bester Ordnung wäre. Der christliche Historismus ist in die Behauptung der historischen Existenz geradezu mit verbundenen Augen hineingetaumelt, ohne überhaupt die Möglichkeit zu erwägen, ob es sich hier nicht um eine ganz andere Wirklichkeit, etwa nur eine postulative und metaphysische im Sinne des naiven Wirklichkeitsbewußtseins der Antike handelt. Die Ursünde ist das Übersehen des gegen damals veränderten und entwickelten Wirklichkeitsbewußtseins. Was nach damaligen Begriffen durchaus möglich war, d. h. innerhalb der Grenzen der Wirklichkeit lag, liegt nach heutigem Wirklichkeitsbewußtsein außerhalb der Wirklichkeitsgrenzen.

Muß Jesus Christus historisch wirklich in unserem Sinne gewesen sein, um dem urchristlichen Erlösungsbedürfnis Genüge zu leisten? Nein.

Muß Jesus Christus irgendwie wirklich sein — ohne näher zu bestimmen, in welchem Sinne —, um dem urchristlichen Erlösungsbedürfnis Genüge zu leisten? Ja.

Denn der evangelische Christus ist nur ein geschichtlich gekleideter paulinischer Christus. [29]

Der paulinische Christus ist ein katholisch frisierter gnostischer Christus. Der gnostische Christus ist nur eine metaphysische Wirklichkeit. Von dieser zu behaupten, daß sie geschichtliche Wirklichkeit sein müsse, wenn sie überhaupt Wirklichkeit sein solle, das ist nur ein Ausfluß der modernen Unfähigkeit, metaphysisch zu denken oder gar den Ideenrealismus der Antike nachzuempfinden.

Denn der Antike laufen metaphysische und geschichtliche Wirklichkeit zwar nicht durcheinander, aber sie stehen an unmittelbarem Wirklichkeitswert und sinnlicher Faßlichkeit einander gleich. Denken des Seins und Seindes Seins stehen für das antike Bewußtsein sehr nahe beieinander; wir können uns das unkritische Ineinander von Gedachtem und Wirklichem nicht groß genug denken. Das war aber zu überlegen, als man naiverweise den Fehler beging, die metaphysische Wirklichkeit zumal des evangelischen Christus für in unserem Sinne geschichtliche Wirklichkeit zu nehmen und nicht zu beachten, daß es diese letztere für das damalige Bewußtsein gar nicht gibt. Wir können den Übergang von einer Wirklichkeit zur anderen überhaupt nur schwer vollziehen. Für uns sind die verschiedenen Wirklichkeiten hintereinander, für das damalige Bewußtsein gleichsam nur nebeneinander geordnet. Auch das Wirklichkeitsdenken gewinnt mit der Zeit neue Dimensionen.

Schließlich ist in der ganzen modernen Kritik übersehen worden, wieviel die bewußte freie und wieviel die parteiliche evangelische Dichtung darin verschuldet hat, daß sie den Blick von dem paulinischen und gnostischen Christus abgelenkt hat, dessen Wirklichkeit allein gelten kann, da hier die Wahrheit über das, was Christus eigentlich ist, ohne durch die Hüllen des Scheines der evangelistischen Dichtung getrübt zu sein, deutlich zutage tritt. Diesen Fehler gutzumachen, ist die Hauptaufgabe der folgenden Arbeit. [30]

„Ein flammendes Bekenntnis zum Frieden“

Pastor Hermann Raschke und der Widerstand in der NS-Zeit

Von Pastor Frank Mühring, Bremerhaven
(Aus 150 Jahre Große Kirche – Bürgermeister-Smidt-Gedächtniskirche
Festschrift, 2005, 24-26, Bremerhaven)

Bremerhaven - Unierte Kirche
Bremerhaven – Unierte Kirche

„Der wird nicht lange bleiben! Dem pfeift doch der Wind durch die Backen!“ So lauteten Stimmen aus der Gemeinde, als der junge Kandidat Hermann Raschke 1917 mit 29 Jahren als Nachfolger Paul Schatzmayrs nach Bremerhaven kam. Ein Bild aus jenen Tagen zeigt einen mageren jungen Mann, der an der Front in Galizien schwer verletzt und daraufhin freigestellt worden war. Doch die Prophezeiung erfüllte sich nicht. Pastor Raschke blieb 40 Jahre an der Bürgermeister-Smidt-Gedächtniskirche und prägte diese Gemeinde in unnachahmlicher Weise – vor allem durch seine mutige Haltung in der Zeit des Nationalsozialismus.

„Nie wieder Krieg“ – dieses trotzige Wort aller traumatisierten Soldaten war auch in Raschkes geistigem Handgepäck. Nur so verstehen wir sein späteres Aufbegehren gegen die sich militaristisch gebenden Nationalsozialisten im Jahr 1933.

Ein geistiger Vater Hermann Raschkes war der selbst in Fachkreisen recht unbekannte Theologe Arthur Drews, der in seinem Buch „Die Christusmythe“ die historische Existenz Jesu bestritt – eine Außenseiterposition. Dass Jesus wirklich gelebt hat und tatsächlich gekreuzigt worden ist, bestreiten nicht einmal außerbiblische Quellen. Raschke freilich vertrat seine Meinung, Jesus sei eine „Kopfgeburt der Ideenwelt der Gnosis“, mit Verve. Er lehrte: Jesus, wie wir ihn aus den Evangelien kennen, ist eine Erfindung der ersten Gemeinden. Eine radikale Einstellung, aber radikal – das wollte Hermann Raschke auf eine positive Weise sein. „Revolution um Gott“ lautete der Titel eines Buches von ihm aus dem Jahr 1933. Er wollte darin neu nach den Wurzeln des Christentums fragen. Man horcht auf, wenn es in einem von ihm formulierten Glaubensbekenntnis heißt: „Wir glauben, dass der Mensch der Sohn Gottes ist, der Arbeiter an Gottes heiligem Werke, der Diener und Helfer zur Erlösung.“ Unzählige Konfirmanden haben dieses Bekenntnis auswendig gelernt. Kein Quietismus lässt sich damit begründen, sondern nur ein tatkräftiger, auf Praxis zielender Glaube. Stärker denn als Theologe hat Raschke in Bremerhaven als Seelsorger und Kanzelprediger gewirkt. An der Seite des stilleren und eher schriftstellerisch wirkenden Kollegen Pastor Ernst-Walter Schmidt hatte es der weltoffene Mann aus Altona leicht, die Herzen zu gewinnen.

Bald nach der Machtergreifung im Jahre 1933 kam es zum Konflikt mit dem Nationalsozialismus. Hatte sich Hermann Raschke zunächst noch für den neuen und revolutionären „Stil“ der NS-Politik begeistert, so wurde er mehr und mehr von der NS-Propaganda und der blutigen Verfolgung der Regime-Gegner abgeschreckt.

Im April 1933 wurde Pastor Raschke durch den gleichgeschalteten Kirchenausschuss der Bremischen Kirche kurzfristig beurlaubt. Er hatte eine Ergebenheitsadresse an die neuen Machthaber nicht unterzeichnet, was ein hohes Risiko bedeutete. Sein Bremerhavener Kollege Ernst-Walter Schmidt hatte unterschrieben, vermutlich um einer drohenden Suspendierung zu entgehen. In der Ergebenheitsadresse heißt es: „Dass wir dieses Bekenntnis (zu Adolf Hitler) heute frei und ungehindert ablegen dürfen, erfüllt uns mit Freude und Dank. Wir danken dies der Regierung der nationalen Erhebung. Ihre Tatkraft hat Vaterland und Kirche vor dem Bolschewismus befreit.“ 34 Bremer Pfarrer unterschrieben dieses Wort, auch die Bremerhavener Pastoren Schmidt (Große Kirche) und Minor (Kreuzkirche, damals auch Mitglied der Bremischen Ev. Kirche).

Die Nazis versuchten während der kurzen Zeit einer Suspendierung mit Pastor Hahn aus Elmlohe einen hitlertreuen Nachfolger anstelle von Raschke auf die Kanzel der Großen Kirche zu bringen. Sie scheiterten am Widerstand des Kollegen Schmidt, der dem Dorfpfarrer das Dimissiorale (Erlaubnisschein) für Amtshandlungen verbot. Ebenso wurde seitens der Vereinigten Protestantischen Gemeinde der Versuch vereitelt, anstelle von Anton Schumacher den einflussreichen NS-Stadtverordneten Brandau zum „Gemeindeführer“ und Verwaltenden Bauherren zu ernennen. Pastor Raschke schrieb damals einen offenen Brief an die Presse, dass mit einer solchen Wahl die Gemeinde „peinlich belastet“ würde. Schumacher blieb im Amt.

Hermann Raschke ist es im übrigen zu verdanken, dass die Vereinigte Protestantische Gemeinde heute noch zur Bremischen Evangelischen Kirche gehört. 1940 sollte sie zwangsweise in die evangelisch-lutherische Landeskirche von Hannover eingegliedert werden. Zusammen mit seinem Kollegen Ernst-Walter Schmidt wehrte sich Raschke dagegen.

Der „Gemeindeführer“ Anton Schumacher konnte es gemeinsam mit den Pastoren ebenfalls vereiteln, dass 1941 die hitlertreuen „Deutschen Christen“ ein Führerbild auf den Altar stellen konnten. Ihm gelang es, den braunen Christen das Versammlungsrecht in der Kirche zu verweigern. Er schrieb im Gemeindeblatt am 18. Mai 1941: „Auf behördliche Weisung hin hat der Kirchenvorstand der Gemeinde sich veranlasst gesehen, der Ortsgemeinde Wesermünde der Deutschen Christen den Gemeindesaal für ihre monatlichen Gottesdienste zur Verfügung zu stellen. Das bedeutet keine Bindung unserer Gemeinde an die Deutschen Christen.“ Deutlicher als Pastor Schmidt konnte man es in jener Zeit der Diktatur kaum sagen: Nationalsozialistischer Geist und christliches Gedankengut widersprechen sich im Grundsatz. So tagten die Deutschen Christen zwar im Gemeindesaal, darüber hinaus gab es an der Großen Kirche mit ihnen keinerlei Zusammenarbeit.

1944 im September erfolgte der große Angriff auf Bremerhaven – Hermann Raschke überlebte die Flammenhölle. Sein Vater starb in den Trümmern des Pfarrhauses. Seine teure, umfangreiche und geliebte Bibliothek wurde vernichtet. Der Turm der Großen Kirche wankte im Feuersturm, die Glocken läuteten wie über einem Totenfeld. Aber der Turm blieb wie durch ein Wunder stehen. Raschke stand zum zweiten Mal in seinem Leben an einem Nullpunkt, mit ihm die meisten der Gemeindeglieder. Bremerhaven-Mitte war zerstört.

Hermann Raschke war am Ende des Zweiten Weltkrieges 58 Jahre alt. Doch noch einmal wurde er tätig, sammelte mit seinem Kollegen Schmidt die Gemeinde, die nun in den Dörfern rund um Bremerhaven haust und in den wenigen unzerstörten Häusern wohnte. Raschke machte unzählige Haustrauungen, Haustaufen und Besuche. Er stürzte sich in die Arbeit des Aufbauwerkes. Als er 1957 am Sonntag Kantate seinen Ruhestand antrat, hatte die Gemeinde seit fünf Jahren wieder ein Gemeindehaus im Herzen der Stadt.

Im Oktober 1960 konnte er zu seiner großen Freude die Wiedereröffnung der Großen Kirche erleben. Raschke hielt die Einweihungspredigt, an der die Bremerhavener Bevölkerung großen Anteil nahm. 1964 hielt Raschke als Pensionär noch einmal eine viel beachtete Rede am Volkstrauertag im Stadttheater. Raschke wiederholte sein stets neu formuliertes flammendes Bekenntnis zum Frieden. Wenige Jahre nach der Wiederbewaffnung der BRD protestierte er im Namen Gottes gegen das politische Credo, dass es Kriege immer gegeben hat und immer geben wird.

Vielleicht liegt hier auch ein Vermächtnis des Teilnehmers des Ersten Weltkrieges
und des Mannes, der die Bomben 1944 auf seine Stadt niederkommen sah. Die Große Kirche muss in allen ihren Kräften etwas dafür tun, dass Versöhnung zwischen den Menschen wächst, dass trennende Gräben zugeschüttet und Brücken zwischen den Menschen gebaut werden. Hermann Raschke starb am 3. September 1970. Die Trauerrede hielt Pastor Heinz Nölle von der St. Remberti-Kirche in Bremen. Begraben ist Raschkes Urne auf dem Bremerhavener Friedhof in Wulsdorf. Wenn es heute auch manche Reserve gegenüber seiner Theologie geben mag: Raschkes Vermächtnis zu pflegen und an ihn zu erinnern bleibt für alle Zeit eine wichtige Aufgabe der Vereinigten Protestantischen Gemeinde.

Das Glaubensbekenntnis des Hermann Raschke

Nebst einigen Bemerkungen über Hermann Raschke als Pastor an der Grossen Kirche in Bremerhaven, von Pastor Frank Mühring (Aus 150 Jahre Große Kirche-Bürgermeister-Smidt-Gedächtniskirche  Festschrift, 2005, 18-19, Bremerhaven)

Wir glauben an Gott, den allmächtigen und allweisen,
den heiligen Geist
Wir glauben an Jesus Christus, den Heiland der Welt,
den Erlöser.
Wir glauben, daß die Welt das Werk des heiligen Gotteswillens ist,
das Mittel und der Weg, der zum ewigen Frieden führt.
Wir glauben, daß der Mensch der Sohn Gottes ist,
der Arbeiter an Gottes heiligem Werke,
der Diener und Helfer zur Erlösung.
Wir glauben an die Gemeinschaft aller Gläubigen,
die ohne Furcht und Lohn, als nur,
daß Gottes heiliger Wille geschehe,
ihm dienen, ihm leben und ihm sterben.
Im Lichte Gottes stehe und geschehe alles,
was wir tun und lassen,
was wir leiden und wes wir uns freuen:
unsere Arbeit, unser Leiden, unsere Freude, Geburt und Tod.
Unsere Arbeit wollen wir tun wie ein Sämann,
der sät, und Gott soll ernten.
Leiden wollen wir,
als wenn wir eine teure Last zu ihrem Ziele tragen.
Freuden wollen wir mit tiefen Dank empfangen;
Gott ist es, der in uns sich freut,
sein heiliges Werk zu fördern.
Kommt der Tod, wir wollen ihn grüßen
als den verdienten Lohn nach harter Arbeit,
als die ersehnte Ruhe nach schwerem Streit.
Endlich in Gott für ewig zur Ruhe gehen,
ist das Ziel alles Lebens in Welt und Menschen.

Amen.

Kaum ein Pastor hat unsere Vereinigte Protestantische Gemeinde so sehr geprägt wie Hermann Raschke (1887-1970) aus Altona. Im Volksmund nannte man ihn den „Philosophen auf der Kanzel“. In seiner ersten Predigt am Sonntag Kantate des Jahres 1917 dankte
er dem Kirchenvorstand dafür, dass man „in religiösen Dingen der Rede- und Gedankenfreiheit eine Stätte bereiten“ wollte. Während er in Bremerhaven vor allem als Seelsorger und Prediger wirkte, blieb das Feld der wissenschaftlichen Theologie und Philosophie seine große Leidenschaft. Seinen eigenen Gedanken folgte die Fachwelt freilich weniger. So stellte Raschke in Frage, dass Jesus Christus eine historische Figur sei. Für ihn war das Christentum die höchste Vollendung einer gnostischen Erlösungslehre. Auf Raschke geht die Idee zurück, anlässlich der 100-Jahr-Feier Bremerhavens im Jahr 1927 die Große Kirche „Bürgermeister-Smidt-Gedächtniskirche“ zu nennen.

Bemerkenswert war Hermann Raschkes Konfirmandenunterricht. Im ersten Jahrgang wurde etwas abseits des üblichen Curriculums das mittelalterliche Heldenepos „Parzival“ von Wolfram von Eschenbach gelesen. Hermann Raschke stand in der Zeit des Dritten Reiches getreu seiner liberalen Haltung in Opposition zum Nationalsozialismus. Gemeinsam mit dem Kirchenvorstand und „Gemeindeführer“ Anton Schumacher gelang es ihm, die Große Kirche frei vom Einfluss der „Deutschen Christen“ zu halten. Nach dem Krieg verstand er es, die durch die Zerstörung von Bremerhaven-Mitte verstreute Gemeinde erneut zu sammeln. In Fragen der Wiederbewaffnung in den 5oer Jahren erwies sich der Kriegsteilnehmer des 1. Weltkrieges als radikaler Pazifist. Die Bremerhavener schätzten an ihm seinen Großmut und seine Toleranz, mit der er auch auf kirchenferne Kreise unbefangen zuging.

Im Ehrenamt war Raschke „Meister vom Stuhl“ in der Bremerhavener Freimaurerloge.