Joseph Turmel (Henri Delafosse)

Der unter 14 (!) verschiedenen Pseudonymen schreibende Abbé (Henri Delafosse, Antoine Dupin etc.)  gehört zweifellos zu den interessantesten und schillerndsten Gestalten des französischen „Modernismus“. Nach eigenem Bekunden hatte er den katholischen Glauben bereits 1886 verloren; gleichwohl tat er alles, um  ihn nach außen zu verteidigen. 1910 leistete er den  Antimodernisteneid, 1930 wurde er durch die excommunicatio maior aus der Kirche ausgeschlossen.

Lettres d’Ignace d’Antioche

Das Ignatius-Buch von Henri Delafosse alias Joseph Turmel wurde von Frans-Joris Fabri, dem bewährten Mitarbeiter dieser Seite, erstmals ins Deutsche übersetzt. Übersetzung und französisches Original können unten heruntergeladen werden.

Französisch:

Einleitung (pdf)

Kommentar (pdf)

Deutsch:

Einleitung (pdf)

Ignatiusbriefe: Text und Kommentar (pdf)

Polykarpbrief (pdf)

Gefangenschaftsreise des Ignatius – Karte (pdf)

Der Brief an die Römer – Einleitung und Kommentar

Übersetzt von  Frans-Joris Fabri

Text (pdf)

In seinem Kommentar zum Römerbrief erweist sich Turmel als  brillanter Exeget.  Obschon er am historischen Paulus festhält, hat er ein untrügliches Gespür für die verschiedenen Briefschichten, insbesondere für den großen Anteil marcionitischer Passagen, die er freilich für sekundär hält. Die Spannungen und Widersprüche werden.  präzise erkannt und scharfsinnig gelöst. Eine Reihe von Beobachtungen deuten sicher darauf hin, daß viele Abschnitte des Briefes  nur vor dem Hintergrund der theologischen Diskussion des 2. Jahrhunderts angemessen  verstanden werden können. (Osterfeststreit!).

[7] Einleitung

Als Paulus den Brief an die Römer schrieb (im Jahr 56) verblieb er in Korinth. Seine Unterkunft hatte er im Haus des Gaius, welches auch der Versammlungsort „der ganzen Kirche“ war (Rom. VXI, 23). Die Christen Roms hatten ihm nie ein Lebenszeichen gegeben; er hatte sie nie gesehen.

Dennoch entschloss er sich dazu, ihnen einen Brief zu schicken, welcher, so wie er sich uns heute präsentiert, mit einem großen Kompliment anfängt (I, 8: „Euer Glaube wird in der ganzen Welt verkündet“) und dann eine abstruse Theologie entwickelt, mit der manchmal eher unerwartete Moralvorschriften verbunden sind (zum Beispiel XIII, 7: „man soll die Steuern zahlen“), sowie noch überraschendere rückblickende Bemerkungen (VI, 18–23, die Christen Roms führten einst einen ausschweifenden Lebenswandel).

Die Exegeten fragen sich, weshalb Paulus den Römern dieses eigenartige Sammelsurium gesandt hat und geben dann auch nur eher verlegene Erklärungsversuche. Ihre Lösungen lassen jedenfalls Raum für neue Untersuchungen.

[8] Es werden nun alle in der Epistel behandelten Fragen der Reihe nach Revue passieren. In dieser Untersuchung wird nach Möglichkeit die Anordnung der Epistel selber übernommen. Hier und da jedoch wird man einmal davon abweichen müssen. Und ausgerechnet gleich am Anfang werde ich diesem Prinzip untreu, denn zunächst werde ich mich mit der Angelegenheit der Sammlung befassen.

Die Sammlung für die Heiligen in Jerusalem

Gegen Ende des Briefes in XV, 25–32 schreibt Paulus über die Sammlung, die er für die Armen in Jerusalem organisiert hat, und macht einige Erwägungen dazu, bei denen wir innehalten müssen.

Zunächst sagt er, dass die (Heiden-) Christen aus Mazedonien und Achaja „Schuldner“ der Jerusalemer Heiligen sind. Er erläutert diesen Gedanken, indem er hinzufügt, dass die „Nationen“ (der Beweis, dass er Christen heidnischer Herkunft im Auge hat) den Juden zu Dienste stehen müssen, was die „leiblichen Güter“ betrifft, nachdem sie ja die Teilhabe an „deren geistlichen Gütern“ bekommen haben. Durch die Teilhabe an den geistlichen Gütern haben sie eine Schuld aufgenommen; diese Schuld lösen sie ein, indem sie ihre leiblichen Güter hergeben. Der Gedankengang ist klar.

Wir müssen nur noch wissen, was diese „geistlichen Güter“ sind, deren die Christen heidnischer Herkunft [9] mit teilhaftig geworden sind. Es wird gesagt, dass mit diesen Gütern die Erlösung und die Gnade gemeint seien mit allem, was daraus folgt. Die Heidenchristen jedoch können nur dann „Schuldner“ der Juden sein, wenn sie Güter erhalten haben, die die Juden als Eigentum besaßen (siehe übrigens die Wendung: „ihrer geistlichen Güter“). Nun hat nie jemand geglaubt, Paulus habe sich die Erlösung als ein Gut vorgestellt, dass den Juden als ihr Eigentum gehörte. Die von den Kommentatoren angenommene Interpretation erklärt somit weder, wie die Heidenchristen an Güter aus dem Besitz der Juden teilhaben, noch wie diese Christen bei den Juden in der Schuld stehen. Wie sehen wir dann den Gedanken des Paulus richtig? Das werden wir bald herausfinden. Jetzt aber ist schon klar geworden, dass die von den Kommentatoren gegebene Auskunft falsch ist.

Wechseln wir zu einem anderen Gedankenstrang. Nehmen wir einmal an, dass die römischen Christen, denen Paulus seinen Brief schickt, heidnischer Herkunft sind. Sie konnten dann nicht anders, als den Text von XV, 27 auf sich selbst zu beziehen. Dann haben sie folgende Überlegung gemacht: „Wir, Christen heidnischer Herkunft, wir haben Anteil an den geistlichen Gütern aus dem Besitz der Heiligen in Jerusalem. Wir sind deren Schuldner. Und die Anleihe, die wir bei ihnen aufgenommen haben, müssen wir auslösen, indem wir ihnen unsere leiblichen Güter geben“. Die Lektüre von XV, 27 hat als Ergebnis gebracht, dass sie angeregt wurden, ihr Almosen dem Paulus zu schicken. Es ist also keine gewagte Annahme, dass Paulus [10] dieses Ergebnis vorhergesehen, und, da vorhergesehen, dass er es gewollt hat, und weiter, dass er XV, 27 gerade zu dem Zweck geschrieben hat, von den römischen Christen Geld zu bekommen[1][1].

Aber vielleicht waren die Empfänger des Römerbriefes Judenchristen. In diesem Fall hat die Lektüre von VX, 27 folgende Überlegungen ausgelöst: „Dieser Paulus, den man uns in so schwarzen Farben geschildert hat, hat sein Gutes. Zwar will er offensichtlich, dass die Heiden an unsern Privilegien Anteil bekommen. Aber daraus folgt für ihn, dass wir deren Geldgeber sind, und er stellt uns ihren Geldbeutel zur Verfügung. Wir werden unsere Brüder in Jerusalem darüber informieren, dass man diesen Mann verleumdet hat, und wir werden sie bitten, sich mit ihm zu versöhnen“. Auch dieses Ergebnis war vorhergesehen, und da vorhergesehen, intendiert.

Zusammengefasst heißt das: als Paulus den Römern schrieb, bemühte er sich darum, sie entweder für seine Geldsammlung oder für seine Sache zu gewinnen; und er hat sie entweder darum gebeten, ihm ihr Geld zur Verfügung zu stellen, oder aber um ihren Einfluss. Wenn man den Kommentatoren glaubt, hatte der Brief an die Römer andere Absichten, gleichermaßen grandiose wie undurchsichtige. Ich lasse diese vorläufig weitergelten, füge nur jene bescheidenen, jedoch gesicherten und eindeutigen hinzu.

Paulus bittet die Römer also um ihr Geld oder um ihren Einfluss. Um ihr Geld, wenn er an Heidenchristen schreibt; um ihren Einfluss, wenn der Brief an Judenchristen [11] gerichtet ist. Kann man für eine dieser beiden Hypothesen eine Entscheidung herbeiführen? Wir wollen es versuchen.

An vormalige Juden gerichtet ist der Text XV, 27 schmeichlerisch, da er im wesentlichen folgendes aussagt: „Die Heidenchristen stehen in der Schuld der Judenchristen, denn sie haben geistliche Güter bekommen, die den Juden als Eigentum gehören“. Jedoch an vormalige Heiden gerichtet bedeutet er: „ Ihr seid geringwertigere Leute als die Juden; gebt ihnen euer Geld, denn ihr steht bei ihnen in der Schuld!“ Dieses Ansinnen ist freilich erniedrigend; nicht wegen der Geldforderung, die darin steckt, sondern durch die Art und Weise, wie die Forderung gestellt und die Erwägungen, wodurch sie begründet wird. Das ist nicht die Art, in der man mit jemandem umspringt, um dessen Hilfe man bittet. Einen solchen umschmeichelt man, man kommt ihm nicht mit Unfreundlichkeiten.

Schauen wir übrigens mal danach, wie Paulus es anstellt, die Korinther dazu zu bringen, dass sie ihm Geld geben (2 Kor., VIII–IX). Was er ihnen sagt, läuft darauf hinaus: „Ihr, die ihr alle möglichen guten Eigenschaften habt, könnt es nicht an Großzügigkeit fehlen lassen. Ihr, deren Lob ich bei den Mazedoniern gesungen habe, müsst den guten Ruf, den ich euch verschafft habe, in Ehren halten ..“. Er nimmt sie bei ihrer Eitelkeit und Eigenliebe; und er hütet sich zu sagen: „Ihr steht bei den Heiligen in Jerusalem in der Schuld“. Die Ungeschicklichkeit, die er zu vermeiden gewusst hat, als er zu den Korinthern sprach, wie hätte er sie begehen können, als er sich an die Römer wandte? Er hat sie nicht begangen, lassen wir daran keinen Zweifel. Er hat [12] den Römern ein Kompliment machen wollen, indem er ihnen sagte, die Heiden stünden in der Schuld der Juden. Und aus dem Gedanken heraus, dass er ein Kompliment hat machen wollen, sind wir berechtigt zu schließen, dass die Christen Roms keine vormalige Heiden sind, die er um Geld bittet, sondern Juden, deren Sympathie er gewinnen will.

Der folgende Text bestätigt diese Schlussfolgerung. Paulus ist besorgt über den Empfang, den man ihm in Jerusalem bereiten wird. Er wird sich „Heiligen“ vorstellen. Er kann ihnen einen Koffer voll Geld anbieten. Sie aber haben für ihn einen Koffer voll Hass auf Lager. Wird das Geld, oder wird der Hass den Sieg davontragen? Paulus hat Angst, man könnte ihn abweisen, ihn selbst und sein Angebot. Und er bittet die Römer, sich für ihn zu verwenden (buchstäblich: „zu kämpfen“), damit der Empfang gut werde (XV, 30).

Zweifelsohne appelliert er an sie, für ihn zu Gott zu beten. Wenn man aber damit begonnen hat, sich für jemandes Interessen einzusetzen, bleibt man nicht auf halbem Wege stehen. Man geht durch alle Instanzen. Die Römer werden es nicht dabei bewenden lassen, Paulus Gott zu empfehlen; sie werden ihn auch den “Heiligen“ in Jerusalem empfehlen. Und für Paulus kam dieses Ergebnis gewiss nicht, ohne dass er es vorausgesehen hätte. Einmal mehr stellt man fest, dass Paulus kein Geld, sondern Empfehlungen will, und folgerichtig, dass die Christen an welche er sich wendet, Judenchristen sind.

Wir wissen nun, bei welcher Gelegenheit der Brief an die [13] Römer abgefasst wurde; wir kennen die Empfänger. Beschäftigen wir uns jetzt mit seinem Inhalt.

Die dem Abraham und seinen Nachkommen gegebene Verheißung

Die erste Abhandlung, die wir antreffen –nach Abzug der Anfangsverse– betrifft die dem Abraham und seinen Nachkommen gegebene Verheißung. Sie reicht von I, 16 bis X inklusive. Wir werden jedoch feststellen, dass sie durch mehrere Einschübe, worunter ein recht ausführlicher, zerteilt ist. Sie taucht dann wieder auf in XV, 8-12. Wir wollen mit diesem Textstück anfangen.

Man findet darin mehrere leicht erkennbare elliptische Sätze. Wenn man sie ans Licht gezogen hat, geht daraus hervor: „Gott hat dem Vater des Volkes der Beschneidung, das heißt dem jüdischen Volk (das Wort „Beschneidung“ bezeichnet nach übereinstimmender Meinung aller: das Volk der Beschneidung), Versprechungen gemacht. Diese Verheißungen bewirkten eine Verpflichtung, zumindest sich selbst gegenüber. Er ist es sich selbst somit schuldig, er war es der eigenen Wahrhaftigkeit schuldig, sie zu erfüllen. Und das erklärt, weshalb Christus sich in den Dienst des jüdischen Volkes gestellt hat. Durch ihn hat Gott seine eigenen Verheißungen zu Ehren gebracht, er hat den Beweis seiner Wahrhaftigkeit erbracht. Den Heiden aber war nichts versprochen worden. Sie konnten von Gott, der sich ihnen gegenüber zu nichts verpflichtet hatte, auch nichts einfordern. Dennoch [14] sind sie zur Teilhabe an den den Juden versprochenen Gütern zugelassen worden (hier haben wir die bedeutendste Auslassung im Textstück) Sie verdanken die Teilhabe Gottes Barmherzigkeit, denn, da er ihnen nichts versprochen hatte, war er ihnen auch nichts schuldig. Deshalb haben die Weissagungen der Propheten die Lobpreisungen der Güte Gottes durch die Heiden im voraus beschrieben“.

Das ist Paulus’ Gedankengang. Etwas weiter, im Vers 16, sehen wir, dass er sich selbst die Bezeichnung „Diener Jesu Christi für die Heiden“ gibt. Hier entschuldigt er sich im voraus für diese Bezeichnung und für diese Rolle – ein weiterer Beweis dafür, dass er Judenchristen anspricht, deren Sympathie er für sich gewinnen will. Er predigt den Heiden das Evangelium, erkennt aber an, dass die Heiden Gott gegenüber in einer schwächeren Ausgangslage sind, wenn man sie vergleicht mit derjenigen der Juden,

Das ist in anderer Form der Gedanke, dem wir schon in XV, 27 begegnet sind. Dort erfuhren wir, dass es den Heiden erlaubt wurde, teilzunehmen an Gütern aus dem Besitz der Juden, wir wussten aber nicht wie und durch welchen Rechtsanspruch die Juden Eigentümer dieser Güter geworden waren. Hier sehen wir nun, dass dieses Eigentum auf den von Gott gegebenen Verheißungen beruht, denen er um sich selbst willen treu bleiben muss. Unsere beiden Textstücke ergänzen sich gegenseitig. Sie lassen nur eine Sache im Dunkeln, die wichtigste, nämlich den Inhalt der göttlichen Verheißungen.

Welche Güter sind es also, die den Juden, nicht aber [15] den Heiden, zu geben Gott sich verpflichtet hat? Welche Güter sind es, woran die Heiden aus purer Barmherzigkeit teilhaben dürfen, wodurch sie dann bei den Juden in der Schuld stehen? Es steht fest, dass weder die Sündenvergebung noch die Erlösung oder die Gnade auch nur im entferntesten den Angaben darüber entsprechen. Bis jetzt aber wissen wir weiter nichts. Da unseren beiden Textstücken darüber kein Aufschluss zu entlocken ist, müssen wir versuchen, uns an anderer Stelle zu informieren.

In IX, 4 zählt Paulus mehrere Vorzüge der Juden auf. Es genügt hier die „Kindschaft“ und die „Verheißungen“ zu erwähnen. Den Juden gehört die Kindschaft, ihnen gehören auch die Verheißungen.

Die Kindschaft –es handelt sich hier selbstverständlich um Gotteskindschaft– wird im Alten Testament oft erwähnt. Manchmal wird sie dem jüdischen Volk kollektiv zugesprochen. In diesem Sinne lässt Hosea Gott sagen (XI, 1): „Ich habe meinen Sohn aus Ägypten gerufen“[2][2]. Derselbe Gedanke ist übrigens auch sonst in verschiedenen Texten enthalten, die, ohne dass das Wort „Kind“ benutzt wird, lehren, dass Gott Israel geliebt hat und es dazu bestimmt hat, sein Volk zu sein.

In anderen Fällen wird die Kindschaft dem König Israels zugesprochen. Das ist der Sinn des Verses aus dem 2. Psalm: „Du bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeugt“. Gott, der diese Worte selber spricht, hat gesagt, dass er seinen Sohn als König über Zion eingesetzt und ihn gesalbt hat [16] (dieser Psalm wurde nach dem Sieg der Makkabäer geschrieben; der Sohn Gottes, den er hier im Auge hat, ist wahrscheinlich Hyrcanus).

An anderen Stellen wird jeder Israelit individuell als Kind Gottes bezeichnet. Das ist der Fall in Deuter. XIV, 1: „Ihr seid Kinder des Herrn, eures Gottes“.

Paulus beschäftigt sich überwiegend mit dieser letztgenannten Kindschaft, ohne jedoch die erstgenannte auszuschließen, da ja beide nicht voneinander zu trennen sind. In seiner Vorstellung ist jeder einzelne Jude Kind Gottes, und das jüdische Volk im ganzen ist ebenfalls Kind Gottes.

Was die Verheißungen betrifft, auf die IX, 4 –wie auch XV, 30– anspielt: die sie erklärenden Texte fehlen nicht im Alten Testament und es wäre ein Leichtes, sie beizubringen. Wäre man dann aber sicher, dass diese Erklärungen der Vorstellung Pauli entsprechen würden? Nichts würde dem Wert eines von Paulus selber gegebenen Kommentars gleichkommen. Nun, es existiert ein solcher Kommentar! Er wird uns geliefert in IV, 13, wo wir lesen: „Denn Abraham und seine Nachkommen erhielten nicht aufgrund des Gesetzes die Verheißung, Erben der Welt zu sein, sondern aufgrund der Glaubensgerechtigkeit“.

Halten wir einen Augenblick inne bei diesem hochwichtigen Text, der eine Verheißung enthält mitsamt eines Aufrisses der Bedingungen, denen sie unterworfen ist. Lassen wir dabei die Bedingungen, auf die wir bald wieder stoßen werden, vorläufig beiseite, und beschäftigen wir uns ausschließlich mit der Verheißung. Ihr Inhalt ist die Erbschaft der Welt. Abraham ist durch göttliches Dekret [17] „Erbe der Welt“ geworden. Seine Nachkommenschaft bekam den gleichen Rechtstitel. Auch sie ist „Erbin der Welt“ oder, was auf das Gleiche herauskommt, die Beherrschung der Welt steht ihr aus dem Rechtsanspruch der Abstammung zu.

Diese Erbschaft ist es, die den „Heiligen“ in Jerusalem die „geistlichen Güter“ sichert, um die es sich in der Belehrung über die Sammlung handelt (S. [9]). Sie entspringt der göttlichen Gewährung, und wegen ihres göttlichen Ursprungs sind die Vorrechte, die sie mit sich bringt, „geistliche Güter“. Anderseits ist sie Abraham und seiner Nachkommenschaft zugesichert worden und infolgedessen gehören die geistlichen Güter, die sie verschafft, in erster Linie den Juden. Der Text IV, 13 erklärt also XV, 27. Er erklärt auch den Abschnitt XV, 8–12, welcher uns aufzeigt, wie Christus sich in den Dienst der Beschneidung stellt, um den göttlichen Verheißungen die Ehre zu geben.

Die Verheißungen, zu deren Erfüllung Christus gekommen ist, sind Verheißungen bezüglich der Herrschaft über die Welt; alle diese Verheißungen sind inhaltlich gleich, und es ist in Wirklichkeit nur eine einzige, obwohl wiederum doch auch mehrere, da ja die gleiche Verheißung mehrmals ausgesprochen wurde (Genesis XII, 7; XIII, 15; XV, 18; XXVII, 8; XXII, 18). Christus ist gekommen, um der Nachkommenschaft Abrahams die Herrschaft über die Welt zu übergeben. Nun aber verleiht er diese Wohltat nicht nur den Juden, denen diese Verheißung gegeben war; er verleiht sie auch den Heiden, die außerhalb der Verheißung standen, so dass es nun heißen kann (X, 12): „Darin gibt es keinen Unterschied zwischen Juden und Griechen“. Und das erklärt nun wieder [18] der Abschnitt XV, 8–12, wo wir lesen, dass die Heiden aus Barmherzigkeit zu den den Juden versprochenen Gütern zugelassen wurden.

Bevor wir weitergehen, wollen wir eine Frage beantworten, der wir an dieser Stelle einfach nicht ausweichen können. Die Abraham und seiner Nachkommenschaft gegebene Verheißung, die anschließend aus Barmherzigkeit auf die Heiden erweitert wurde, besteht in der Herrschaft über die Welt. Wieso sprechen dann manche Texte über das Heil? Warum steht zum Beispiel in I, 16, dass das Evangelium eine Kraft Gottes sei „zum Heil“, für jeden, der glaubt. Weshalb wünscht sich Paulus in X, 1, die Juden mögen „gerettet“ werden? Und warum fügt er etwas weiter in X, 13 (sieh auch X, 9) hinzu: „denn jeder, der irgend den Namen des Herrn anrufen wird, wird errettet werden“? Gibt es denn eine Verbindung zwischen der Weltherrschaft und dem Heil?

Diese Verbindung gibt es. Und die Propheten des Alten Testamentes zeigen sie dem Leser auf, wenn er sie konsultiert. Hören wir was Jesaja sagt in LVI, 14–15:

„Und die Hand des HERRN wird sich an seinen Knechten zeigen, aber seine Feinde wird er bedrohen. Denn siehe, der HERR kommt im Feuer, und wie der Sturmwind sind seine Wagen, um seinen Zorn auszulassen in Glut und sein Drohen in Feuerflammen.“.

Und Zephanja in I, 15:

“Ein Tag des Grimms ist dieser Tag, ein Tag der Not und der Bedrängnis, ein Tag des Verwüstens und der Verwüstung, ein Tag der Finsternis und der Dunkelheit..“.

Amos V, 18; Jeremias XXX, 7; Joel II, 11 [19] würden auf Befragen die gleiche Sprache sprechen. Die Propheten sagen, dass der Herr eines Tages eine gewaltige Metzelei unter seinen Gegnern veranstalten werde.

In ihrer Schule erzogen, rechnet Paulus mit dieser Metzelei; er erwartet den großen Tag. Er glaubt aber, Gott habe Christus mit der Durchführung seiner großen Werke beauftragt. Christus wird also vom Himmel, wo er sich derzeit aufhält, herunterkommen und die Ungläubigen in Stücke reißen. Die Gläubigen haben selbstverständlich nichts zu befürchten. Sie werden in Christi Geleitzug sein, ihr Platz ist also nicht unter den Opfern: sie werden „gerettet“ werden. Und da haben wir dann das „Heil“, so wie Paulus es versteht. Es ist das Privilegium der Gläubigen, dem großen Töten zu entkommen, das stattfinden wird, wenn Christus die Weltherrschaft errichtet. Oder, wenn man so will, es ist das Privileg, dass es den Gläubigen erlauben wird, an der Herrschaft teilzuhaben, die Christus auf Erden errichten wird. Man sieht also, dass das den Gläubigen versprochene Heil eng verbunden ist mit der Weltherrschaft, die ihnen ebenfalls versprochen worden ist.

Kommen wir auf unser Thema zurück. Wir haben gesehen, dass Juden wie Heiden, die einen aufgrund einer Verheißung, die andern aus Barmherzigkeit, an der Weltherrschaft teilhaben dürfen. Wir kennen aber die Bedingungen noch nicht, die sie erfüllen müssen, um diese Wohltat zu bekommen. Danach müssen wir noch suchen.

Früher musste man, um Freund Gottes zu sein, das Gesetz einhalten. In X, 5 nämlich steht: „Denn Moses beschreibt die Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz ist: ‚Der Mensch, der diese Dinge getan hat, wird durch sie leben’“. [20] (das heißt, er wird durch Erfüllung des Gesetzes Freund Jahwes sein; es gibt hier keinerlei Anspielung auf ein zukünftiges Leben)[3][3].

Aber dann heißt es (X, 4): „Denn Christus ist des Gesetzes Ende““ (Er hat es aufgehoben). Das Erbrecht an der Weltherrschaft wird nicht mehr durch das Gesetz verliehen. Das Regiment des Gesetzes ist durch ein anderes Regiment ersetzt worden: durch das Regiment des Glaubens. Diese These entwickelt Paulus in den Kapiteln IV, IX und X und er kündigt sie gleich zu Anfang seines Schreibens an in I, 16–17: “Denn ich schäme mich des  Evangeliums nicht, denn es ist Gottes Kraft zum Heil jedem Glaubenden, sowohl dem Juden zuerst als auch dem Griechen. Denn Gottes Gerechtigkeit wird darin geoffenbart aus Glauben zu Glauben, wie geschrieben steht: ‚Der Gerechte aber wird aus Glauben leben’“.

Es ist also der Glaube –und nicht länger das Gesetz–, der die Teilhabe an der großen Verheißung verleiht. Welcher Glaube? Wir erfahren es im Vers III, 21, der uns sagt: „Jetzt aber ist, ohne Gesetz, Gottes Gerechtigkeit geoffenbart worden, bezeugt durch das Gesetz und die Propheten; Gottes Gerechtigkeit aber durch Glauben an Jesum Christum gegen alle und auf alle, die da glauben“. Jesus Christus ist „Herr“, das heißt Inhaber der Herrschaft über die Welt, die der Nachkommenschaft Abrahams verheißen wurde.

Er wurde von Gott auferweckt, gerade um Herrscher zu sein. Der Glaube, der errettet, der Glaube, der das Anrecht auf Teilhabe an der Verheißung gibt, es ist der Glaube an Jesus Christus als Herrscher und von [21] Gott Auferweckten. X, 9: „wenn du mit deinem Munde Jesum als Herrn bekennen und in deinem Herzen glauben wirst, dass Gott ihn aus den Toten auferweckt hat, wirst du errettet werden“. Die beiden Bezeichnungen sind im Grunde nur eine einzige. Gott hätte Jesus nicht auferweckt, wenn er ihn nicht dazu bestimmt hätte, die Weltherrschaft auszuüben, und Jesus ist nur deshalb Herrscher, weil er vorher von Gott auferweckt wurde. Daher IV, 24: „die wir an den glauben, der Jesum, unseren Herrn, aus den Toten auferweckt hat“; und X, 13: „denn jeder, der irgend den Namen des Herrn anrufen wird, wird errettet werden“.

Um an der Weltherrschaft teilhaben zu können, um gerettet zu werden, muss man an Christus glauben. Muss man aber nicht auch die Beschneidung haben? Der Glaube, der das Heil bringt, ist es der Glaube ohne die Beschneidung? Ist es nicht vielmehr der Glaube verbunden mit der Beschneidung? Ein sehr ernstes Problem, welches Paulus mit den „Heiligen“ Jerusalems in Konflikt gebracht hat.

Paulus geht das Problem an in IV, 9. Warum? Weil genau hier der Hass entspringt, der ihn verfolgt. Versetzen wir uns einmal mehr in seine Situation. Er will sich die Sympathie der Judenchristen Roms sichern. Um sie zu bekommen, ist das beste Mittel offensichtlich die Freiheit vom Gesetz. Er muss also vorpreschen und gestehen, dass er mit der Jerusalemer Christengemeinde Meinungsverschiedenheiten hat, was die Beschneidung betrifft.

Er gibt diese Meinungsverschiedenheit zu. Gleichzeitig jedoch plädiert er für seine Sache, er führt den Nachweis, dass seine Auffassung wohlbegründet ist. Diesen Nachweis sucht er im chronologischen Ablauf. Er weist darauf hin, dass Abraham [22] noch nicht beschnitten war, als er die Gottesfreundschaft erlangte. Und da Abraham noch nicht beschnitten war, spielte die Beschneidung auch keinerlei Rolle für die Verheißung, die ihm gewährt wurde. Der Glaube brachte dem Abraham alles, die Beschneidung brachte ihm nichts. Die Nachkommenschaft Abrahams kann selbstverständlich nicht unter anderen Bedingungen stehen als unter denjenigen, denen der Ahnherr selber unterworfen war. Auch für sie ist der Glaube alles, die Beschneidung nichts. Was heißt das? Und was folgt daraus? Der anschließende Text (IV, 11) sagt es uns: „(Abraham erhielt die Beschneidung als Siegel der Gerechtigkeit des Glaubens, den er hatte, als er unbeschnitten war,) damit er Vater aller sei, die im Unbeschnittensein glauben, damit ihnen die Gerechtigkeit zugerechnet werde; und Vater der Beschneidung, nicht allein derer, die aus der Beschneidung sind, sondern auch derer, die in den Fußspuren des Glaubens wandeln, den unser Vater Abraham schon hatte, als er noch unbeschnitten war“. Kurz gesagt: diejenigen haben Abraham als Vater und sind seine Kinder, die, wenngleich sie unbeschnitten sind, den Glauben haben. Und die Beschnittenen haben Abraham nur dann zum Vater und sind seine Kinder, wenn sie die Beschneidung mit dem Glauben verbinden.

Neben den Judenchristen, die den Glauben haben, und deren einziger Makel es ist, ihm die Beschneidung noch hinzufügen zu wollen, gibt es nun aber noch die Juden, die ungläubig geblieben sind. Paulus bedauert ihren Irrweg (IX, 1–4) und fragt sich, ob der Unglaube der Masse des jüdischen Volkes die göttliche Verheißung nicht hinfällig mache. In [23] seiner Antwort (6–7) stellt er ein Prinzip auf und wendet es anschließend an.

Das Prinzip besagt, dass das von Gott gegebene Wort nicht wirkungslos geblieben ist. „Gottes gegebenes Wort“ bezeichnet Gottes Verheißungen an Israel. Der Sinn ist also: „Die göttlichen Verheißungen sind durch den Unglauben des als Kollektiv betrachteten jüdischen Volkes nicht hinfällig geworden; trotz dieses Unglaubens befinden sich die Verheißungen auf dem Wege der Erfüllung“.

Betrachten wir nun die Anwendung dieses Prinzips durch Paulus; das heißt: wie beweist er, dass die Untreue des jüdischen Volkes den göttlichen Verheißungen keinen Abbruch tut. Der Beweis, den er beibringt, ist einschneidend: „Man ist nicht Israel, weil man aus Israel hervorgegangen ist; man ist nicht Kind Abrahams, weil man aus dem Samen Abrahams hervorgegangen ist“. Wären die ungläubigen Juden wirklich Israel, wäre man gezwungen zuzugeben, dass die Verheißungen Gottes gescheitert sind, denn die Verheißungen waren Israel, waren den Kindern Abrahams zugesprochen worden. Aber, obwohl aus Israel hervorgegangen, sind die ungläubigen Juden nicht Israel; obwohl aus dem Samen Abrahams hervorgegangen, sind sie keine Kinder Abrahams. Somit bringt der Unglaube der Juden keinerlei Hindernis für die Verwirklichung der göttlichen Verheißungen mit sich. Dieser Unglaube war übrigens vorausgesagt worden durch die Propheten. Paulus zitiert (IX,33; X, 19; XI, 7) eine Reihe von Weissagungen, in denen die Verhärtung des jüdischen Volkes vorhergesagt wurde. Und diese Weissagungen, vom selben Gott ausgegangen, der auch die Verheißungen gab, sind zweifelsohne in seinen Augen [24] hilfreiche Kommentare, die man heranziehen muss, um eben diese Verheißungen zu interpretieren.

Ich habe gesagt, dass die Abhandlung über die Abraham und seiner Nachkommenschaft zugesagte Verheißung (von I, 16 bis XI) durch mehrere Einschübe zerteilt ist. Ich werde jetzt diese Einschübe unter die Lupe nehmen.

Die Erlöserfunktion des Todes Christi

Der längste Einschub ist der von IV, 25 bis VIII, 39. Befreit von späteren Überarbeitungen, die nachher zur Debatte stehen, behandelt er den Erlösertod Christi und ist das Kernstück des heutigen Römerbriefes.

Was sagt er aus? Dass wir Sünder waren, Feinde Gottes, und dass Christus uns durch seinen Tod mit Gott versöhnt hat. Dass Gott uns liebte, sogar während wir noch Sünder waren, dass er seinen Sohn hingegeben hat, um uns das ewige Leben zu erwerben, und dass er nach allem, was er für uns getan hat, mit Sicherheit uns dieses ewige Leben auch verschaffen wird. Was sagt er noch? Dass der Christ teilhat am Tode Christi, aber auch an seiner Auferstehung. Er ist in dem Sinne mit Christus gestorben, dass sein Sündenleib vernichtet wurde. Er ist in dem Sinne mit Christus auferstanden, dass er ein neues Leben führen [25] muss und die Leidenschaften, die als Frucht den Tod hervorbringen, in seinen Gliedern nicht mehr herrschen lassen darf.

Dem gegenüber, was lehrt Paulus in den Kapiteln IV, IX und X? Im wesentlichen sagt er zu den nichtchristlichen Juden: „Die Weltherrschaft wurde Abraham und seinen Erben verheißen. Ihr bildet euch aber zu Unrecht ein, durch Geburt Erben, oder, wenn ihr so wollt, Kinder Abrahams zu sein. Um Kind Abrahams und dessen Erbe zu sein, muss man glauben, dass Gott Jesus von den Toten auferweckt hat. Das ist notwendig, und nur das ist notwendig.

Wir stehen vor zwei nicht reduzierbaren Programmen. Paulus lässt den Himmel außerhalb seines Horizonts, er beschäftigt sich ausschließlich mit der Erde. Sein Christus muss kommen, um die Abraham gegebenen Verheißungen zu erfüllen, um eine Herrschaft über die Welt auszuüben, an der alle seine Anhänger sich mit ihm erfreuen werden. Zu diesem Zweck hat Gott ihn von den Toten auferweckt. In Pauli Programm ergibt die Versöhnung der Sünder mit Gott keinen Sinn, genau so wenig wie der mystische Tod des Christen. Der Text IV, 25 – VIII, 39, der zwischen IV und IX steht, ist interpoliert. Er steht in keinerlei Beziehung zu den beiden Kapiteln, die er gewaltsam voneinander trennt.

Die Abhandlung IV,25 – VIII, 39 ist nicht von Paulus. Was ist ihr Ursprung? Versuchen wir, ihr Geheimnis zu entreißen.

Sie beschreibt uns in einem ganz scharfen Kontrast [26] einerseits das Elend der Menschen, anderseits die Güte Gottes für diese so unglücklichen Geschöpfe. Das Elend der Menschen ist schmerzlich; denn alle sind dazu verurteilt, Sünder zu sein, alle sind sie zum Tode verurteilt. Aber Gott hat diese Sünder geliebt, er hat sich mit ihnen versöhnt und ihnen das ewige Leben zugänglich gemacht. Was das Unglück der Menschen noch schlimmer macht ist, dass sie Opfer der Verfehlungen eines einzelnen sind, Opfer also einer Verfehlung, die sie nicht selber begangen haben. Viel schlimmer noch: das Gesetz ist ihnen auferlegt worden, um die Sündenmenge ins Uferlose steigen zu lassen. Die Güte Gottes ist so bewundernswert, weil er, um die Versöhnung mit den Menschen zu bewirken und ihnen den Zugang zum ewigen Leben zu verschaffen, nicht davor zurückgeschreckt ist, seinen Sohn dem Tod zu überantworten.

Gott liebt die Menschen. Er ist an ihnen interessiert. Er bemüht sich, ihre Leiden zu lindern. Weshalb? Offensichtlich, weil er ihr Unglück für unverdient hält. Auf die ganze Menschheit die Wucht der Sünde eines einzelnen niederpreschen zu lassen, ist in seinen Augen eine bodenlose Ungerechtigkeit. Und das Gesetz vorzuschreiben in der Absicht, die Sündenzahl zu vervielfachen, ist noch mal eine bodenlose Ungerechtigkeit. Man darf gewiss sein: nicht er ist es, der das Menschengeschlecht unter das Regiment des Todes und der Sünde gestellt hat, er will es ja schließlich diesem Regiment entreißen. Das wird noch deutlicher, wenn man die Mittel berücksichtigt, auf die er zurückgreift, um dieses Ziel zu erreichen. Wenn er es selber ist, der die Menschen in den Zustand gebracht hat, den sie erleiden, und er es dann später bereut und beschließt, der Sache ein Ende zu machen, braucht er ja nur ein Kommando zu erteilen, und die Lage des Menschengeschlechts wird sofort zum Guten gewendet werden. Was tut er [27] anstelle dessen? Er schickt seinen Sohn zur Erde und lässt ihn hinrichten. Welchen Sinn hat es, in dieser Weise Himmel und Erde zu bewegen, um ein Ergebnis zu erreichen, wofür ein einziges Wort ausgereicht hätte?

Könnte man den Sinn darin sehen, dass so Gottes Liebe zu den Menschen bewundert werden kann? Aber, damit die Liebe bewundernswert ist, muss sie erst einmal vernünftig sein, und um vernünftig zu sein, darf sie sich selbst nur zweckdienliche Opfer auferlegen. Der Gott, der das ganze Menschengeschlecht mit der Last der Verfehlung eines einzelnen Menschen erdrückt, der das Gesetz in Kraft setzt mit dem einzigen Ziel, die Sündenzahl zu vervielfachen, dieser Gott kann nur ein grausamer Gott sein. Wenn derselbe Gott dann wiederum, um seiner Grausamkeit den Menschen gegenüber ein Ende zu setzen, auf die Idee kommt, seinen Sohn dem Tode auszuliefern, dann ist er extravagant. Nun steht uns im Text von V, 8, der die Liebe Gottes zu den Menschen verherrlicht, kein derartiger Typus vor Augen. Hier stirbt Christus für uns; er stirbt, weil ohne das Opfer seines Lebens die Menschen nicht befreit würden vom grausamen Joch, das sie erdrückt. Er hat gewiss nichts zu tun mit der unglücklichen Lage des Menschengeschlechts. Der Gott, der ihn gesandt hat, weil er die Menschen liebt, hat ganz gewiss auch nichts damit zu tun.

Das Bild des menschlichen Elends, wie es der Römerbrief schildert, ist jedoch offensichtlich eine Replik auf den Fall Adams, so wie dieser im Buch Genesis berichtet wird. Die Schilderung entspricht der des Buches Genesis, sie verdankt ihre Existenz dem Buch Genesis. Es stimmt, sie lässt nirgends [28] den Verursacher der den Menschen zugefügten Bestrafung in Erscheinung treten, sie lässt ihn im Dunkeln. Die Satzwendungen, die sie benutzt, alle nach dem gleichen Modell geformt, konstatieren Folgen, ohne je die Ursache zu erwähnen: die Sünde ist in die Welt gekommen, der Tod hat sich über alle Menschen ausgebreitet, der Tod hat geherrscht durch die Schuld eines einzelnen, die Verurteilung hat alle Menschen erreicht, das Gesetz ist dazugekommen, um die Sündenzahl zu vervielfachen.

Diese bewusste Zurückhaltung kann uns jedoch nicht täuschen, weil es ja das Buch Genesis gibt, das unsere Informationen vervollständigt. Gott ist es, der alle Kinder Abrahams mit der Verfehlung ihres Vaters belastet; er ist der Verursacher des elenden Zustands des Menschengeschlechts. Das ist gewiss, weil das Buch Genesis es uns so sagt. Und der Römerbrief, der Gott nicht nennt, der so tut, als ob er ihn nicht nennt –wir werden später sehen weshalb– rechnet sehr wohl damit, dass wir die Andeutung verstehen und uns seinen Text mittels des Buches Genesis klar machen werden. Er rechnet auch damit, dass wir verstehen werden, wenn er in V, 20 aussagt, dass das Gesetz zur Vervielfachung der Sündenzahl erlassen wurde, und dass wir uns an das Buch Exodus wenden werden, wo die göttliche Verfügung des Gesetzes berichtet wird.

Gott hat also nichts zu tun mit dem Unglück der Menschheit und doch soll er dessen verantwortlicher Verursacher sein. Wir stecken also fest zwischen zwei Behauptungen, die nicht zusammenpassen. Wie kommen wir da heraus? Indem wir einen der beiden Termini des Widerspruchs eliminieren? Das wäre eine radikale Methode, aber eine kindische. Eine [29] Schwierigkeit mit einem Taschenspielertrick verschwinden lassen, heißt nicht, sie zu lösen. Da beide oben genannten Behauptungen gleichermaßen solide belegt sind, steht es uns nicht zu, eine von beiden zu opfern. Bleiben wir also wenigstens vorläufig in unserer Gefängniszelle und betrachten wir, auf welche Weise Gott es angestellt hat, die Menschen ihrem Unglück zu entreißen. Vielleicht finden wir im Laufe dieser Untersuchung einen Ausweg.

Gottes Methode, uns mit ihm zu versöhnen, sah folgendermaßen aus: Er hat seinen Sohn auf die Erde geschickt. Er hat ihn geschickt mit einem Leib, der dem Fleisch der Sünde äußerlich gleicht. Dieser Sohn Gottes, Christus, ist gestorben. Durch seinen Tod, wurde die Sünde zum Tode verurteilt im Fleische (VIII, 3). Die Sünde aber war das Hindernis, das uns von Gott getrennt hielt. Da sie zum Tode verurteilt wurde oder, wenn man so will, getötet wurde, sind wir mit Gott versöhnt durch den Tod seines Sohnes (VI, 10).

So ist es im Prinzip. Bevor wir aber wirklich an dieser Wohltat der Versöhnung Anteil haben können, muss die Sünde auch in jedem einzelnen von uns abgetötet worden sein. Das geschieht in der Taufe (VI, 3–11). Wir werden dadurch auf Christus und auf seine Todesähnlichkeit aufgepfropft. Unser alter Mensch wurde mit Christus gekreuzigt, so dass unser Leib der Sünde vernichtet wurde (VI, 6). Und da wir mit unserm Sündenleib eins sind, folgt daraus (VII, 4), dass wir durch den Leib Christi [30], dem wir aufgepfropft sind, zu Tode gebracht worden sind. So wie wir am Tode Christi partizipieren, partizipieren wir aber auch an seiner Auferstehung. Im Christen „ist der Leib zwar tot der Sünde wegen, der Geist aber Leben der Gerechtigkeit wegen“ (VIII, 10). Der Christ ist nicht mehr im Fleische (VII, 5: „als wir im Fleisch waren“, wir sind es also nicht mehr); er war tot, ist aber lebendig geworden (VI, 13). Er lebt für Gott ein Leben, das ewig währen muss (VI, 23).

Die Befreiung ist also das Ergebnis seiner Vereinigung mit Christus. Eine innige Vereinigung ist es, derjenigen ähnlich, die durch das Aufpfropfen bewirkt wird. Der Christ ist frei vom Joch, das auf ihm lastete, weil er an der Auferstehung Christi teilhat, nachdem er an seinem Sterben teilhatte, weil er wie Christus auferweckt wurde, nachdem er wie Christus den Tod erlitten hatte.

Wie Christus? Ist das möglich? Und kann man diese Beschreibung verwenden, welche, wenn sie stimmte, eine recht schwerwiegende Konsequenz nach sich ziehen würde? Vergewissern wir uns. Indem wir sie verwenden, bringen wir uns doch nur in Übereinstimmung mit den Absichten des Autors, der uns sagt, dass unser Leib der Sünde vernichtet wurde und wir nicht mehr im Fleische sind. Er kannte die Tragweite seiner Worte. Er war nicht unaufmerksam, als er wiederholt von der Vernichtung unseres Leibes, unseres Fleisches sprach wie von einer Tatsache, die durch das Untertauchen während der Taufe zustande komme! Er hat gewusst, welche Folgerung man aus den von ihm gewählten Worten ziehen würde und er hat gewollt, dass man sie ziehe. Ziehen wir sie also. Der Christ [31] hat Anteil am Tode Christi. Er stirbt so wie Christus auf dem Kalvarienberg gestorben ist … Aber der Christ stirbt nicht wirklich; er bleibt voller Leben, und der Tod, den er erleidet, ist rein fiktiv. Auch Christus ist nur scheinbar gestorben. Im Augenblick, da er seine Seele auszuatmen schien, hat er nicht aufgehört zu leben. Der Tod hat ihn nicht erreicht.

So sieht die Deduktion aus, zu der uns die Texte geführt haben, die von unserem Tod in Gemeinsamkeit mit dem Tode Christi sprechen. Es fehlt ihr nicht an strenger Folgerichtigkeit, aber wir haben Besseres. Wir haben den Text V, 5, in dem der Autor selbst uns kundtut, dass der Tod Christi kein wirklicher Tod gewesen sei, sondern eine „Todesähnlichkeit“, etwas, dass die äußere Erscheinungsformen des Todes hatte ohne dessen Realität. Er bestätigt unsere Deduktion. Er fügt sogar eine Erläuterung hinzu. Er sagt uns, wie es zustande kam, dass der Tod Christi eine pure Scheinwirklichkeit war. Er sagt es uns im Vers VIII, 3. Christus hatte nicht das sündige Fleisch, das wir haben. Er hatte davon nur den Anschein, ein etwas, das diesem Fleische ähnlich sah, en homoiômati sarkos hamartias. Es war ihm somit gar nicht möglich zu sterben, denn er besaß dasjenige nicht, was dazu notwendig ist. Er hat nur einen Phantomtod erlitten, weil sein Leib nur ein Phantom war.

Damit stehen wir vor einem Phantom-Christus. Das heißt nichts anderes, als dass wir bei Marcion angekommen sind und dass unsere hier untersuchte Abhandlung ein Produkt aus der Schule Marcions ist [32]. Auf einen Schlag sind wir nun auch im Besitz des Schlüssels für das Rätsel, das uns so beunruhigte, des Schlüssels nämlich zum Verständnis dieses Gottes, der nichts zu tun hat mit unseren Kalamitäten, obwohl er doch deren Verursacher ist. Die Lösung dieses Rätsels ist ganz einfach die Lösung des Problems des Übels, wie Marcion sie vorbringt. Und da wir uns bei Marcion befinden, brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn wir ihn aus dem Munde eines seiner Schüler seine Theodizee vortragen hören. Befreit von der Zurückhaltung, mit der sie hier dargestellt wird, sieht die marcionitische Theodizee folgendermaßen aus:

Es gibt zwei Götter: der eine hat die Welt erschaffen und den Menschen, und er war zu allen Zeiten bekannt; der andere hat mit der Welt nichts zu tun, und niemand kannte ihn, bevor Christus kam und ihn offenbarte.

Der Schöpfergott ist grausam. Zu Beginn hat er auf allen Kindern Abrahams die Verfehlung ihres Vaters lasten lassen; später hat er ihnen dann das mosaische Gesetz auferlegt, um die Sündenzahl zu vervielfachen; er geht schlau vor, um die Menschen unglücklich zu machen: unglücklich auf dieser Erde, wo er sie mit Schmerzen aller Art überhäuft, unglücklich in der anderen Welt, wo er sie bestrafen wird für die Sünden, die auf dieser Erde zu begehen er sie geradezu gezwungen hat.

Der andere Gott ist der gute Gott, so genannt, weil Güte zu seinem Wesen gehört. Der gute Gott hat Mitleid mit den Menschen bekommen, obwohl sie für ihn eigentlich von keinerlei Bedeutung waren, und er hat sich dazu entschlossen, sie dem grausamen Gott, der sie quälte, zu entreißen. Um sein [33] Vorhaben zu verwirklichen, kam er selber auf die Erde, verborgen unter einem ätherischen Mantel, der die äußere Erscheinung eines menschlichen Körpers besaß. Dieser Phantomleib nannte sich Jesus, bezeichnete sich als Sohn Gottes und offenbarte den guten Gott, den er seinen Vater nannte. Der Schöpfer sah Jesus als einen einfachen, vom guten Gott gesandten Menschen an und ließ ihn kreuzigen. Er kreuzigte gar nichts. Aber seine Absicht wurde als Tatsache aufgefasst. Er glaubte, Fleisch der Sünde zu kreuzigen. Das sündige Fleisch, das Fleisch der Sünde wurde als gekreuzigt betrachtet, als getötet, dies wenigstens bei den Christen, die durch die Taufe Christus aufgepfropft sind. Auf diese Weise durch den Schöpfergott zu Tode gebracht, existieren die Christen für ihn nicht mehr, sie befinden sich nicht mehr in seinem Machtbereich. Sie gehören dem guten Gott, der ihnen das ewige Leben bereithält.

Der Autor nun, der unter Katholiken für Katholiken schrieb, ist so vorgegangen, wie die Modernisten unserer Tage vorgegangen sind. Er hat die katholische Gefühlswelt geschont; er hat anstelle einer Hauruckmethode eine Übertölpelungsmethode angewandt. Sein Ziel war es, Akzeptanz für rätselhafte Formulierungen zu bewirken, welche dann, einmal in das katholische Glaubensgut eingedrungen, Schritt für Schritt ihre Wirkung entfalten sollten. Daher diese Windungen im Sprachgebrauch, die einen Teil der Dinge explizit aussagen und den Rest erraten lassen.

Ein Wort nur noch über VIII, 20, das ich noch nicht behandelt habe, und wo es heißt: „Denn die Schöpfung ist der Nichtigkeit unterworfen worden – nicht freiwillig, sondern durch den, der [34] sie unterworfen hat“. Dieser Text stürzt die Exegeten in schwere Verlegenheit. Entweder bringen sie alles durcheinander nach Lust und Laune, oder sie lassen ihn mit einem Sprung darüber hinweg flugs hinter sich. Diejenigen, die sich der Mühe eines Erklärungsversuchs unterziehen, erkennen im allgemeinen –wenigstens heutzutage–, dass VIII, 20 auf Genesis III, 17 anspielt, wo Gott die Erde verflucht. Unser Autor behauptet also, dass unsere Erde sich im Griff einer Verfluchung befindet, und er ist etwas mitteilsamer als in Kapitel V, wo er sich rigoros alles verkniff, was über die reine Beschreibung des unglücklichen Schicksals der Menschheit hinausgeht. Er stößt hier zur Begründung für die Verfluchung vor. Er zeigt auf denjenigen, der die Schöpfung der Nichtigkeit unterworfen hat. Aber er zeigt auf ihn, ohne ihn zu nennen. Derjenige, der die Schöpfung verflucht hat, ist „er“, das heißt, derjenige, von dem die Geschichten im Buche Genesis unentwegt berichten. Und noch wird die Verantwortlichkeit dieses „er“ nicht offen aufgezeigt. Sie zeigt sich nur hinter dem Schleier einer Umschreibung. Die Kreatur wurde nicht freiwillig der Nichtigkeit unterworfen, sondern  dia ton hypotaxanta. Was besagt diese Formulierung? Nach dem heiligen Thomas bedeutet sie, dass dies stattgefunden hat „infolge der Anordnung Gottes, der darüber so entschieden hat“, oder „infolge des Urteilspruches Gottes“. Nach Estius (bei dem mit ‚Kreatur’ die gesamte Welt gemeint ist) ist die Unterjochung auf Anordnung Gottes erfolgt. Wie man sieht: den ehrenwertesten Theologen zufolge ist es sehr wohl der Gott des Buches Genesis, der Schöpfergott, der hier als der Verursacher der Versklavung der Geschöpfe präsentiert wird. Er wird aber im Halbdunkel gelassen, so sehr, [35] dass eine ansehnliche Zahl von Kommentatoren gemeint haben, eine andere Interpretation liefern zu können; eine der Phantasie entsprungene, der zufolge es der sündige Mensch ist, der die Kreatur versklavt hat!

Zwar geniert sich der marcionitische Autor, wenn es darum geht, den Schöpfergott zu bezichtigen, er geniert sich aber keineswegs, die Übel zu beschreiben, welche der Schöpfergott der Menschheit angetan hat. Er beschreibt sie und nimmt dabei als Ausgangspunkt den Bericht aus dem Buch Genesis, den er dann ergänzt und mit einer theologischen Interpretation ausstattet.

Infolge der Sünde Abrahams hat der Schöpfergott die Menschen zur Sterblichkeit verurteilt –das findet man im Buch Genesis –und er hat sie auch dazu verurteilt, Sünder zu sein–; das ist nun marcionitische Interpretation des Genesis-Berichts. Somit sind alle Menschen Sünder. Sind sie Sünder, so wie Augustinus es versteht, der sich auf eben diesen Römerbrief beruft, wenn er lehrt, dass das Kind geboren wird mit einer Sünde im eigentlichen Sinne, der Sünde der sinnlichen Begierde? Nein. Zweifelsohne gibt es zwischen Augustin und dem Römerbrief Verwandtschaftsbeziehungen in betreff auf die Erbsünde; es gibt aber auch einen wesentlichen Unterschied, der aus der Verschiedenheit des jeweiligen Anliegens hervorgeht.

Augustin kam zu seinem Begriff der Erbsünde durch seinen brennenden Wunsch, das menschliche Elend in Einklang zu bringen mit der Gerechtigkeit Gottes, und zwar des einen und einzigen Gottes, den es für ihn gab. Sein Gedankengang war folgender: Das physische Leid des Menschen lässt sich unter dem Regiment eines gerechten Gottes nicht erklären, es sei denn als [36] Strafe für eine Sünde, und zwar für eine Sünde in vollem Wortsinn. Nun sind aber die Kinder im Unglück, bevor sie den Gebrauch der Vernunft erwerben; sie sind im Unglück vom Augenblick ihres Eintritts in der Welt. Also sind die Kinder vom Augenblick ihres Eintritts in der Welt an schuldig durch eine wirkliche eigene Sünde. Und Augustin hat dann wahre Wunder der Sophistik vollbracht, um dieser wirklichen Sünde auf die Spur zu kommen; um sie zu beweisen; um uns zu erklären, dass Gott einer Sünde gegenübergestellt wird, einer Sünde, die in der Seele eines jeden Kindes wohnt, ohne dass er, der Schöpfer, auch nur das Geringste damit zu tun hat, einer wirklichen Sünde in vollem Wortsinn, bei der ihm, dem gerechten Gott, um der eigenen Gerechtigkeit Willen nichts anderes übrigbleibt als zu strafen. Augustin hat sich in einen Abgrund von Absurditäten gestürzt, um die durch das Elend der Menschheit kompromittierte Gerechtigkeit Gottes zu retten (diese Bemerkung trifft auf die Theologen der Katholischen Kirche ebenfalls zu, welche zwar im Laufe der Jahrhunderte einen Teil der augustinischen Theorien haben fallen lassen, jedoch den Begriff einer Sünde, welche die Seele des Kindes bei seinem Eintritt in die Welt besudelt, beibehalten haben).

Der marcionitische Autor des Römerbriefes ist nicht in der gleichen Verlegenheit wie Augustin, weil er nicht die gleiche Besorgnis hat. Auch er nimmt sich vor, das Problem des Übels zu lösen. Aber bei seiner Suche nach der Lösung hat er gleich anfangs dem guten Gott einen bösen Gott zugesellt, der das Monopol der Weltherrschaft innehat. Unnötig zu sagen, dass er sich diesen Ausweg nur um den Preis eines gewaltigen Widersinnes hat öffnen können. Nachdem er aber einmal diesen Weg gegangen war, konnte er, ohne irgendeinem Hindernis zu begegnen voranschreiten.

[37] Der gerechte Gott Augustins kann Kinder nur leiden lassen, wenn sie zuvor mit einer Sünde besudelt sind, mit der er, der Schöpfergott, nichts zu tun hatte. Der böse Gott des Römerbriefes hat solche Skrupel nicht. Keinerlei Rücksicht auf Gerechtigkeit hindert ihn daran, seinem Grausamkeitsinstinkt freien Lauf zu lassen. Und das tut er dann auch. Er verurteilt unschuldige Kinder zum Leiden, er verurteilt sie zum Tode. Er verdammt die Menschen dazu zu sündigen, indem er ihnen einen fleischlichen Organismus gibt, der die Sünde mechanisch absondert. Mit dieser Sündenmaschine ausgestattet, werden die Menschen unweigerlich Sünder. Es war nicht ihre Schuld, dass sie das traurige Geschenk annehmen mussten, das die Phantasie des Schöpfergottes ihnen hatte zukommen lassen. Man kann sagen, dass der Römerbrief die Erbsünde lehrt; jedoch nicht in der Weise, wie die Kirche Roms sie seit Augustin versteht.

Der Beweis ist geliefert, dass die Abhandlung IV, 25 – VIII, 39 interpoliert wurde mitten in den Ausführungen des Paulus über die Abraham gegebene Verheißung und dass –abgesehen von einigen Zusätzen, von denen später die Rede sein wird– sie marcionitischen Ursprungs ist. Indem wir ihre Herkunft kennen, können wir sie gleichzeitig auch datieren. Die Abhandlung IV, 25 – VIII 39 mit dem Thema der Erlösungsfunktion des Todes Christi wurde vor der Verurteilung des Marcion erstellt, also um das Jahr 140.

 [38] Tadel für die Heiden und die schlechten Christen

Die Abhandlung über den Erlösertod Christi ist das wichtigste und interessanteste der Textsstücke, die in den Traktat über die Abraham gegebene Verheißung eingeschoben wurden. Es ist aber nicht das erste. Davor gibt es zwei Einschübe, wovon die eine, von I, 18 bis II, 29, jetzt untersucht werden muss.

Es ist eine Gewissenserforschung der Heiden, einer Gruppe anonymer Sünder und der Juden.

Die Heiden, die Gott kannten, die nicht umhin konnten, ihn aus seinen Werken zu kennen, haben ihn nicht verherrlicht. Im Gegenteil, sie haben die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes verunehrt in Bildern, die Menschen oder Tiere darstellen. Dadurch haben sie ein großes Verbrechen begangen. Um sie dafür zu bestrafen, hat Gott sie schändlichen Leidenschaften ausgeliefert.

Nun aber die anderen Menschen. Diese sind keine Heiden, denn sie verurteilen die Schandtaten der Heiden sehr streng und sie glauben, die Heiden seien verworfen. Ihr eigenes Verhalten jedoch ist nicht besser als das der Heiden. Sie begehen die gleichen Scheußlichkeiten im Glauben, dass sie diese [39] ungestraft begehen können. Woher nehmen sie diese Sicherheit? Sie rechnen mit Gottes Güte. Nun, sie täuschen sich! Gewiss, Gott ist gut. Seine Güte besteht aber darin, dass er bei Reue verzeiht. Wenn der Sünder nicht bereut, wird er anstelle eines guten Gottes einen gerechten Gott vorfinden, der die Sünde überall dort bestrafen wird, wo er sie findet, ohne Ansehen der Person.

Und schließlich die Juden. Sie setzen ihr Vertrauen in das Gesetz. Sie halten es nicht ein; sie handeln ihm zuwider in einem Ausmaß, das die Heiden dazu bringt Gott zu lästern. Sie bilden sich jedoch ein, dass das ohne Bedeutung ist, weil sie ihre Errettung erlangen werden allein schon aufgrund dessen, dass sie das Gesetz haben und die Beschneidung. Nun, auch sie täuschen sich. Die Beschneidung wird ihnen nur nutzen, wenn sie dem Gesetz auch in der Praxis genüge tun. Sonst wird sie ihnen zu gar nichts von Nutzen sein.

Das ist allgemein gesprochen der Inhalt dieser Abhandlung. Beginnen wir mit der Aussage, dass sie nicht von Paulus stammt. Für diese Behauptung gibt es mehrere Beweise.

Der erste wird uns im Text II, 25 geliefert, der da sagt: „Beschneidung ist wohl nütze, wenn du das Gesetz befolgst“. Diesem Ausspruch zufolge ist es vorteilhaft beschnitten zu sein unter der Voraussetzung, dass man das mosaische Gesetz einhält. An anderer Stelle aber legt er sich ins Zeug, um zu beweisen, dass der Glaube alles, die Beschneidung sowie die Werke des Gesetzes nichts sind. Wie hätte er hier dann sagen können, dass die Beschneidung in Verbindung mit dem Befolgen des Gesetzes, nützlich sei?

[40] Man gibt uns als Erklärung, dass in II, 25 der Apostel die Beschneidung betrachtet mit dem Wert, den sie früher hatte oder sogar mit dem Wert, den sie noch hat zum Zeitpunkt, in dem er spricht. Die erste dieser beiden Auffassungen jedoch stellt den Text auf den Kopf. Der Text gibt keineswegs vor, eine Vorlesung über Alte Geschichte zu liefern und dabei zu erzählen, welchen Wert die Beschneidung einstmals hatte. Er sagt ganz einfach, welchen Wert sie hat für die Leser, an die er sich wendet. Und was die zweite Auffassung betrifft, sie verfehlt das Problem, dass wir wissen möchten, wie Paulus gleichzeitig habe sagen können, die Beschneidung sei zu nichts nütze, die Gesetzeswerke seien genau so nutzlos, und dann wieder, die Beschneidung sei nützlich, wenn man sie verbindet mit dem Befolgen des mosaischen Gesetzes. Die Wahrheit ist, dass der Text von II, 25, der in unauflöslichen Widerspruch zu Paulus’ Lehre steht, Paulus nicht als Autor haben kann.

Es ist nicht der einzige. Man muss II, 13 und II, 26–29 hinzunehmen. Diese Texte schreiben das Heil der Befolgung des Gesetzes zu, im Gegensatz zu Paulus, der die Nutzlosigkeit der „Werke“ verkündet, d.h. der Gesetzesbefolgung (IX, 32). Sie scheinen schon eher in Übereinstimmung mit Paulus zu stehen durch ihre Verachtung der Beschneidung des Fleisches, welche sie durch die Beschneidung des Herzens ersetzen. Die Übereinstimmung ist jedoch nur eine scheinbare. Tatsächlich gibt Paulus die Beschneidung ausschließlich für den Glauben auf; die Beschneidung des Herzens, –falls er diesen Ausdruck überhaupt kannte– wäre unter seiner Feder der Glaube. Im Gegensatz dazu bestünde für unsere Texte die Beschneidung des Herzens [41] in der Befolgung des Gesetzes. Ihr Inhalt steht in Antinomie zu Paulus.

Wie sollen wir nun aber den Tadel der  Juden (II, 17–24) verstehen? Und vor allem, wie sollen wir den Tadel der anonymen Menschen verstehen, mit welchem das II. Kapitel eröffnet wird? Nachdem er über Päderastie und lesbische Liebe gesprochen hat, ruft der Autor aus: „Denkst du aber dies, o Mensch, der du die richtest, die so etwas tun, und dasselbe verübst, dass du dem Gericht Gottes entfliehen wirst ?“ (II, 3).

Die heutigen Exegeten wissen nicht so recht, an wen diese zwei Schimpfkanonaden gerichtet sind. Begeben wir uns aber in Gedanken zu den römischen Christen des Jahres 56 in dem Augenblick, da sie gerade den Brief an die Römer empfangen haben in der Fassung, wie wir ihn heute in unsern Bibeln lesen. Und sammeln wir deren Eindrücke. „Jeder Zweifel ausgeschlossen, sagen sie sich, der meint tatsächlich uns, wenn er von Sodomiten spricht; und es sind wahrhaftig unsere Frauen, die eine solche Ehrbezeugung mit uns teilen dürfen! Da dieser Brief für uns geschrieben wurde, ist das Injurienpaket, das er enthält, ebenfalls auf uns gemünzt. Der Mensch, der uns diese abstoßenden Grobheiten schickt, hat nie einen Grund gehabt, sich über uns zu beklagen, da wir ihn nicht kennen und er uns nicht kennt. Für seine Unverschämtheiten gibt es also keinerlei Entschuldigung. Es gibt nicht einmal eine Erklärung dafür, und keiner versteht, weshalb er uns so mit Dreck bewirft, derselbe Mensch, der gerade vorhin ein übertriebenes Loblied auf unsern Glauben sang. Alles zusammengenommen sind die Beleidigungen, die er uns an den Kopf wirft, so verblüffend [42], dass sie eher Entsetzen als Entrüstung hervorrufen“.

Die Wahrheit ist, dass die Beschimpfungen von II, 1 und II, 17 künstlich und nachträglich in den Römerbrief eingefügt wurden. Hätten die Christen Roms des Jahres 56 sie gelesen, sie hätten sie unweigerlich mit einem unbeschreiblichen Staunen auf sich selbst beziehen müssen. Diese sprachliche Gewalttätigkeit kam ihnen aber nicht zur Kenntnis; der Brief, der ihnen übergeben wurde, enthielt sie nicht; sie wurden erst später da hinein plaziert.

Damit wurde nun das II. Kapitel zur Gänze als Interpolation entlarvt.

Ich gehe nun über zur Abhandlung, die bei I, 18 anfängt und bis zum Ende des I. Kapitels reicht. Sie macht dem Heidentum den Prozess, den moralischen Prozess. Sie zeigt auf, dass die Abgötterei der Pfad zu allen Lastern ist und der Monotheismus das Refugium der Tugend. Und worauf zielt diese streitsüchtige Literatur? Sie hat eine apologetische Zielsetzung. Sie nimmt sich vor, diejenigen Heiden, deren moralisches Empfinden noch nicht ganz und gar abgestumpft ist, dem Christentum als dem einzigen Zufluchtsort für die Tugend zuzuführen. Und sie nimmt sich vor, die ehemaligen Heiden, die versucht sein könnten, zu den Idolen zurückzukehren, im Schoße der Christenheit festzuhalten. Sie betreibt apostolische Fürsorge bei Menschen, die noch Heiden sind oder einst Heiden waren.

Ausschließlich bei solchen. Diese Abhandlung wendet sich nicht an Juden. Das will und kann sie nicht. Welche Einwirkungsmöglichkeit hätte sie bei ihnen? Ihre Tugend kann nicht in Abgötterei Schiffbruch erlitten haben, denn sie [43] haben nie Idole angebetet; ja, der Kult der Idole ist ihnen sogar ein Horror. Und demjenigen, der ihnen das Christentum als einzigen Hort des Monotheismus predigte, würden sie antworten: „Um einen einzigen Gott anzubeten, brauchen wir nicht zu einer anderen Religion überwechseln, sondern können bleiben, wo wir sind; denn der Monotheismus ist das Fundament unsres Kultes, das Christentum hat ihn nicht als Monopol“.

Folglich richtet die apologetische Abhandlung I, 18–32 sich an Heiden oder an Christen heidnischer Provenienz. Sie wurde für sie erstellt, und nur für sie. Wir haben nun aber den Beweis[4][4] erbracht, dass der Römerbrief für Judenchristen geschrieben wurde. (Paulus kannte sie nicht, hatte aber von der Existenz einer judenchristlichen Gemeinde in Rom erfahren). Aus diesen Prämissen springt die Schlussfolgerung ins Auge: die Abhandlung I, 18–32 ist [44] genau so wenig authentisch wie die Texte, die das II. Kapitel bilden.

Die Abhandlung I,18 – II,29 ist nicht von Paulus. Versuchen wir herauszufinden, von wem sie stammt.

Der Gott, den die Heiden aus seinen Werken gekannt haben, den sie jedoch nicht verherrlicht haben, obwohl sie ihn hätten verherrlichen müssen, ist offensichtlich der Schöpfer-Gott. Es ist ganz sicher nicht bei Marcion, dass den Heiden Respektlosigkeit dem Gott der Schöpfung gegenüber vorgeworfen wurde. Der Autor dieser Abhandlung ist somit ein katholischer Theologe aus der Zeit nach 150.

Was treibt der hier? Beschäftigen wir uns zuerst mit seinen Absichten. Er nimmt sich vor, im voraus Erklärungen zu geben, die dazu dienen sollen, die Abhandlung der Kapitel V – VIII über die Sünde einsichtiger zu machen. In Wirklichkeit widerspricht er ihr; er verabreicht den Lesern das Gegengift, das es ihnen erlauben wird, ungestraft vom marcionitischen Becher zu trinken. Zwar wurden die Heiden von Gott ihren Leidenschaften ausgeliefert, aber sie können sich trotzdem nur selbst die Schuld geben, denn es handelt sich um eine Vergeltungsmaßnahme. Nicht Gott hat angefangen, sondern sie selber. Gegen den Schöpfer, den sie aus seinen Werken kannten, sind sie in den Krieg gezogen durch ihre Weigerung, ihn zu verherrlichen. Gott hat sie bestraft. Die Heiden sollen doch auf ihre kriminelle Undankbarkeit verzichten, dann wird auch die Strafe, unter der sie leiden, aufgehoben werden.

Die anonymen Sünder und die Juden kennen Gott und beten ihn an. Sie wurden von Gott nicht [45] ihrer verderbten Sinnlichkeit ausgeliefert. Sie sind also – mehr noch als die Heiden – dazu fähig, das Gute zu Tun und das Böse zu meiden. Der Autor der Abhandlung vertritt sehr wohl diese Meinung, denn er sagt zu den anonymen Sündern: „Wisst ihr nicht, dass Gottes Güte euch zur Reue einlädt?“, und zu den Juden: „Die Beschneidung wird euch hilfreich sein, wenn ihr das Gesetz befolgt“. Er setzt eindeutig voraus, dass die Heiden sich bekehren können und dass die Juden befähigt sind, die Vorschriften des Gesetzes zu erfüllen.

Es bleibt uns noch, die Sünder und die Juden, mit denen er es zu tun hat, zu identifizieren.

Ausgehend von der Art und Weise, wie er über das Einhalten des Gesetzes spricht (II, 13, 25, 29), könnte man meinen, dass er das Heil sogar den ungläubigen Juden verspricht, wenn sie nur die Vorschriften des mosaischen Gesetzes einhalten. Hüten wir uns davor, bei diesem Gedanken stehenzubleiben. Die Idee, die Juden, die Feinde Christi, zum Heil zuzulassen, konnte einem Christen des 2. Jahrhunderts nicht kommen. Der Autor spricht Juden an, die an die Auferstehung Christi glauben und seine Wiederkunft erwarten. Und wenn er diesen Umstand nicht erwähnt, dann ist das nur, weil er selbstverständlich ist. Die Juden, an die er sich wendet, haben also den Glauben; es sind sogenannte Judenchristen. Diese gründen ihr Vertrauen auf die Beschneidung; er dagegen sagt ihnen, dass sie es auf die Einhaltung des Gesetzes gründen sollen. Im Dialog XLVII, geschrieben um 160, erwähnt Justin die Judenchristen, die trotzig an der Beachtung des mosaischen [46] Gesetzes festhalten; und er nimmt an, dass diese Leute gerettet werden, vorausgesetzt, dass sie nicht versuchen ihre Lebensweise den Christen aufzudrängen, die eine solche entweder niemals gehabt, oder aber sie aufgegeben haben. Die Mentalität des Justin ist der unseres Autors verwandt. Die Nuance, die sie voneinander trennt, kommt daher, dass sie nicht beide von genau dem gleichen Problem sprechen. Aber sie denken praktisch das Gleiche.

Die anonymen Sünder (1-11) können keine Heiden sein, weil sie alle Heiden der Verdammung anheim geben. Es sind also Christen, jedoch schlechte Christen, die sich mit den schlimmsten Schandtaten einlassen. Trotz ihres unwürdigen Lebens rechnen sie damit, gerettet zu werden; sie rechnen damit, dass die Güte Gottes sie nicht mit den Heiden verwechseln wird, und dass sie besondere Rücksicht auf sie nehmen wird. Aus welchen Anspruch leiten sie diese anmaßende Hoffnung ab? Etwa aus ihrer Herkunft, aus der Tatsache, dass sie von Geburt Juden sind und die Beschneidung haben? Unmöglich bei dieser Hypothese zu bleiben, obwohl sie viel Anhänger hat. Wenn diese schlechten Christen jüdischer Herkunft sind, dann sind die Schläge, die der Autor ihnen hier zu verabreichen sucht, nutzlose Gesten, die ihr Ziel nicht finden, da er sie nicht an ihrem Zufluchtsort, der Beschneidung nämlich, angreift. Er wird bald über die Judenchristen reden (17–29). Da weiß er dann sehr wohl zu sagen, dass diese Menschen ihr Vertrauen auf die Beschneidung gründen; und ihnen wird er dann sehr wohl sagen, dass die Beschneidung ihnen nichts nützen wird, solange sie ein schlechtes Leben führen. Die schlechten Christen, von denen er an der hier besprochenen Stelle spricht [47], sind also Christen heidnischer Herkunft. Und der Rechtstitel, auf den sie vertrauen, derjenige, der ihrer Meinung nach von der Güte Gottes ihnen auf jeden Fall angerechnet werden wird, ist ihr Christ-Sein.

 [47] Antwort auf eine Verleumdung der Katholiken (III, 1–20)

Der Abschnitt III, 1-20 ist ein weiterer Einschub.

Im Vers 8 lesen wir: „Und sollen wir es etwa so machen, wie wir verlästert werden und wie einige sagen, dass wir sprechen?“ Es geht also ein Gerücht herum des Inhalts, dass der Autor dieses Textes und seine Glaubensgenossen lehren, man könne das Schlechte tun, damit das Gute daraus hervorgehe. Das betreffende Gerücht ist also Verleumdung, aber es wird verbreitet. Worin besteht die Verleumdung? Wer sind die Verleumder? Sie werden durch das Wort „gewisse Personen“ bezeichnet. Es sind geheimnisvolle Leute die klar zu benennen der Autor – welcher der Gruppe der Verleumdeten angehört – nicht für nötig befunden hat. Und wir denken sofort an die Judaisten, die Paulus verachten und daran arbeiten, seine Propaganda zunichte zu machen. Zweifellos sind sie es, die, um den [48] Heidenapostel leichter ausschalten zu können, seine Lehre falsch darstellen und ihm den Ausspruch unterschieben, man dürfe Böses tun, damit Gutes daraus hervorgehe. Im Bewusstsein ihrer Machtposition traut Paulus sich nicht, sie frontal anzugreifen und vermeidet es, sie namentlich zu benennen.

Aber es zeigen sich bald unüberwindliche Schwierigkeiten mit dieser Interpretation. Auch die schamloseste Verleumdung kann nicht aufkommen, wenn es keinen Anschein gibt, den sie ausnützen und missbrauchen kann. Man sucht vergeblich den Anschein, den die Judaisten hätten missbrauchen können, um den sophistischen Spruch, das Ziel rechtfertige die Mittel, auf das Konto des Paulus zu setzen. Paulus macht in seiner Propaganda Kleinholz aus der Beschneidung. Wie rechtfertigt er seine Haltung? Er plädiert nicht auf mildernde Umstände, er gibt nicht etwa zu, Böses getan zu haben, damit Gutes daraus hervorgehe. Im Gegenteil, er erklärt, Gutes getan zu haben. Er hat die Beschneidung zur Seite geschoben, weil er sie verachtet. Genau das wissen die Judaisten sehr wohl und es ist der Punkt, der die Haltung des Heidenapostels in ihren Augen ganz besonders verhasst erscheinen lässt. Mit der Zuschreibung des sophistischen Spruches vom Ziel, das die Mittel heiligt, an Paulus, würden sie seine Schuld abschwächen, ein gewisses Verständnis für seine Absichten zeigen. Wir können mit Sicherheit davon ausgehen, dass sie Paulus nicht mit Nachsicht beurteilt haben, und somit sind wir auch sicher, dass eine eventuelle Beschuldigung, der Apostel habe gelehrt, das Ziel rechtfertige die Mittel, nicht vom Lager der Judaisten ausgegangen wäre.

Wäre die Verleumdung dann das Werk von ungläubigen Juden oder Heiden? Nein doch. Zum einen: Weshalb werden die Verleumder dann nicht namentlich als Juden oder Heiden benannt? Warum bleiben sie verborgen hinter dem Ausdruck „gewisse Leute“? Diese diskrete Formulierung ist üblich für Gegner, die man schonen will. Inwiefern sollte Paulus sich den Juden oder Heiden Schonung auferlegen müssen? Man sieht keinen Grund dafür; und das ist eine erste Schwierigkeit.

Und es gibt eine zweite. Zwischen Christen und Heiden stand die Frage zur Debatte, ob Jesus eine göttliche Mission hatte und diese durch seine Auferstehung bestätigt worden war. Zwischen Christen und Juden war die Frage der Auferstehung genau so wesentlich; es kam aber das Problem der Prophezeiungen hinzu, welche die Christen im Alten Testament zu lesen meinten, und welche die Juden nach eigener Aussage dort nicht entdecken konnten. Die Kontroverse über die Prophezeiungen kam übrigens sehr früh auf in den polemischen Auseinandersetzungen zwischen Christen und Heiden. Und es stimmt, dass die Kontroverse, sowohl mit den Juden als auch mit den Heiden, ihren Schwerpunkt in der Auferstehung Jesu hatte und in den sich auf Jesus beziehenden Prophezeiungen. Welchen Platz konnte nun in dieser Kontroverse die Maxime einnehmen, der zufolge die Lüge der Menschen die Wahrheit Gottes aufleuchten lasse? Man sieht es nicht. Übrigens, genau so wenig sieht man, was die Antwort hier soll, das Ziel rechtfertige die Mittel. Und zusätzlich erregt der kabbalistische Eindruck, den diese Maxime macht, unseren Argwohn. In ihren Auseinandersetzungen mit den Juden und den Heiden hatten die Christen aus der Zeit um das Jahr 56 [50] wahrhaftig anderes zu tun, als ihnen Silbenrätsel an den Kopf zu werfen. Anderseits hatten die Heiden und die Juden viel einfachere und überzeugendere Gegenargumente zur Verfügung als die eine subtilen Kasuistik.

Eine methodische Untersuchung hat uns den Beweis geliefert, dass kein Zeitgenosse Pauli, der im Namen einer gesellschaftlichen Gruppe handelte,  ihn mit den Vorwürfen hätte beschuldigen können, über die Paulus sich beklagt. Wir müssen daraus schließen, dass der Wortführer der sich Beklagenden nicht Paulus ist. Die Verse 7-8, welche die Beschuldigung formulieren, sind unecht. Unecht sind auch die Verse 5-6, die die Beschuldigung vorbereiten. Unecht schließlich auch 9–20, die sie entwickeln und erläutern. Der gesamte Einschub 5–20 ist ein Fremdkörper in der Redaktion des Paulus.

Wer ist der Autor? Er sagt: Alle Menschen würden sündigen – denn das ist der Sinn den er dem Spruch gibt, der alle Menschen als Lügner abstempelt – und er fügt hinzu, dass die Lüge der Menschen, ihre Sünde also, die Gerechtigkeit Gottes auslöst; denn diesen Sinn gibt er dem Spruch, der Gott als den Wahrhaftigen verkündet.

Die Gegner entrüsten sich über eine Gerechtigkeit, die sich der menschlichen Zerbrechlichkeit bedient wie eines Ambosses, welche die Menschen als Sünder erschafft, um sie anschließend bestrafen zu können. Eine solche Moral, welche die Mittel durch das Ziel rechtfertigt, erscheint ihnen als die Parodie von Moral. In diesem Gedankengang hat die gegen Paulus und seine Mitstreiter entfachte Beschuldigung ihren Ursprung.

[51] Derjenige, den sie zuvorderst im Visier hat, ist der Schöpfergott, dem die Menschen ihren der Sünde geweihten Leib zu verdanken haben. Und wenn sie Paulus und seine Anhänger angreift, dann ausschließlich und allein, weil Paulus und seine Anhänger diesem Gott verbunden bleiben.

Jeder weitere Kommentar, meine ich, ist überflüssig. Ziehen wir unsere Schlüsse. Die Verleumder sind die Marcioniten. Ihre Opfer sind die Katholiken, die den Schöpfergott anbeten, den Gott des Alten Testamentes. Ihr Wortführer schreibt nach 150. Mit stürmischer Entrüstung erklärt dieser fiktive Paulus, dass Gott nicht ungerecht sei, dass er die Mittel nicht durch das Ziel rechtfertige und dass er, Paulus, sich dieser Irrlehre nicht schuldig gemacht habe, und seine Anhängerschaft auch nicht. Wir haben jetzt den Schlüssel des Verständnisses in der Hand für die mysteriöse Art und Weise, in der die Gegner benannt werden. Paulus kann ja schließlich die Marcioniten nicht bei ihrem Namen nennen, genauso wenig, wie er den Verleumdeten den Namen „Katholiken“ geben kann, den sie um 150 trugen.

 Jesus als Sühnopfer

Und noch ein Einschub. Er geht von III, 21 bis 26. Der Gedankengang ist so: „Die Sünde war universal. Gott hat sie lange Zeit toleriert. Er hat sich schließlich dazu entschlossen, seine Gerechtigkeit zu zeigen, indem er ohne Gegenleistung die Menschen [52] durch seine Gnade, das heißt durch seine Güte, rechtfertigt. Der göttliche Heilsplan ist verwirklicht worden durch das Erlösungswerk, das Jesus Christus vollbracht hat. Da alle gesündigt hatten, hat Jesus Christus allen die Wohltat der Erlösung zukommen lassen“.

Wenn Jesus gekommen ist, um die Menschen von der Sünde freizukaufen, ist nicht einzusehen, warum er nicht allen Menschen die Wohltat der Erlösung zukommen lassen sollte, weil alle gleichermaßen ihrer bedürfen, da sie alle in der Sünde verstrickt sind. Das Gegenteil würde überraschen. Die dargestellte Argumentation ist also logisch schlüssig. Fügen wir hinzu, dass sie auch in sprachlicher Hinsicht in der Einbindung in den Kontext schlüssig ist. Dies durch die zwei Wörter „denn alle“, die sie im Text einleiten. Durch die Vokabel „alle“ scheint sie den vorhergehenden Satz fortzusetzen, der von der Gerechtigkeit Gottes spricht, die „allen“ Gläubigen gewährt wird. Und die Konjunktion „denn“ scheint ihn zu erläutern. Man hat den Eindruck, eine Frage mit der anschließenden Antwort vor sich zu haben: „Weshalb wird die Gerechtigkeit Gottes allen Gläubigen gewährt? Weil alle gesündigt haben“.

Alles ist schlüssig, so lange man im Bereich der Wortfolge bleibt. Es sieht anders aus, wenn man darangeht, die Gedanken zu analysieren.

Lesen wir den  Vers 23 noch einmal: „denn alle haben gesündigt und erlangen nicht die Herrlichkeit Gottes“. Ich habe gesagt, dass diese Bemerkung logisch schlüssig ist. Aber je mehr man sie als befriedigend empfindet, um so mehr ist man auch überrascht angesichts der in den [53] Kapiteln IV, IX und X angehäuften extravaganten Äußerungen, die die These begründen wollen, man könne auch ohne Beschneidung Kind Abrahams sein und an der Verheißung teilhaben. Nicht dass man sich wundern müsste zu sehen, wie Paulus eine These auf groteske Spitzfindigkeiten aufbaut. Durch seine rabbinische Ausbildung war er es ja gewohnt, die Bibel als ein Buch voller Zaubersprüche zu betrachten, und er konnte dann auch eine solche Methode kaum vermeiden. Und im übrigen ist seine Exegese auch nicht lächerlicher als die unserer Scholastiker. Es bleibt einem jedoch unverständlich, wieso er sich Hals über Kopf in Sophistik wirft, nur um eine Beweisführung neu aufzugreifen, die er schon einmal nach der Methode des gesunden Verstandes erbracht hat. Wenn Paulus mit Hilfe schräg interpretierter biblischer Texte anfängt zu erklären, dass man Gottes Gerechtigkeit auch ohne Beschneidung erwerben kann, wie sollte er da nicht merken, dass er dieses Problem bereits mit einigen klaren und entscheidenden Formulierungen gelöst hat? Aber wir stehen vor der Tatsache: Er erinnert sich daran nicht im geringsten. Die mühsame und hinkende These, die sich schleppend durch die Kapitel IV, IX und X quält, weiß absolut nichts von der entscheidenden, knappen Lösung, die in III, 23 formuliert wurde. Eine Erklärung für dieses Nicht-Wissen kann uns nur die chronologische Abfolge geben: die Abhandlung III, 21–26 gehört nicht zur von Paulus selbst redigierten Fassung.

Und noch ist nicht alles gesagt über dieses kleine Textstück. Ich habe ihm die gleiche Zielsetzung zugesprochen wie diejenige der großen These der Kapitel IV, IX und X, Das ist aber nur zum Teil richtig. Zwar will man in beiden Fällen beweisen, dass alle teilhaben können an der Wohltat, die [54] Christus gebracht hat. Dabei bleibt es dann aber auch mit der Übereinstimmung. Der Christus des Paulus hatte den Auftrag, die Abraham gegebene Verheißung zu erfüllen und die Weltherrschaft zu errichten. Der Tod, den er erlitten hat, hat seinen Auftrag nicht aufgehoben; er hat ihn nur aufgeschoben. Christus wird kommen und über die Welt herrschen. In seine Herrlichkeit werden alle wahren Kinder Abrahams einbezogen werden, alle diejenigen, die vor Gott gerecht sind und in seiner Gunst stehen. Um vor Gott gerecht zu sein, bedarf es einer einzigen Bedingung: des Glaubens an die Auferstehung Christi. Man erkennt mühelos, dass in diesem Programm keinerlei Platz ist für Sünde und Erlösung. Der Text von III, 21–26 führt uns in eine Welt ein, von der Paulus keine Ahnung hat.

Woher stammt diese Interpolation? Ihr Inhalt wird es uns verraten. Die Menschen, die alle gesündigt haben, sind dieselben, die uns in V, 12 und 19 als Sünder präsentiert wurden. Dieser Gott, durch dessen Güte die sündigen Menschen ohne Gegenleistung gerechtfertigt werden, es ist derselbe, der in V, 3 Gegenstand der Hoffnung für diejenigen ist, die Christen geworden sind. Der Abschnitt III, 21–26 —nach Abzug einiger Worte, von denen gleich die Rede sein wird— hat die gleiche Herkunft wie das Kapitel V: Es ist marcionitisch. Es erzählt das Liebeswerk Gottes, den Weg, den Gott gegangen ist, um dieses Werk zu vollenden und das Motiv der göttlichen Intervention. [55] Das vollbrachte Werk ist die „Erlösung“; der Weg bestand darin, Jesus zum „Aussöhner“ zu machen; das Motiv war „die Manifestation der Gerechtigkeit“ Gottes.

Der gute Gott hat gesehen, dass die Menschen unter dem Joch des Schöpfers seufzten. Aus einem Gefühl des Mitleids heraus hat er beschlossen, ihnen „die Erlösung“ zu geben, das heißt die Befreiung des grausamen Joches, das auf ihnen lastete. Um dieses zu erreichen, hat er Christus Jesus zum „Sühneopfer“ bestimmt, das heißt zum Bevollmächtigten für die Befriedung.

Wie hat Christus als Versöhnungsbevollmächtigter gehandelt? Durch seinen Tod, an dem die Christen in der Taufe partizipieren. Christus wurde durch den Schöpfer getötet. Die Christen aber, auf Christus aufgepfropft und dadurch mit ihm eine Einheit bildend, teilen den Status des getöteten Christus. Auch sie sterben und zwar in dem Augenblick, in dem sie in das Taufbad getaucht werden. Da sie nicht mehr leben, sind sie notwendigerweise nicht mehr Eigentum des Schöpfers, der sie ins Leben gerufen hatte. Letzterer hat keinerlei Macht mehr über sie, denn er hat sie in der Person Christi getötet. Er musste, nachdem er seine Wut an ihnen ausgelassen hatte, beruhigt werden. Christus hat, indem er sich durch den Schöpfer hat umbringen lassen, der Wut dieses perversen Wesens ein Objekt gegeben, an dem sie sich hat austoben können; er war für ihn ein Versöhnungsopfer. Gleichzeitig wurde er für die Christen zum Befreier und Erlöser.

Durch dieses Werk der Versöhnung, von Christus durchgeführt aber auf Initiative Gottes, hat Gott uns seine Liebe gezeigt, aber er hat auch [56] „seine Gerechtigkeit offenbar werden lassen“. Fügen wir hinzu, dass diese Gerechtigkeit auch die Rechtsansprüche des Schöpfers nicht vernachlässigt hat. Dieser hat ja seine eigene Absetzung selber bewirkt. Er war es selber, der, indem er die Christen in der Person Christi umgebracht hat, es sich selber unmöglich gemacht hat, sie noch länger unter seiner Herrschaft zu behalten. Seine Absetzung ist somit seine ureigenes Werk.

Der Vers 25, der aussagt, Jesus sei zum Sühneopfer gemacht worden, fügt hinzu: „durch den Glauben an sein Blut“. Was wird mit diesen Worten gesagt? Wenn man nur logisch denkt, muss man übersetzen, dass Christus seine Sühnemission durchgeführt hat durch die Kraft seines Blutes. Der Text sagt aber klipp und klar buchstäblich, dass Christus zum Sühneopfer geworden ist durch den Glauben an sein Blut. Die orthodoxen sowie auch die unabhängigen Exegeten geben sich viel Mühe, um den Text mit der Logik in Übereinstimmung zu bringen. Es gelingt ihnen nicht.

Wir haben eine Interpolation vor uns, deren Gedankenführung so ausschaut: „Zwar wurde Christus zum Sühneopfer gemacht; aber nur diejenigen haben Nutzen am Werk, das Christus vollbracht hat, die glauben das Christus wirklich Blut hatte, dass sein Leib ein von Blut durchflossener Organismus war wie der unsere auch, und kein Phantom; mit einem Wort: Christus ist Sühneopfer durch den Glauben an sein Blut“. Die Formulierung „durch den Glauben an sein Blut“ dient dazu, den rein geistigen Christus zu bekämpfen. Sie ist katholischen Ursprungs[5][5]

 [57] Der Geist

Im Traktat über den Erlösertod Christi wird oft der Geist erwähnt. Der Ausdruck steht im allgemeinen für den Gegensatz zu ‚das Fleisch’ und bezeichnet die durch den Glauben verwandelte Seele des Christen. An manchen Stellen jedoch hat er eine andere Bedeutung und bezeichnet ein göttliches Wesen. Einige Bemerkungen werden aufzeigen, wo das der Fall ist. Ein paar Worte nur zu VIII, 26–27.

Der Text sagt uns, dass „ebenso aber“ der Geist unserer Schwäche zu Hilfe kommt und dass er einschreitet in unaussprechlichen Seufzern.

1° Die Konjunktion „ebenso aber“ zeigt eine Ähnlichkeitsbeziehung an zwischen dem, was vorausgeht mit dem, was folgt. Was vorausgeht ist, dass wir auf Hoffnung hin gerettet wurden. Die Kommentatoren geben zu, dass keinerlei Ähnlichkeitsbeziehung besteht zwischen dem Heil auf Hoffnung hin und dem Geist, der uns zu Hilfe kommt. Wir schließen daraus, dass die Konjunktion „ebenso aber“ uns täuscht, da sie zwischen den Versen 25 und 26 eine Verbindung signalisiert, die nicht existiert.

2° Man sagt uns, der Geist „verwende sich“ für uns. Aber in VIII, 34 wird die gleiche Rolle einer Person, die sich verwendet, Christus zugeschrieben. Wir stehen also vor zwei Personen, die sich verwenden. Das ist einer zuviel. Diese zwei, die sich [58] verwenden, entstammen nicht derselben Redaktion.

3° Der Geist verwendet sich unter „unaussprechlichen“ Seufzern. In diesem Ausdruck steckt ein Geheimnis, zu dem nur Eusebius den Schlüssel besitzt (Hist. eccl., V, 16, 6–11). In seinen Ausführungen über die Montanisten zitiert er einen Autor, der sagt, diese Exaltierten würden das Bewusstsein der eigenen Person verlieren und unaussprechliche Schreie hervorbringen. Unser Text hat diese montanistischen Phänomene im Blick und kann sich auf nichts anderes beziehen. Er schreibt sie dem Geiste zu, er legitimiert die ekstatischen Entrückungen des Montanus und seiner Adepten, er stammt von einem Anhänger der montanistischen Bewegung.

Der Vers 26, der sich mit 25 nicht verknüpfen lässt, hat eine Beziehung zu 16 und zu 11 (siehe dazu Thomas und Estius). Die beiden Versen gehören aber auch zur Theologie des Geistes. Die drei Texte 11, 16 und 26 beschreiben alle die Tätigkeit des Geistes: seine zukünftige Tätigkeit, die darin bestehen wird, die Leiber derjenigen zu erwecken, in denen er wohnt; seine gegenwärtige Tätigkeit, die darin besteht, ihnen die Gotteskindschaft zu verschaffen und „ebenso“ darin, ihnen in ihrer Schwäche beizustehen durch die Wohltat der Ekstase und der Glossolalie. Sie bilden eine Aufeinanderfolge innerhalb des sie enthaltenden Kontextes, den sie durcheinanderbringen. Es handelt sich um eine dreigeteilte Lektion montanistischer Theologie.

Die drei Teile passen zusammen; sie passen aber nicht zum Hintergrund, in den sie eingefügt und mit dem sie verbunden wurden trotz der versuchten Vorsichtsmaßnahmen, die Brüche zu übertünchen.

[59] Das gezüchtigte jüdische Volk wird den christlichen Glauben annehmen

Die Problematik des Unglaubens der Juden wurde bereits in IX, 1–13 und in X diskutiert; sie wird wieder aufgegriffen in XI und dessen Annex IX, 14–29.

In IX –bestätigt durch IV– lässt der Unglaube der Juden die göttlichen Verheißungen intakt, da diese Verheißungen der Nachkommenschaft Abrahams zugesprochen wurden, und nur diejenigen zur Nachkommenschaft Abrahams gehören, die den Glauben an Christus Jesus haben. Daraus folgt, dass die ungläubigen Juden nicht zur Nachkommenschaft Abrahams gehören und die göttlichen Verheißungen nicht an sie ergangen sind.

In Kapitel XI wird dieses Hintertürchen beiseite gelassen. Nicht ein einziges Mal wird uns hier gesagt oder auch nur angedeutet, dass der Glaube allein den Anspruch begründet, Kind Abrahams zu sein. Im Gegenteil, im Vers 16 liest man: „Wenn aber die Erstlingsgabe des Teiges heilig ist, so auch der gesamte Teig; und wenn die Wurzel heilig ist, so auch die Zweige“. In diesem Text bedeuten Erstlingsgabe und Wurzel die Patriarchen und Propheten; der Teig und die Zweige stehen für das jüdische Volk. Letzteres ist mit den Patriarchen und Propheten in gleicher Art verbunden wie die Teigmasse mit der Erstlingsgabe und wie die Zweige mit der Wurzel. Wenn die Erstlingsgabe und die [60] Wurzel heilig sind, sind es der Teig und die Zweige auch. Da die Patriarchen und Propheten heilig waren, folgt daraus, dass das Volk der Juden ebenfalls heilig ist. Und das ist auch die Lehre des Verses 16; und der Vers 28 übersetzt den gleichen Gedanken in andere Worte, indem er über die Juden sagt: „hinsichtlich der Erwählung aber (sind sie) Geliebte um der Väter willen“.

In den Kapiteln IX und IV hat Paulus gesagt: „Was einen der Nachkommenschaft Abrahams zugehörig sein lässt und somit ihn auch zum Teilhaber an der jenem gegebenen Verheißung macht, ist der Glaube an Jesus Christus“. Hier nun lesen wir, dass die Juden von Gott geliebt werden um der Väter und der Propheten willen, deren Kinder sie sind; und dass sie in den Genuss kommen der Erwählung, die einst an ihren Vätern geschah. Der Gegensatz ist absolut, nicht auflösbar; und da die in den Kapiteln IV und IX vorgebrachte These von Paulus ist, ist diejenige, die uns in Kapitel XI präsentiert wird, nicht vom großen Apostel.

Von wem ist sie, oder jedenfalls: in welcher Zeit wurde sie abgefasst? Gehen wir den Text noch einmal durch: (1) „Gott hat sein Volk nicht verstoßen… (5) es gibt einen Überrest nach Auswahl der Gnade… (11) die Israeliten sind nicht gefallen, damit sie untergehen sollten; durch ihren Fall ist den Nationen das Heil geworden. (12) ihr Fall ist der Reichtum der Welt geworden und ihr Verlust der Reichtum der Nationen… (15) ihre Verwerfung ist die Versöhnung der Welt geworden… (21) wenn Gott die natürlichen Zweige nicht geschont hat, wird er auch dich nicht schonen… (22) Sieh [61] nun die Güte und die Strenge Gottes: Strenge gegen die, welche gefallen sind… (26) so wird ganz Israel errettet werden…“.

Was bedeuten dieser Überrest und dieser Fall und dieser Verlust und diese vom Stamm abgerissenen Zweige und diese Strenge Gottes? Die angeblichen Erklärungen der Kommentatoren erklären nichts und bringen alles durcheinander.

Um etwas von dieser ganzen Schilderung zu verstehen, muss man sie so übersetzen: „Das jüdische Volk ist in schrecklicher Weise heimgesucht worden; zu Tausenden und Abertausenden wurden seine Söhne hingemetzelt; es ist zahlenmäßig stark reduziert worden. Ein Teil hat aber überlebt. Gott, der gestreng mit dem Volk umgegangen ist, will es erhalten. Das jüdische Volk wird wiederaufleben, denn (28) es wird immer noch geliebt um der Väter willen, und (29) die Gnadengaben Gottes sind unbereubar“. Der Autor hat gewaltige Trümmerhaufen vor Augen, seien es diejenigen, die die Katastrophe des Jahres 70 verursacht hatte, oder diejenigen, die eine Folge von Bar Kochbas Revolte (132–135) waren. Er sieht diese Trümmer. Aber er bleibt im Glauben an die göttlichen Verheißungen. Er glaubt daran, dass das jüdische Volk wiederaufleben, dass es sich Christus ergeben und dass es, einmal christlich geworden, seinen Lohn dafür bekommen werde.

In der Erwartung dieses glücklichen Tages verehrt er das Gericht, das Israel mit solcher Härte geschlagen hat. Er verehrt es im Traktat IX, 14–29. Wir erfahren dort, dass Gott als Herr über das Leben der Menschen, frei entscheiden könne, wen er schonen und wen er opfern will. Diejenigen, die er hat umbringen lassen, waren wegen ihres Unglaubens „Gefäße des Zorns, zur Vernichtung hergestellt“. Sie hatten es alle verdient, umzukommen. [62] Gott hat seine Güte gezeigt, indem er unter diesen Ungläubigen „einen Rest“ (27) erhalten hat, so wie er es durch den Mund des Propheten Jesajas angekündigt hatte. Er tat es, indem er „Saatgut“ (29) übrig ließ von der jüdischen Nation, welche ansonsten ausgelöscht worden wäre wie Sodom und Gomorrha. Dieser „Rest“ und dieses „Saatgut“ versetzen uns in eine Katastrophe, bei der nur wenig fehlte, oder sie hätte das ganze jüdische Volk verschlungen. Die Abhandlung IX, 14–29 wurde genau so wie das XI. Kapitel entweder nach 70 oder nach 135 geschrieben.

Der Vers 15, wo Gott damit prahlt, Barmherzigkeit zukommen zu lassen, wem er will, bedeutet: „Ich habe eine große Menge Juden umbringen lassen; ich habe einige von diesem Gemetzel ausgenommen; ich habe getan was ich wollte und wie ich es wollte“.

Und die „Gefäße des Zorns“, von denen er in Vers 22 spricht, bezeichnen diejenigen Juden, die im allgemeinen Desaster umgekommen sind.

Die beiden Abhandlungen von XI und von IX, 14–29 wurden entweder nach dem Krieg des Titus oder nach dem Krieg von 132 bis 135 geschrieben. Versuchen wir nun, unser Ergebnis noch zu präzisieren. Der Autor, der in die Ratschlüsse der Vorsehung schauend eingedrungen ist, weiß, dass die Zerstörung des jüdischen Volkes Teil eines von Gott im voraus gefassten Planes ist.

Dieser Plan besteht aus zwei Teilen. Die Zerstörung des jüdischen Volkes ist das Mittel, dessen Gott sich bedient hat, um die Heiden zum Glauben zu bekehren. Und umgekehrt ist die Bekehrung der Heiden das Mittel, das dazu bestimmt ist, die Bekehrung des jüdischen Volkes in die Wege zu leiten. Ohne die Zerstörung des jüdischen Volkes, wäre das Heil den [63] Heiden nicht zugänglich geworden. Ohne die Bekehrung der Heiden jedoch, hätten die jüdischen Zweige nicht neu aufgepfropft werden können auf den Stamm, von dem sie getrennt worden waren. Nun schreibt der Autor zu einem Zeitpunkt, an dem der erste Teil des Planes durchgeführt worden war, denn (15) „die Versöhnung der Welt“ hat stattgefunden und (30) die Heiden haben Erbarmen gefunden. Die Realisierung des zweiten Teiles ist im Gange. Paulus —der fiktive Paulus, der hier die Feder führt—, der Heidenapostel, macht sich auch zum Apostel der Juden. Er versucht, bei seinen Brüdern eine heilige Eifersucht auf die Heiden zu entfachen (14), das heißt einen Wetteifer, der die Nachkommen der Patriarchen dazu führen soll, dem Beispiel der Heiden zu folgen und ebenfalls den christlichen Glauben anzunehmen.

Paulus bemüht sich also darum, seine Brüder, die Juden, zum christlichen Glauben hinzuführen. Dadurch erfüllt er den Plan Gottes. Gegen diesen göttlichen Plan sind nun aber Widersacher aufgestanden, wie man sie ganz und gar nicht erwartet hätte, keine anderen nämlich als bekehrte ehemalige Heiden. Ja, es gibt nun Christen, die, weil sie aus den Reihen des Heidentums hervorgegangen sind, sich auf Kosten der Juden brüsten mit der Behauptung, der Abfall des jüdischen Volkes sei endgültig und der christliche Glaube habe der „Wurzel“ (18), sprich: den Patriarchen und den Propheten, nichts zu verdanken.

So nicht! Das stimmt nicht. Zwar wurden die Juden mit Strenge angefasst. Aber (23) „wenn sie nicht im Unglauben bleiben, werden sie eingepfropft werden; denn Gott ist imstande, sie [64] wieder einzupfropfen“. Die ehemaligen Heiden sollten lieber, statt sich dem Hochmut zu ergeben, um sich selber fürchten; denn (21), wenn Gott die natürlichen Zweige nicht geschont hat, wird er auch sie nicht schonen, wenn (22) sie nicht im Glauben bleiben. Und sie sollten wissen (18) dass nicht sie die Wurzel tragen, sondern dass die Wurzel sie trägt.

Das ist die Situation, und das muss man erklären. Man muss Christen finden, die den christlichen Glauben von seiner Wurzel in den Patriarchen und Propheten getrennt haben. Christen, die glaubten, die Juden seien unfähig dazu, in Christus „eingepfropft“ zu werden, gerade wegen ihrer Anhänglichkeit an die Patriarchen und Propheten. Solche hat es erst gegeben von dem Tage an, da Marcion den christlichen Glauben vom Alten Testament abgetrennt hat. Das Kapitel XI (ohne die Verse 7 bis 10) und sein Anhang von IX, 14–29 sind Texteile einer antimarcionitischen Polemik. Sie wurden nach 150 geschrieben. Der Autor hat seinen Vergleich mit dem Einpfropfen beim marcionitischen Autor von Kapitel VI entliehen.

Die Schwachen und die Starken. Die Unruhestifter.

Von XIV,1 bis XV,7 finden wir eine Abhandlung vor über die Beziehungen, wie sie [65] die „Schwachen“ und die „Starken“ miteinander unterhalten sollten. Sie hat den heutigen Kommentatoren, die mit ihr noch den Ausspruch von XVI, 7–20 verknüpfen, in große Verlegenheit gebracht. Ich werde versuchen, ihren Inhalt zusammen mit dem ihres vorgeblichen Annexes ans Tageslicht zu ziehen.

Beginnen wir mit dem Versuch zu bestimmen, wer diese „Schwachen“ sind, die kein Fleisch essen. Es hat verschiedene Antworten zu dieser Frage gegeben, und es würde zuviel Zeit brauchen, sie hier alle zu diskutieren, zumal sie heute nicht mehr vertreten werden. Ich beschäftige mich deshalb nur mit derjenigen, die heute favorisiert wird. Dieser Erklärung zufolge sind die schwachen Christen möglicherweise ehemalige Heiden, möglicherweise aber auch jüdischer Herkunft. Sie verbieten den Fleischgenuss nicht deshalb, weil sie befürchten, das auf dem Markt verkaufte Fleisch könne aus den den Idolen geopferten Beständen stammen, sondern weil sie orphischen oder essenischen Einflüssen nachgeben, die ihnen die Aversion gegen Fleischspeisen eingetrichtert haben.

Welchen Wert hat diese Interpretation?

Sie enthält drei schwerwiegende Lücken.

Erstens kann sie den Vers XIV, 5 nicht einbeziehen, der besagt, dass die Schwachen „einen Tag dem anderen vorziehen“. Leute, die unter dem Einfluss orphischer oder essenischer Theorien Fleisch überhaupt als unrein betrachteten, mussten sich den Verzehr von Fleisch notwendigerweise an allen und nicht nur an bestimmten Tagen versagen.

Zweitens macht sie Paulus’ Haltung unverständlich. Warum verurteilt der Apostel [66] solche Lehren nicht, die von Gott den Menschen zur Verfügung gestellte Güter als unrein abstempeln? Warum weist er sie nicht zurück, wie es später der Autor der Pastoralbriefe (1Ti., IV, 3) tun wird? Lagrange[6][6] plädiert folgendermaßen: „Wenn es diese Tendenzen in der römischen Kirche so systematisch und begründet gegeben hätte, wären weder ihre Anhänger so zögerlich noch Paulus so nachsichtig gewesen. Ihre Anhängerschaft war also eine kleine fluktuierende Menge, die sich unter Druck setzen ließ… Jede Hypothese muß daran festhalten, dass die Schwachen weniger Asketen aus Überzeugung waren…als ängstliche Einzelpersonen“.

Wie konnte er übersehen, dass diese Feststellungen seine eigenen Argumente widerlegen? Wenn die Schwachen „zögerlich“ waren; wenn sie nichts gemein hatten mit den „Asketen aus Überzeugung“, war es doch ein Leichtes, sie aufzuklären. Warum hat Paulus sie nicht aufgeklärt? Warum hat er sie nicht über die Wahrheit belehrt? Es waren doch Leute, die diese bereitwillig akzeptiert hätten, da sie nicht durch Vorurteile geblendet waren? Lagranges Plädoyer fällt also glücklos aus. Es mangelt ihm außerdem an Geschlossenheit. Man sagt uns, die Schwachen seien keine „Asketen aus Überzeugung“ gewesen. Ein bisschen weiter (S. 339) lese ich, dass diese Schwachen „vom Skrupel, den man ihnen eingeflüstert hatte, zu einer freieren Praxis übergingen, ohne sich vom Zweifel ganz frei zu machen“. Skrupel ist per Definition die übertriebene Angst davor, einer Gewissensverpflichtung zuwiderzuhandeln. [67] Lagrange widerspricht sich also selber, wenn er uns die Schwachen wie Leute darstellt, die nur aus Ängstlichkeit und nicht aus Überzeugung handeln. Nach seinem eigenen Eingeständnis waren die Schwachen verführt worden von bösen Predigern, die ihnen die Gewissensverpflichtung auferlegt hatten, auf jeden Fleischgenuss zu verzichten. Übrigens spricht Lagrange auf Seite 339 von „Theoretikern“ und von einer „aktiven Partei“. Paulus stand also einer Überzeugung gegenüber. Warum hat er nicht versucht, sie richtigzustellen?

Wenn der Apostel sich wenigstens darauf beschränkt hätte, die Schwachen in ihren irrigen Vorstellungen zu belassen! Er geht jedoch viel weiter. Er schreibt den Starken vor, ihr Verhalten dem der Schwachen anzugleichen. Nach der heute favorisierten Interpretation besagen die Verse 15 und 20–22: „Ihr, die ihr wisst, das Fleisch nicht unrein ist, ihr seid im Recht. Diejenigen, die darauf verzichten, sind schwach. Denkt aber daran, dass diese Schwachen zur Sünde verführt werden, wenn sie sehen, wie ihr eine Praxis verachtet, die ihnen am Herzen liegt. Behaltet also eure Überzeugung in eurem Innersten bei, lasst sie aber nicht öffentlich hervortreten. Gleicht also euer äußeres Verhalten dem der Schwachen an und unterwerft euch einem vegetarischen Regime“.

Es gibt also um das Jahr 56 in Rom Christen, die aus Gewissensskrupeln vegetarisch leben. Diese Schwachen bilden nur eine „kleine fluktuierende Menge“, sie sind nicht einmal „Asketen aus Überzeugung“. Jedenfalls hat die Mehrheit der römischen Gemeinde sich bis jetzt [68] von dieser Extravaganz ferngehalten. Jetzt aber soll es anders werden. Die Mehrheit wird, um die Schwachen nicht zu skandalisieren, ihr Verhalten dem der „kleinen fluktuierenden Menge“ anpassen müssen. Sie wird dies selbstverständlich ohne innere Überzeugung tun. Es wird aber vorausgesetzt, dass auch die Schwachen nicht aus Überzeugung handeln. Summa summarum wird überhaupt niemand an die Notwendigkeit dieser Abstinenz glauben, aber alle werden so tun, als ob sie daran glaubten. Und damit wäre ja nun das Motiv für die Haltung des Paulus gar herrlich beleuchtet!

Dritte Lücke: die modernen Exegeten können nicht erklären, wie die Mentalität der „Schwachen“ entstanden sein könnte. Man spricht von orphischen und essenischen Einflüssen. Man sagt, die orphische Religion habe unter anderem auch vorgeschrieben, nichts zu essen, was Leben gehabt habe. Einverstanden. Man müsste dann aber aufzeigen, durch welchen Kanal die orphischen Vorschriften den Christen Roms des Jahres 56 zugeflossen sind (ich lasse die essenischen Theorien beiseite, denn sie sind recht mysteriös und suspekt). Die Schwachen, die glaubten, durch Fleischgenuss zu sündigen, wären zu dieser Überzeugung erst gekommen, nachdem sie von den orphischen Moralvorschriften in Predigten Kenntnis bekommen hatten. Wer hat sie ihnen gepredigt? Als „ängstliche Charaktere“ haben sie sich der Autorität von Leuten unterstellt, die sie zu der asketischen Praxis hingeführt haben, ohne dass sie davon wirklich überzeugt gewesen wären. Welche Leute sind es, die sie so hingeführt haben?

Lagrange findet die Antwort in XVI, 17–18. Lernen wir diesen Text erst einmal kennen. (Ich [69] zitiere nach der Übersetzung Lagranges[7][7]): „Ich ermahne euch aber, Brüder, dass ihr achthabt auf die, welche entgegen der Lehre, die ihr gelernt habt, Parteiungen und Ärgernisse anrichten, und wendet euch von ihnen ab! Denn solche dienen nicht unserem Herrn Christus, sondern ihrem eigenen Bauch, und durch süße Worte und schöne Reden verführen sie die Herzen der Arglosen“. Und dazu die Feststellungen Lagranges zu diesen Versen: „Diese Gegner sind Judaisten… Es leidet keinen Zweifel, dass Paulus auf seine üblichen Gegner anspielt, auf die Judaisten, die er im Galaterbrief offen bekämpft hat, auf die er in 2 Kor., X, 7 und XI, 12 anspielt und die er –fast mit den gleichen Worten wie hier– im Philipperbrief, III, 18–19 benennt“.

Die Judaisten arbeiten also gegen Paulus in Rom, und Paulus weiß davon. Aber möglicherweise ist ihm nicht bekannt, dass die Propaganda für asketische Praxis von ihnen ausgeht? Hören wir also zu, was Lagrange (S. 373) dazu sagt: „Wenn wir Recht hatten mit unserer Annahme, die Schwachen des Kapitels XIV seien arglose Gläubige, die sich gängeln lassen, so werden die Gängelnden zweifelsohne diese Judaisten sein. Vielleicht hielten sie es für geschickt, mit ihren Machenschaften auf dem Gebiet der Enthaltung von Speisen zu beginnen, weil es dort leicht ist, sich den Anschein besonderer Frömmigkeit zu geben… Der Vorwurf des Apostels, sie seien Sklaven ihres Bauches, liefert dann den Beweis, dass er sich durch diese Allüren nicht düpieren ließ“. Wie man sieht, Paulus blieb nichts verborgen.

[70] Warum greift er die „Machenschaften“ der Judaisten nicht an? Er, der erbitterte Feind der Judaisten, wieso stellt er sich ihrem Unternehmen nicht in den Weg? Warum gibt er keinen Alarmschrei von sich und sagt: „Gebt Obacht, dieses vegetarische Regime, dem ihr euch unterwerft, ist für sich genommen wohl harmlos. Die Leute aber, die euch da hinführen, haben einen Hintergedanken. Sie wollen euch zum Judaismus führen, und wenn ihr sie machen lasst, werden sie euch dort hineinschubsen“. Aber statt auf die Gefahr hinzuweisen, trägt er zum Erfolg der Judaisten bei, er macht sich zu ihrem Handlanger!

Es ist egal, dass diese Handlangerdienste auf einem Gebiet stattfinden, welches für den Glauben gleichgültig ist (dies ist eine Bemerkung Lagranges, der, wie bekannt, annimmt, dass die Schwachen keine Asketen aus Überzeugung seien). Paulus hat mit den Judaisten gemeinsame Sache gemacht, das heißt: er hat Unmögliches getan. Diese Feststellung nimmt der Theorie Lagranges ihre letzte Rückzugsstellung und macht sie zunichte.

Der Nachweis wurde geliefert, dass es den Exegeten nicht gelungen ist, das Kapitel XIV des Römerbriefes im Lebenslauf des Paulus einen Platz zu geben. Keiner ihrer Versuche übersteht den Härtetest. Man muss nach einer anderen Lösung Ausschau halten. Beginnen wir mit den Versen XVI, 17–18, die man als ein Licht betrachtet hat, welches das Kapitel XIV ausleuchten könne.

In Wirklichkeit stellt dieser Text uns vor zwei feindliche Schulen, von denen die eine die andere bezichtigt [71], und er ist das Manifest der anklagenden Schule.

Welche Bezichtigungen erhebt sie? Sie klagt ihre Rivalin an, diese praktiziere eine lasche Moral. Daraus können wir schließen, dass sie selbst eine rigoristische Moral vertritt. Sie wirft der anderen außerdem vor, Lehren zu verkünden, die im Gegensatz stehen zur „empfangenen Lehre“, worunter wir die von der anklagenden Seite verbreitete Lehre zu verstehen haben. Sie stellt fest, dass ihre eigenen Zöglinge von der Feindin umworben werden und ruft zur Wachsamkeit auf gegen die Propaganda um sie herum. Wir können sicher sein, dass sie selber genau so auf Eroberung aus war und dass auch sie auf Kosten der Nachbarin wachsen wollte. Dieses Schauspiel haben wir vor Augen. Es versteht sich von selbst, dass nichts von dem hat existieren können zur Zeit des Paulus, weil die Judaisten, die einzigen christlichen Gegner, mit denen Paulus es zu tun gehabt hat, hier nichts zu suchen haben. Eifrig bemüht, sich das Joch des Gesetzes aufzulegen, war an ihnen nichts von wollüstigen Leuten „Sklaven ihres Bauches“.

Versetzen wir uns jedoch in die Zeit um das Jahr 140. Da begegnen uns nun Christen mit lascher Moral und in Kontrast zu ihnen andere, die in großer Strenge leben. Diese feindlichen Brüder werfen sich gegenseitig vor, einer andern Lehre anzuhängen als derjenigen, die Christus auf die Erde gebracht hatte. Und jedes der beiden Lager beklagt sich über das Wildern des andern. Dieser Epoche gehört unser Text an. Hier seine Bedeutung: [72] „Seid auf der Hut vor den Katholiken! Sie versuchen, euch zu Überläufern zu machen, euch von uns wegzuziehen und in ihren Klan einzuverleiben. Ihre Lehre ist aber nicht die richtige, nicht jene, die ihr von uns bekommen habt. Und sie führen ein materialistisches Leben. Ihre Worte entsprechen ihren Sitten und schmeicheln den verwerflichen Instinkten. Lasst euch von ihnen nicht verführen und haltet sie auf Distanz“. Diese eifernde Ermahnung wurde selbstverständlich im Hause Marcions erstellt, und diejenigen, an die sie sich richtet, sind die Schäflein des Marcion.

Die Reform des Osterfestes

Ich komme zurück auf die Abhandlung des Kapitels XIV. Da wir nun wissen, dass dieser Text unmöglich von Paulus stammen kann, erweitert sich das Feld unserer Interpretationsmöglichkeiten. Wir haben nicht mehr nur die Judaisten im Blickfeld. Und wir sind auch nicht mehr dazu verurteilt, um jeden Preis an der Homogenität der Abhandlung festzuhalten. Wenn es unbezweifelbare Anzeichen für eine zweifache Redaktion gibt, brauchen wir die Augen nicht mehr zuzumachen, damit wir sie nicht sehen. Und an solchen Anzeichen fehlt es nicht. Ein Teil des Kapitels XIV (1–12) predigt die Freiheit und verlangt, dass niemand [73] die Freiheit des andern bekämpft. Der andere Teil (XIV, 13 – XV, 7) lehrt, dass das äußere Verhalten auf die Vermeidung von Ärgernis hin geregelt werden muss. Das Kapitel XIV enthält also tatsächlich zwei Abhandlungen, die  unterschiedliche Thesen vertreten. Die Gegensätzlichkeit der Thesen und folglich ihre Verschiedenheit lässt sich nicht leugnen. Die Schwierigkeit liegt darin, sie zu identifizieren, ihre jeweilige Zielsetzung genauer zu bestimmen.

Versuchen wir es zunächst mit der zweiten These. Es geht um Nahrungsmittel, um Ärgernis, um Frieden, um das Reich Gottes; um Nahrungsmittel, die man nicht essen darf, um Ärgernis, das man vermeiden, um den Frieden, den man wiederherstellen muss und darum, dass man sich nicht in die Gefahr begeben soll, das Reich Gottes zu verfehlen. Am einen Ende des Konfliktes stehen nur Nahrungsmittel, am andern jedoch steht das Reich Gottes selbst auf dem Spiel.

Was ist dieses Reich Gottes, welches nicht aus Speise und Trank besteht, sondern aus Gerechtigkeit und reiner Freude im Heiligen Geist? Handelt es sich um den Himmel, wie mehrere Kommentatoren meiner Meinung nach zurecht glauben? Oder handelt es sich doch nur um die christliche Lebensweise oder um die Kirche? In jeder denkbaren Hypothese besteht das Reich Gottes aus „Frieden“; es wird durch einen Zustand des Friedens konstituiert und setzt praktisch ausgeübte Friedfertigkeit voraus. Dieser Frieden ist momentan gestört. Unter welcher Bedingung kann er wiederhergestellt werden? Das wird nur möglich sein, wenn man das Ärgernis vermeidet, wenn man darauf verzichtet, die Brüder zu „betrüben“, wenn man damit aufhört, bestimmte Speisen zu sich zu nehmen.

[74] Die Situation ist ernst. Das ist ersichtlich aus der Heftigkeit, mit welcher der Autor die Störenfriede beschwört, von ihren Irrwegen abzulassen. Registrieren wir jedoch, dass er sorgfältig vermeidet, in seinem flammenden Aufruf einen verletzenden Ton durchklingen zu lassen. Die Gegner werden mit keinem der Verbalinjurien bedacht, die uns an anderer Stelle so oft begegnen. Der Frieden ist zutiefst gestört, und der Autor macht alle Anstrengungen, ihn wiederherzustellen[8][8]. Es gibt jedoch noch keine Kriegserklärung. Wir müssen nun in der Kirchengeschichte nach einer Situation suchen, die dieser Beschreibung entspricht.

Wir können selbstverständlich nur Vermutungen anstellen. Am plausibelsten scheint mir, dass unsere Abhandlung sich mit der Reform des Osterfestes befasst, die in der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts stattfand und die später in einen Streit zwischen den Asiaten und Rom ausartete.

Gewöhnlich sieht man in ihr nur eine Frage des Datums, aber es war tatsächlich auch eine des Fastens. Das wissen wir aus Irenäus, welcher in seinem Brief an Viktor[9][9] schreibt: „ In dieser Auseinandersetzung geht es nicht nur um den Tag sondern auch um die Art des Fastens. Die einen glauben nämlich, dass ein Fastentag genügt, andere wollen zwei und noch andere noch mehr“. Der Streit dauerte lange. Er wurde ernstgenommen, denn Viktor [75] ging so weit, die Asiaten aus der Gemeinschaft mit ihm auszuschließen. Das geschah aber erst in den letzten Jahren des zweiten Jahrhunderts. Bis dahin gab es keinen vollzogenen Bruch.

Unsere Abhandlung, die bis XV, 7 reicht, konstatiert die unterschiedliche Haltungen in Bezug auf das Fasten (mit Abstinenz verbunden) und die Streitereien, die daraus entstanden sind; und sie versucht für diesen bedauerlichen Zustand Abhilfe zu schaffen. Der Autor gehört der Gruppe der „Starken“ an (XV, 1). Das ist die Partei derjenigen, die dem Fasten keinerlei Bedeutung beimessen. Er möchte aber, dass die Starken die Schwachen schonen, nämlich diejenigen, die fasten. Er bittet sie darum, sich den Schwachen anzupassen und sich der Fastenpraxis zu unterziehen. Er bemüht sich darum, das österliche Fasten heimisch zu machen, welches als Neuerung von den Konservativen bekämpft wurde.

Er kümmert sich nicht um den richtigen Tag für die Osterfeier, sicherlich aus dem Grund, dass zu seiner Zeit und in seiner Umgebung der richtige Tag kein Problem war. Wenn er, was wahrscheinlich ist, in Rom schrieb, kann man daraus schließen, dass der von allen akzeptierte Ostertag der Sonntag war; denn wir wissen aus Irenäus’ Brief an Viktor, dass die römische Kirche bereits unter dem Pontifikat des Anicetus[10][10] Ostern  am Sonntag feierte. Somit war zu der Zeit, da XIV, 13 geschrieben wurde, die Verlegung des Osterfesttages in Rom ein von allen akzeptiertes Faktum.

[76] Das Fasten (mit Abstinenz) wurde von vielen Gläubigen, wahrscheinlich sogar von der Mehrheit, praktiziert. Es gab aber auch Gegner. Diese sahen sich selbst als starke Charaktere und bezeichneten die Fastenden als Schwächlinge. Obwohl der Autor zur Partei der Starken gehörte, hat er versucht, die Gegner der Schwachen zum Schweigen zu bringen.

Die erste Abhandlung, die von 1 bis 12 reicht, konstatiert ebenfalls Meinungsverschiedenheiten zum Thema Fasten und Abstinenz (das in 2 nicht erwähnte Fasten ist in der dort erwähnten Abstinenz inbegriffen). Sie konstatiert auch welche zu einem Thema, das sie den „Tag“ nennt. Sie kennt Gläubige, die nur Gemüse essen. Sie kennt aber auch welche, die einen Tag dem andern vorziehen, das heißt, sie ziehen einen bestimmten Tag in Betracht, während es für andere egal welcher Tag sein darf. Was hat es mit diesem Tag auf sich?

Lagrange antwortet: „Diese Meinungsverschiedenheit ist noch unklarer als die vorherige. Während Paulus seine persönliche Ansicht zur Frage der Speisen kundtut, kommt er auf den Disput über die Tage nicht zurück“.

Ich glaube, dass diejenigen, die einen bestimmten Tag allen andern vorziehen, die den Tag in Betracht ziehen, diejenigen sind, die Ostern ausschließlich am Sonntag feiern wollen; das wären dann die Neuerer. Diejenigen, denen jeder Tag gleichviel ist, sind die Konservativen, für die es bei der Osterfeier nicht auf den Wochentag ankommt, sondern nur auf den 14. Nissan, den Tag des jüdischen Osterfestes.

[77] Für uns sieht es so aus, dass auch sie einen bestimmten Tag allen andern vorziehen, denn sie legen die Osterfeier auf den 14. Nissan fest. Jedoch die Neuerer, die die Tradition ins Wanken gebracht haben durch ihre grundsätzliche Wahl des Sonntags als des einzig möglichen geeigneten Wochentags für die Osterfeier, haben die Kontroverse auf diese Ebene gebracht: kann man Ostern an egal welchem (Wochen-)Tag feiern, oder muss man einem bestimmten (Wochen-) Tag das Monopol an diesem Fest zugestehen[11][11]?

Als dieses geschrieben wurde, hat im Umkreis des Autors die Verknüpfung der Osterfeier mit dem  Sonntag schon ansatzweise funktioniert; die Zeit hatte aber noch nicht ausgereicht, sie überall durchzusetzen. Zwar hat die Reform ihre Anhänger, aber auch die Tradition hat die ihrigen, die das Fest am 14. Nissan feiern, egal auf welchen Wochentag dieser auch fallen möge. Wenn unsere Abhandlung römischen Ursprungs ist, was wahrscheinlich ist, kann man sie um das Jahr 140 herum datieren, weil, als um 155 Polycarp die Kirche in Rom besuchte, die Feier des Ostersonntags da schon der Brauch war. Unsere Abhandlung wäre also etwa zwanzig Jahre älter als die von XIV, 13 – XV, 7, welche davon ausgeht, dass der 14. Nissan in Rom ganz abgeschafft war.

Beide Bräuche vorfindend, sowohl den des Sonntags wie auch den des 14. Nissan, versucht der Autor nicht, einen von beiden abzuschaffen: er fordert für beide die freie Ausübung. Die gleiche Haltung zeigt er auch in der Frage des Fastens. Er erlangt die Einhaltung des Fastens und die Abstinenz nicht als allgemeine Regel, wie es später der Autor der zweiten Abhandlung tun wird. Er möchte nur, dass man sich nicht gegenseitig verachtet und verurteilt. Seine Devise lautet: „Vertragt euch, seid tolerant miteinander; jeder soll nach eigenem Gutdünken verfahren“.

Versuchen wir einen Überblick über das Ganze:

Bis ungefähr 140 wurde das christliche Osterfest am gleichen Tag gefeiert wie das jüdische, nämlich am 14. Nissan.

Zu der Zeit verändert eine Gruppe Gläubiger der Kirche Roms das Festdatum und verlegt es auf den darauffolgenden Sonntag. Die gleiche Gruppe führt den Brauch des vorbereitenden Fastens ein. Diese doppelte Reform bringt Aufregung mit sich. Die Neuerer, anfangs nur eine Minderheit, verurteilen die widerspenstige Mehrheit und erheben wahrscheinlich (es findet sich so nicht im Text) die Beschuldigung, diese sei in der Wagenspur des Judentums steckengeblieben. Die Mehrheit verspottet die Neuerer; sie verspottet deren Sonntagsostern und auch deren Fasten (begleitet von Enthaltung); sie behandelt sie als „schwache“ Charaktere.

Daraufhin verkündet Paulus durch die Feder eines posthumen Sekretärs die Anordnung von XIV, 1–12. Im Grunde ist er der Ansicht der Konservativen und sieht auch, dass die Neuerer „Schwache“ sind. [79] Aber er will vor allem, dass in der Gemeinde Frieden herrsche. Er setzt fest, dass ein jeder nach eigenem Gutdünken verfahren könne. Nur solle man damit aufhören, zu verdächtigen, zu verurteilen, zu beleidigen.

Fünfzehn bis zwanzig Jahre später hat die Situation sich geändert. Der Ostersonntag hat den 14. Nissan besiegt (wir sind immer noch in Rom). Die Vorgesetzten haben vollständig gebrochen mit dem jüdischen Brauch, wie die Antwort des Anicetus an Polykarp beweist. Der Erfolg des Fastens war nicht ganz so durchschlagend. Zwar hat sich die Mehrzahl der Gläubigen nach und nach dieser Vorschrift gebeugt. Einige Konservative jedoch verweigern sich dem neuen Brauch mit dem Argument, alle Speisen seien vor Gott gleichermaßen rein.

Der Apostel Paulus veröffentlicht dann eine neue Anordnung (XIV, 13 – XV, 7). Auch jetzt noch ist er im Grund der Meinung der Konservativen. Wie sie hält er alle Speisen für gleichwertig vor Gott. Da ja nun aber das Fasten (mit Abstinenz) von der Mehrheit der Gläubigen praktiziert wird, verursacht die separatistische Haltung der Konservativen Unruhen wegen der Irritationen, die sie provoziert. Sie schaffen es sogar, einige Leute aus der Mehrheit dazu zu bringen, ihrem Beispiel zu folgen. Aber da diese Schwachen gegen das eigene Gewissen handeln, sündigen sie dann. Also sollen sich doch,   um des Friedens willen und um das Heil der Seelen nicht zu gefährden, die Konservativen der Mehrheit angleichen!

Beide Schiedssprüche tragen den Stempel des Leiters [80] der Gemeinde, der sich darum kümmert, Ordnung und Frieden unter seinen Schäfchen aufrecht zu erhalten. Wenn wir zurecht von einem römischen Ursprung ausgehen, können wir sagen, dass der eine wie der andere –mit einem Zeitabstand von etwa zwanzig Jahren– redigiert wurde von einem römischen Bischof oder von jemandem, der mit einem solchen unter einer Decke steckte[12][12].

Die Osterfestreform ist ohne diese Schiedssprüche zustande gekommen und hat sich ohne sie entwickelt; sie haben sie nur kanalisiert, um sie daran zu hindern, zum Keim für Zerstörung ringsum zu werden.

Um die Bedeutung der Reform zu verstehen, müsste man wissen, wie das christliche Osterfest vor der Osterreform gefeiert wurde. Wissen wir das? Können wir Informationen darüber finden? Befragen wir den Brief des Polycrates an Viktor und den Text von 1 Kor., V, 7–8. Vielleicht finden wir einige Hinweise.

Polycrates (Eusebius, V, 24, 2 und 6) sagt: „Wir feiern den Tag genauestens, fügen nichts hinzu, lassen nichts weg…. meine Eltern haben stets den Tag gefeiert, an dem das Volk den Sauerteig entfernte“. Und in 1 Kor., V, 7-8 liest man: “wie ihr ja bereits ungesäuert seid! Denn auch unser Passalamm, Christus, ist geschlachtet. Darum lasst uns Festfeier halten, nicht mit altem Sauerteig, auch nicht mit Sauerteig der [81] Bosheit und Schlechtigkeit, sondern mit Ungesäuertem der Lauterkeit und Wahrheit!“.

Polycrates rühmt sich „den Tag“ zu feiern, das heißt den Tag, den die Tradition festgesetzt hat für die Osterfeier, der „vierzehnte Tag“, wie er etwas weiter sagt. Er rühmt sich, ihn zu feiern, „ohne ihm irgendetwas hinzuzufügen, ohne irgendetwas wegzulassen“. Worauf zielt er mit diesen Worten? Was er nicht hinzufügt, das ist wahrscheinlich das Fasten (von Abstinenz begleitet), das die Neuerer eingeführt hatten. Was er nicht weglässt, oder wenigstens eine Sache, die er nicht weglässt, ist mit Sicherheit der Brauch des ungesäuerten Brotes, denn er erklärt, dass er das Osterfest feiert an dem Tag, an dem das Volk auf fermentiertes Brot verzichtet. Somit umfasst bei ihm und bei den Asiaten, die mit ihm einer Meinung sind, die christliche Osterfeier am 14. Nissan die Enthaltung von fermentiertem Brot und die Verwendung von Ungesäuertem. Und dieses Ostern ist das traditionelle christliche Ostern, das Ostern, wie es die berühmtesten Bischöfe Asiens immer gefeiert haben, welches so zu erhalten Polycrates sich entschlossen zeigt trotz der Neuerer, die es abschaffen wollen.

Nun wurde ja auch das jüdische Osterfest am 14. Nissan gefeiert, auch dieses enthielt den Brauch des ungesäuerten anstelle des verbotenen fermentierten Brotes. Daraus folgt, dass das christliche Ostern in mindestens zwei Punkten mit dem jüdischen übereinstimmte: das gleiche Datum und die gleiche Sorgfalt, fermentiertes Brot zu vermeiden.

[83] Das haben wir von Polycrates erfahren. Befragen wir jetzt den Text von 1 Kor., V, 7–8. Dieser stammt nicht von der konservativen Partei. Es ist im Gegenteil die Antwort der Neuerer. Um ihn richtig zu verstehen, muss man ihn mit den Einwänden vervollständigen, die er beantwortet.

„Während des Osterfestes dürfen wir nur Ungesäuertes essen; das ist die Tradition, von der wir nicht abweichen dürfen“. — „Das Ungesäuerte, das sind die Christen, das seid ihr“. — „Wir müssen das Osterlamm schlachten und essen“. — „Unser, der Christen Osterlamm, ist Christus. Hört also damit auf, ein Lamm zu schlachten und es zu essen, wie es die Juden tun. Gedenkt der Opferung Christi: darin besteht für Christen der Ritus des Osterlammes“. — „Wir dürfen nicht nur kein fermentiertes Brot essen während des Osterfestes, sondern wir dürfen nicht einmal den alten Sauerteig aufbewahren“. — „Einverstanden. Lassen wir den alten Sauerteig verschwinden. Der alte Sauerteig aber, das ist der Sauerteig der Bosheit und Schlechtigkeit. Lasst uns das Fest feiern mit dem ungesäuerten Brot der Reinheit“.

In diesem Dialog geht es auch um das Osterlamm. Die Konservativen führten vermutlich den Text von Exodus, XII, 21 an. Ihr Einwand lautete: „Gott selber hat angeordnet, das Osterlamm zu schlachten und zu essen, denn es steht geschrieben im Buch Exodus (Version der Septuaginta): „Schlachtet das Osterlamm“. Worauf dann die Neuerer mit dem gleichen Exodus-Text antworteten in der leicht geänderten Fassung (Aorist statt Imperativ): „Das Osterlamm ist geschlachtet worden“ (diese Antwort ist es, die zur Annahme berechtigt, dass die Gegner sich auf das Buch Exodus beriefen). Aber sie gaben die Erklärung dazu, dass das christliche Osterlamm, das unsere, Christus sei, und dass dieses Lamm, da bereits geschlachtet, nicht noch einmal geschlachtet werden müsse.

Uns interessiert aber im Moment weniger die Antwort als der Einwand. Er beweist, dass die Konservativen am Abend des 14. Nissan das Osterlamm schlachteten und es anschließend verspeisten. Zweifelsohne war es vor allem das Osterlamm, an das Polycrates dachte, als er erklärte, vom „Tage“ „nichts weglassen“ zu wollen. Da nun der Ritus des Osterlammes an der Basis der jüdischen Osterfeier lag, muss man schließen, dass die ursprüngliche christliche Osterfeier in allem mit der jüdischen konform war.

Dieses archaische Osterfest blieb in Asien während des ganzen zweiten Jahrhunderts in Kraft; es ist nicht bekannt, wann es verschwand. In Rom gelang es den Neuerern etwa ab 150, es abzuschaffen; das Fasten, mit den ihm entgegenstehenden Problemen, war eine zusätzliche Streitfrage.

Wer waren die Neuerer? Wir können jetzt ihre Leistung einschätzen, da wir jetzt die ursprüngliche christliche Osterfeier kennen. Das Ergebnis ihrer Reform bestand darin, dass der judaistische Ritus, der bis zu ihrem Auftreten in der Kirche konserviert worden war, nun ausgeschlossen wurde. Vor ihrer Zeit [84] war das christliche Ostern ganz einfach das jüdische Ostern. Danach war es etwas anderes, hatte einen andern Charakter bekommen. Das ist das Ergebnis. Hat man es angestrebt, es so gewollt? Wer könnte das Gegenteil annehmen? Wer wird glauben, dass es Leute gab, die das Band der Kirche mit dem Judentum durchschnitten ohne zu wissen, was sie taten? Die Neuerer des Osterfestes haben im Wissen um die Tragweite des Vorhabens gehandelt. In ihrem Projekt der Entjudaisierung wurden sie von einem Motiv geleitet, das nichts anderes als Hass gewesen sein kann. Diese Zerstörer des judeo-christlichen Osterfestes waren Feinde des Judentums.

Anderseits führten sie ein Leben in Askese und Selbstkasteiung, denn sie haben  der Stiftung des christlichen Osterfestes zeitgleich ein vorbereitendes Fasten beigefügt. Uns bleibt nur noch, in der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts Leute aufzufinden, die sowohl Feinde des Judentums als auch Asketen waren.

Diese Leute kennen wir schon lange: es sind die Marcioniten. Die Osterreform ist das Werk der marcionitischen Schule. Eingeführt wurde sie in die römische Kirche vor der Verurteilung Marcions, also vor 144. Die beiden Abhandlungen von XIV – XV, 7 beschäftigen sich mit den Problemen, die diese Reform in der römischen Kirche aufgeworfen hat; sie haben nichts zu tun mit den späteren Auseinandersetzungen zwischen Asiaten und Römern in dieser Angelegenheit.

 [85] Die Grußbotschaften

Die Grußbotschaften des Kapitels XVI bestehen aus zwei Gruppen. In der einen (3–16) finden wir die von Paulus selbst geschickten Grüße. Die andere (21–23) enthält Grüße, die von den Begleitern des Paulus geschickt werden. Zu diesen kann man die Anempfehlung der Phoebe durch Paulus hinzufügen (1–2)

Als integrierte Bestandteile des Römerbriefes betrachte ich problemlos die Grüße der Paulusbegleiter Timotheus, Lucius, Jason, Tertius, Gajus und Erastus (21–23). Paulus hat möglicherweise seine Gefährten um ihre Unterschrift gebeten, um sich den Römern mit einer Eskorte präsentieren zu können, zu der Gajus gehörte, die bedeutendste Persönlichkeit der Gemeinde von Korinth, denn in seinem Haus fanden die Gemeindeversammlungen statt. 1–23 gehört also zum Römerbrief. Dasselbe gilt für die Anempfehlung der Phoebe durch Paulus (1–2), eine Empfehlung, die sich leicht erklären lässt durch die Annahme, diese Frau sei die Überbringerin des Briefes an seine Adressaten gewesen.

So steht es nicht um 3–16, wo die von Paulus namentlich Genannten und Gegrüßten aufgelistet sind. Zunächst kommen [86] Prisca und Aquila, die ein paar Monate vorher in Ephesus waren. Man sagt uns, sie könnten zwischenzeitlich nach Rom zurückgekehrt sein, von wo sie durch das Edikt des Claudius verbannt gewesen wären. Einverstanden. Aber wie hätte Paulus Kenntnis davon bekommen, dass sie eine Gruppe von Christen bei sich zu Hause zusammenkommen ließen (5)?

Nach Prisca und Aquila werden dreiundzwanzig Personen genannt und dann noch vier als Kollektiv erwähnte Gruppen. Bei einer solchen reichhaltigen Liste fragt sich der Leser, wie Paulus so viele Christen kennen konnte in einer Stadt, wo er noch nie gewesen war.

Man erklärt uns, diese Römer seien Griechen oder Asiaten –darunter ein paar Juden–, welche Paulus in Korinth, Thessaloniki oder anderswo kennen gelernt habe, und die sich inzwischen in Rom niedergelassen hätten. Diese Erklärung kann nicht alle Fälle umfassen.

Nehmen wir zum Beispiel „die vom Haus des Aristobul“ oder „die vom Haus des Narzissus“. Es handelt sich dabei um Sklaven, die nicht emigrieren könnten, es sei denn, mit ihren Herren zusammen. Wenn Aristobul und Narzissus zur Zeit der Abfassung des Römerbriefs in Rom wohnen, dann schon seit langer Zeit. Und es ist nicht ersichtlich, wie Paulus ihre christlichen Sklaven oder auch nur diese zwei Personen selber hat kennen können.

In anderen Fällen ist die Emigrantenhypothese zwar nicht absolut unmöglich, aber doch unwahrscheinlich. [87] Nehmen wir „Asynkritus, Phlegon, Hermes, Patrobas, Hermas und die Brüder bei ihnen“. Es geht hier offensichtlich um Männer, die in Gemeinschaft leben[13][13]. Besser gesagt, sie wohnten zusammen, als Paulus ihnen entweder in Griechenland oder in Asien begegnete. Eines Tages dann wären sie alle zusammen nach Rom gezogen.

Ist eine solche kollektive Emigration wahrscheinlich? Wie weiß Paulus überhaupt, dass diese Gefährten sich seit ihrem Eintreffen in Rom nicht getrennt  haben und immer noch zusammenleben? Derselbe Einwand trifft auch „Grüßt Philologus und Julia, Nereus und seine Schwester und Olympas und alle Heiligen bei ihnen“, mit dem erschwerenden Umstand, dass es sich hier auch um Frauen handelt.

Kurz gesagt: während Paulus den Römerbrief schreibt, konnte er von der Christengemeinde in Rom nur vor kurzem aus Griechenland und Asien abgereiste Emigranten kennen; und von den Lebensumständen dieser Emigranten nach ihrer Abreise zur Hauptstadt des Kaiserreiches konnte er nichts wissen. Er grüßt aber Leute, die nicht hätten emigrieren können; er weiß außerdem, was aus mehreren Personen seit ihrer angeblichen Emigration geworden ist. Aus diesen Prämissen folgt, dass die Grußadressen von 3–16 sich nicht an Christen richten, die sich zu der Zeit in Rom aufhielten.

[88] Wir sollten daraus nicht den Schluss ziehen, dass diesen Grüßen jede Authentizität fehlt. Sie stammen von Paulus, denn zu welchem Zweck hätte ein Fälscher sie fabriziert? Nur sind sie an eine Gemeinde gerichtet, in der er selbst sich aufgehalten hatte, deren Mitglieder er alle kannte, die er erst vor kurzem verlassen hatte. Welche Gemeinde war das?

Aquila und Prisca waren hervorragende Mitglieder, denn es fand eine Versammlung in ihrem Haus statt. Wir wissen nun aus Apostelgeschichte, XVIII, dass dieses Paar sich nach einem vorübergehenden Aufenthalt in Korinth in Ephesus niedergelassen hatte.

Epainetus gehörte dazu, und er war der erste, der in der Provinz Asien für das Christentum gewonnen worden war. Die bedeutendste Stadt Asiens war nun gerade Ephesus. So kommt man zu der Annahme, die Grußadressen von XVI, 3–16 seien gerichtet an die Kirche in Ephesus, also dorthin, wo Paulus sich lange Zeit aufgehalten hatte.

So kommt man notwendigerweise zur Frage, wie dieser Text an der Stelle gestrandet ist, wo er sich befindet. Vor der Beantwortung dieser Frage halten wir noch inne beim Imperativ: „Grüßt“. Wem gilt dieser Auftrag? Wer soll ihn ausführen?

Als einzig mögliche Lösung muss man sagen, der Imperativ „Grüßt“ richte sich an Leute, die Paulus verlassen mit Ephesus als Ziel. In der Stadt, wo er sich im Moment befindet, bereiten sich einige Gläubige auf eine Reise nach Ephesus vor. [89] Er bittet sie, die Christen jener Stadt zu grüßen. Um dieser Bitte ein größeres Gewicht zu geben, schreibt er sie nieder und zählt die zu grüßenden Personen namentlich auf.

In Ephesus angekommen, stellen die Reisenden sich der dortigen christlichen Gemeinde vor und zeigen den bewussten Zettel als Beweis für die Epheser, dass Paulus sie nicht vergessen hat. Die Kirche in Ephesus bewahrt dieses Erinnerungsstück als „Brief“ auf.

Als später auf marcionitisches Betreiben die (authentische und die fiktive) Paulinische Literatur Wertschätzung bekommt, nimmt man jenen „Brief“ an die Epheser mit in die Sammlung auf. Da der Zettel aber zu banal ist, um ihn als selbständige Epistel zu bezeichnen, wird er dem Römerbrief zugeschlagen.

 Das ewige Zweiten hindurch verschwiegene Geheimnis [15][14]

Übrig zur Behandlung bleibt noch der Text von XVI, 25–26 mit dem Inhalt: „des Geheimnisses, das ewige Zeiten hindurch verschwiegen war, jetzt aber offenbart und durch prophetische Schriften nach Befehl des ewigen Gottes [90] zum Glaubensgehorsam an alle Nationen bekanntgemacht worden ist“.

Das „Geheimnis“, um das es hier geht, ist das Auftreten des Sohnes Gottes, sein Kommen auf die Erde, sein Aufenthalt unter den Menschen, gefolgt von seiner Rückkehr in den Himmel nach der Vollendung seines Heilswerkes.

Dieses Geheimnis war „verschwiegen“, das heißt, dass keinerlei Mitteilung darüber je an die Menschen ergangen war. Von wem war dieses Geheimnis „verschwiegen“ worden? Von demjenigen, der es als einziger hätte veröffentlichen können, also von Gott selber.

Dann jedoch, nachdem er es  „ewige Zeiten hindurch“ verschwiegen hatte, hat Gott sich dazu entschlossen, es aufzudecken. Das Geheimnis wurde also „jetzt aber offenbart“. Wie wurde es aufgedeckt? Durch das Kommen Christi, der sich den Menschen bekannt gemacht hat, der den Menschen seinen Vater bekannt gemacht hat, der ihnen das Heil gebracht hat, der anschließend wieder in den Himmel aufgestiegen ist. Bis jetzt war das Geheimnis „verschwiegen“; „jetzt“ aber ist es aufgedeckt worden.

Was sollen hier die „prophetischen Schriften“? Sie haben das christliche Geheimnis „bekanntgemacht“. Wie haben sie es bekanntgemacht?

Sie haben die wichtigsten Ereignisse des Lebens Jesu prophezeit, namentlich seine Passion und seine Auferstehung. Durch diese Prophezeiungen haben sie bewiesen, dass Leben und Werk Jesu gemäß den Dekreten der Vorsehung abgelaufen sind. Zugleich haben sie damit bewiesen, dass Jesus mit einer [91] göttlichen Mission beauftragt war. Auf diese Art haben sie das christliche Geheimnis „bekanntgemacht[16][15]“.

Das Alte Testament hat also das christliche Geheimnis prophezeit und, da prophezeit, auch „bekanntgemacht“. Das wirft aber ein gewaltiges Problem auf. Wenn das Geheimnis durch das Alte Testament prophezeit wurde, wie ist es dann bis „jetzt“ „verschwiegen“ worden? Und wie will man erklären, dass es „jetzt“ erst „aufgedeckt“ wurde? Das Problem ist unlösbar.

Keinerlei Übereinstimmung ist möglich zwischen dem „durch die prophetischen Schriften“ „aufgedeckten“ Geheimnis und dem „jetzt aufgedeckten“ Geheimnis, welches „durch ewige Zeiten hindurch verschwiegen“ war. Das durch das Alte Testament aufgedeckte Geheimnis –das heißt das prophezeite, denn das ist der Sinn des Wortes– ist nicht „jetzt“ –sprich: zur Zeit Christi– aufgedeckt worden. Das „jetzt“ aufgedeckte Geheimnis ist nicht in den Büchern des Alten Testaments prophezeit worden. Die beiden Gedanken widersprechen sich, und der Text, in dem sie nebeneinander stehen, ist nicht kohärent. Wir müssen die Erklärung für diese Inkohärenz finden. Zwei Hypothesen sind möglich: Nachlässigkeit oder Retuschierung.

Nachlässigkeit hat nicht zu leugnende Spuren in den Paulinischen Episteln hinterlassen. Hier liegt aber keine langwierige Argumentation vor, wobei der Autor irgendwann den [92] Durchblick verloren hätte und ins Abschweifen geraten wäre. Es liegen zwei eindeutige Behauptungen vor, die sich gegenseitig ausschließen. Für so etwas sollte man nicht Nachlässigkeit verantwortlich machen. Man kann es nur einer Retuschierung zuschreiben.

XVI, 25–26 ist das Werk von zwei Autoren. Der eine hat, ohne an Böses zu denken, an dieser Stelle seine Theorie von der Verbreitung des christlichen Geheimnisses formuliert. Der spätere andere war voller Respekt vor diesem Text, den er dem Apostel Paulus zuschrieb. Aber ihn beunruhigte die Lehre, die sich darin zu zeigen schien, und er hielt es vor seinem Gewissen für nötig, eine Glosse einzufügen. Er beabsichtigte nur eine erklärende Glosse, aber in Wahrheit stellte sie alles auf den Kopf. Es geht jetzt nur noch darum, den Ort der Glosse zu erkennen.

Es ist evident, dass man sie dort suchen muss, wo diejenige Doktrin formuliert ist, die am Ende obsiegte und der das Siegel der Orthodoxie aufgedruckt wurde, denn eine Interpolation, die man für häretisch hielt, hätte sich nicht durchsetzen können. Was sich aber durchgesetzt hat, was mit dem unauslöschlichen Siegel der Orthodoxie versehen wurde, das ist die Theorie der messianischen Prophezeiungen im Alten Testament. Von da aus ist es ein Leichtes, das relative Alter der beiden Redaktionen unseres Textes festzustellen.

Das erstgekommene ist das Geheimnis „durch ewige Zeiten hindurch verschwiegen“ und „jetzt aufgedeckt“. Woher kommt es? Wer hat es hierher gebracht? Vor der Mitte des zweiten Jahrhunderts sehen wir das Aufkommen einer Lehre, derzufolge Christus gekommen sei, [93] Wahrheiten zu offenbaren, die bis zu seiner Ankunft den Menschen total unbekannt gewesen seien. Dies ist Marcions Lehre[17][16]. Der Text XVI, 25–26 ist eine marcionitische Aussage, die später von einem Katholiken korrigiert wurde.

 [93] Umfassender Überblick

Paulus, der schwere Händel mit den Judenchristen Jerusalems hat, ist zu Ohren gekommen, dass die jüdische Kolonie  in Rom eine Gruppe von Christen umfasst. Er schreibt diesen ihm unbekannten Brüdern in der Hoffnung, ihre Sympathie zu gewinnen und von ihnen Unterstützung gegen seine Widersacher zu bekommen.

Im Wissen, dass man, um zu einem Ziel zu kommen, die dafür notwendigen Mittel einsetzen muss, umschmeichelt er die Römer, und erwähnt selbstgefällig die Sammlung, die er für die „Heiligen“ in Jerusalem organisiert hat.

Es ist klar, dass er den Streit mit diesen „Heiligen“ nicht verschweigen kann. Diese behaupten nämlich, dass man, um teilhaben zu können an der Abraham gegebenen Verheißung, Sohn Abrahams im eigentlichen Sinne sein muss, das heißt, von diesem Patriarchen auf dem Wege der Zeugungsabfolge abstammen muss. Er seinerseits anerkennt, dass nur die Kinder Abrahams teilhaben werden an der  Verheißung, [94] mit der dieser große Patriarch von Gott bedacht wurde; er meint aber, dass der Rechtstitel eines Kindes Abrahams auf den Glauben an die Auferstehung Christi und nicht auf die geschlechtliche Abstammung beruht. Er führt selbstverständlich den Nachweis, dass nur er selbst im Recht ist, und dass seine Gegner total im Irrtum sind betreffs der erforderlichen Bedingungen für die Teilhabe an der Abraham gegebenen Verheißung.

Bleiben wir uns dabei bewusst, dass das Abraham gegebene Versprechen, sowohl seinem Inhalt als auch seiner Existenz nach, außerhalb des Konfliktes steht. Man ist sich einig im Glauben, das dem gemeinsamen Vater der Israeliten ein göttliches Versprechen gegeben wurde; man ist sich auch einig über dessen Inhalt. Der Konflikt entsteht erst, wenn es darum geht, die erforderlichen Bedingungen anzugeben, die zur Teilnahme an der Abraham versprochenen Wohltat berechtigen. Und da es nun einmal diese Bedingungen sind und nichts anderes, die zur Meinungsverschiedenheit geführt haben, kümmert sich Paulus kaum um etwas anderes und vergisst nahezu uns über den Inhalt der Verheißung zu informieren.

Zum guten Glück vergisst er es nicht ganz. Er teilt uns mit, dass Gott Abraham die Weltherrschaft versprochen hat. Zugleich teilt er  uns mit, dass der Christus, beauftragt mit der Verwirklichung dieses Versprechens, die Mission hat, die Feinde Gottes zu zermalmen und auf Erden das Königreich Israels aufzurichten, das Königreich des wahren Israel, dem alle diejenigen angehören werden, die an seine Auferstehung glauben. Das ist im Wesentlichen der Brief des Paulus, der schließt mit der Empfehlung [95] Phoebes, woran die Grüße der Leute aus Paulus’ Umgebung angefügt sind.

In diesem Zustand blieb der Römerbrief etwa achtzig Jahre. Um 140 bemächtigten sich die Marcioniten seiner und besorgten eine erweiterte Ausgabe mit folgenden Gedankengängen: „Als Folge der Sünde des ersten Menschen, waren alle Menschen Sünder insofern, als ihr Leib ein Leib der Sünde war, eine Sünden produzierende Maschine. Als Sünder der Sünde unterworfen, waren sie Feinde Gottes. Gott aber hat die Menschen geliebt, auch wenn sie seine Feinde waren, und er hat beschlossen, sie ihrem Unglück zu entreißen. Um diese Absicht zu verwirklichen hat er seinen Sohn auf die Erde geschickt in der Ähnlichkeit mit unserem sündigen Fleische. Dieser Sohn hat den Anschein des Todes erlitten, aber er ist voller Leben wieder erschienen. Und dann passiert Folgendes: Durch die Taufe wird der Christ wie ein Reis Christus aufgepfropft, er nimmt Teil am Tode Christi und an der Auferstehung Christi. Er stirbt; er zahlt also den Tribut, den er als Sünder dem Tode schuldet; er ist dem Tod nicht mehr unterworfen, da er ihm seine Schuld abbezahlt hat. Er steht wieder auf, jedoch zu einem neuen Leben, einem Leben, welches nichts gemein hat mit dem, welches der Leib der Sünde ihm verschaffte. Ihm obliegt es nun, dieses Leben getreu zu bewahren; es obliegt ihm, sich in Erinnerung zu rufen, dass sein Leib der Sünde tot ist und dass er nicht mehr  dessen Sklave sein soll. Wenn er diese Linie einhält, wird er eines Tages von seinem Leibe befreit werden, und dann wird er die Gotteskindschaft bekommen, die Kindschaft, die das Objekt ist der Seufzer [96] der Kreatur, die der eitlen Leere unterworfen ist durch den Willen dessen, der sie unterworfen hat.

Angereichert mit dieser hohen Theologie sind die Empfänger des Römerbriefes nicht mehr die Judenchristen Roms, sondern Christen heidnischen Ursprungs. Um die Bedeutung seiner Lehren aufzuzeigen, präsentiert er sie als die völlig neue Offenbarung eines von aller Ewigkeit her verborgenen Mysteriums; und diese Mitteilung konstituiert den Schluss des Briefes. Dieser Schluss steht einem dogmatischen Lehrstück besser an als die gewöhnlichen Grußformeln, die ursprünglich am Ende des Briefes standen.

Fügen wir noch hinzu, dass sein Christus der oberste Gott ist, der selber auf die Erde gekommen ist, um die Menschen zu befreien. Warum wird er dann Sohn Gottes genannt? Aus Respekt vor der Tradition. Es war seit langem üblich, Jesus als Sohn Gottes zu bezeichnen. Die marcionitische Schule konnte sich nicht gegen den allgemeinen Brauch auflehnen. Sie hat also die überkommene Bezeichnung beibehalten. Sie hat sie jedoch nur um den Preis einer unentwirrbaren Schwierigkeit beibehalten können. Der Christus der Tradition, einfacher Sterblicher wie wir auch, jedoch von Gott mit der Mission beauftragt, das Königreich Israels aufzurichten, war nach Meinung der einen Gottes Sohn in der gleichen Weise wie der Makkabäerfürst, dem Gott im Psalm II zuspricht: „Du bist mein Sohn“. Für andere verdankte er seine Sohnschaft seiner göttlichen Empfängnis. Die eine wie die andere Interpretation ergaben für die Mentalität der Epoche einen klaren Sinn. Aber wie sollte man verstehen, dass der allerhöchste Gott, indem er zur Erde kam, Sohn Gottes wurde?

[97] Mit seinem allerhöchsten Gott, gleichzeitig Gottes Sohn, hat die marcionitische Schule ein Rätsel in die Theologie eingeführt, das die Doctores in einen Abgrund von Unsinn stürzen sollte oder in alberne Kindereien. Ihre eigene Problemlösung bestand darin, dass der Gottessohn aus dem ätherischen Leib konstituiert wurde, mit den Gott sich bekleidet hatte, um auf die Erde zu kommen.

Die marcionitische Edition transportierte mit einem mächtigen Flügelschlag den Römerbrief in die himmlischen Regionen und machte aus einem politischen Manifest ein Erbauungs- und Ethiktraktat. Anderseits verschonte sie sorgfältig die Vorurteile der öffentlichen Meinung und ließ den Bösen Gott, dessen Untaten sie anschaulich darstellte, diskret im Halbdunkel. So schlich die marcionitische Edition sich in die katholische Liturgie ein.

Erst einige Jahre später, nachdem der Marcionismus verurteilt worden war, kam die Gefährlichkeit einiger ihrer Textstellen zum Vorschein und es erwies sich als notwendig, Erläuterungen zu geben.

Die Katholische Kirche übernahm diese Aufklärungsarbeit mittels hier und da in den Text eingestreute Glossen, ohne sich im geringsten um den Zusammenhang der Gedankenführung zu kümmern. Falls sie in einem Zug erledigt wurde, war diese Interpretationsarbeit nur eine der vielfältigen Zielsetzungen, denn aus ihr gehen hervor: die montanistischen Texte; die Abhandlungen über die Verderbtheit der Heiden; über die Judenchristen; über die schlechten Katholiken; über das Osterfest; über den Respekt gegenüber der Obrigkeit.

Es ist jedoch wahrscheinlich, dass die katholische Edition [98], wie wir sie heute kennen, das Resultat mehrerer sukzessiver Redaktionen ist. Die erste hätte dann kein anderes Ziel gehabt als die marcionitische Edition zu glossieren, um sie zu neutralisieren. Die Abhandlungen und der montanistische Beitrag gehören einer oder zwei späteren Redaktionen an.

 

[1] Cfr. Origenes, In epistolam ad Romanos, X, 14.

[2] Siehe auch Exodus,IV, 22.

[3] Cfr. Lagrange, Epître aux Romains, S. 254.

[4] Siehe oben S. [12]

[5] Die gleiche Herkunft muss auch dem Vers 21 b (die Gerechtigkeit Gottes, bezeugt durch das Gesetz und die Propheten) zugeschrieben werden.

[6] L’Epître aux Romains, p. 338-9

[7] Anmerkung des Übersetzers: ich sehe keinen relevanten Bedeutungsunterschied zu der hier der Revidierten Elberfelder entnommenen Version.

[8]  XIV, 19. Ich glaube, das Verb sollte wie in der Vulgata im Imperativ stehen. Jedoch auch der Indikativ, den viele moderne Kommentatoren voraussetzen, ergibt das gleiche Resultat.

[9]  Eusebius, Historia ecclesiae, V, 24, 12.

[10]  Um 155 fand Polykarp die Sitte des Ostersonntags in Rom schon vor.

[11]  50 Jahre danach, wenn Polycrates seinen Brief an Viktor schreibt (siehe weiter im Text), sagt er, dass er selbst und die Asiaten am traditionellen Tag festhalten, also am 14. Nissan; zu der Zeit hat die Reform des Jahe 140 gesiegt. Die Asiaten sind in die Minderheit geraten, wie es die Neuerer um 140 waren.

[12]  Nichts steht der Hypothese im Wege, dass es derselbe Bischof gewesen sei, der mit einem Intervall von zwanzig Jahren unter Paulus’ Namen zwei Gesetzesvorschriften erlassen hätte, wie sie ihm für die jeweiligen Umstände als richtig erschienen wären; in  diesem Fall müsste man an Anicetus denken.

[13]  Lagrange schreibt: “Man müsste davon ausgehen, dass diese fünf Personen eine Gruppe bilden, denn andere, weniger bekannte, waren bei ihnen.

[14]  Dieses Kapitel war seit langem abgeschlossen, als ich die gleichen Schlussfolgerungen auch fand im Buch von Harnack, Marcion, das Evangelium vom fremden Gott, Seite 146.

[16]  Alle diese Schriften gehören selbstverständlich dem Alten Testament an, und es wäre lächerlich zu glauben, dass eine oder mehrere neutestamentliche Schriften gemeint sein könnten.

[17] Siehe H. Delafosse, Le quatrième Evangile, S. 31.