Simon von Samarien

Wer ist oder war Simon Magus?

Von Robert Price, Übersetzt von Hermann Detering

Er erscheint plötzlich wie eine bereits längst bekannte Gestalt in einer Reihe von Schriften aus dem 2. Jahrhundert, einschließlich der Apostelgeschichte, der Schriften Justin des Märtyrers und den pseudoklementinischen Homilien und Recognitionen. Spätere Häresiologen haben ihn zum Vater aller gnostischen „Häresie“ gemacht.

Simon wird als Samaritaner bezeichnet. Samaritaner waren Abkömmlinge der alten Stämme des israelischen Nordreichs und wurden nach ihrer Hauptstadt Samaria benannt. Nach dem Tode des Tyrannen Salomo fielen die Nordstämme vom davidisch-israelischen Stämmebund (im Norden), von Juda (im Süden) und von Jerusalem (an der Grenze) ab. Sie hatten genug von der Dynastie des David und Salomon, vor allem aber: Israeliten/Samaritaner konnten nicht viel mit den Traditionen Judas anfangen. Das heißt, daß ihre Form der jahwistischen Religion sich parallel zu der jüdischen im Süden entwickelte, so wie diese sich später durch Ezra, die Phariäser und deren Nachfolger, die Rabbinen entfaltete. Darum verdammten sich Samaritaner und Juden gegenseitig als Häretiker. Nachdem sich die hasmonäischen Könige einen jahrhundertlangen Frieden vom seleukidischen Reich des Antiochus IV. Epiphanes erkämpft hatten, bekehrten sie das „Galiläa der Heiden“ mit dem Schwert zur jüdischen Religion und zerstörten den samaritanischen Tempel auf dem Garizim.

Juden behaupteten, daß die Eroberer nach dem Aufgehen Israels im Assyrischen Reich im 7. Jahrhundert v.Chr. fremde Kolonisten sandten, die sich mit Israeliten verheirateten und Polytheismus mit Jahwe-Verehrung mischten. Damit ließ sich die Ablehnung der Samaritaner als Nichjuden entschuldigen — ebenso wie orthodoxe Rabbinen im heutigen Israel leugnen, daß Reformjuden Juden sind. Bestand der Vorwurf zu Recht? Vermutlich nicht. Er verfälscht die Geschichte im nachhinein, da beide, Israel und Juda, im 7. Jahrhundert vermutlich ohnehin größtenteils polytheistisch waren. Der hebräischer Monotheismus stellt eine späte Entwicklung dar, die zum ersten Mal mit Jeremia und Deuterojesaja im 6. oder 5. Jahrhundert auf den Plan trat. Er blieb auch danach lange Zeit der Glaube einer Minderheit (siehe Margaret Barker, The Great Angel: A Study of Israel`s Second God, 1992). Somit braucht der samaritanische Polytheismus keineswegs ein Import gewesen zu sein. Beide befehdeten Schwesterreligionen entwickelten sich vermutlich erst mehr oder weniger zur selben Zeit zu genuin monotheistischen Religionen, und zwar im späten ersten vorchristlichen Jahrhundert. Freilich sind selbst noch in dieser Zeit manche Nachklänge an die alte polytheistische Religion zu finden.

Wie unterschied sich Samaritanismus von Judaismus? Einer der wichtigsten Unterschiede bezog sich auf den kommenden Erlöser. Während unter den Juden nicht alle einen König (einen Messias oder „Gesalbten“, d.h. König) erwarteten, der Davids Dynastie herstellen würde (James H. Charlesworth, ed., The Messiah, 1992), gab es unter den Samaritanern niemanden, der diese Erwartung teilte. Sie hatten das Haus David abgelehnt; warum sollten sie von seiner Wiederherstellung träumen? Statt dessen erwarteten sie die Erscheinung des Taheb, des „Wiederherstellers“ (siehe Joh 4,25), eines Propheten wie Mose, welche in Dtn 18,15 vorausgesagt sein sollte. In späteren Jahrhunderten wandelte sich diese Erwartung in die Hoffnung der zweiten Ankunft eines Mose selber (John MacDonald, The Theology of the Samaritans, 1964).

Die beiden Glaubensformen unterschieden sich außerdem noch in der Beurteilung des Umfangs der Schrift. Die jüdische Liste offiziell anerkannter Schriften schwoll zu der langen Reihe von Schriften an, welche noch heute den Protestanten als Altes Testament dient (das katholische und orthodoxe AT ist länger, weil es Schriften der Septuaginta enthält, der griechischen Übersetzung der jüdischen Schriften, die von hellenisierten Juden außerhalb Palästinas benutzt wurden). Die Samaritaner dagegen akzeptierten nur den Pentateuch, die sogenannten Bücher des Mose (Genesis, Exodus, Leviticus, Numeri und Deuteronomium).

Josua war fast ebenso wichtig für sie. Was dagegen im AT auf Josua folgt, stammt vom königlichen Hof und der Tempelhierarchie in Jerusalem, war also Material aus dem Süden Israels und daher von keinem Interesse für die Samaritaner des Nordens. Ebensowenig verbringen Protestanten ihre Zeit damit, päpstliche Enzykliken zu lesen, falls sie überhaupt Notiz davon nehmen.

Die samaritanische Sekte existiert immer noch im modernen Staat Israel, obschon eine kleine Gruppe von nur einigen hundert Leuten — ein liebevoll gepflegtes, lebendes Fossil.

Simon, die „Große Kraft“

Das Neue Testament erwähnt die Samaritaner an einigen wenigen, gleichwohl sehr bekannten Stellen. Mt 10,5 warnt Missionare davor, ihren Fuß auf samaritanisches Territorium zu setzen, während Lukas ein großartiges Gleichnis vom Barmherzigen Samariter verfaßt hat (10,29-37), das er Jesus zuschreibt (ähnlich wie die Episode vom Dankbaren Samariter, Lk 17,11-19)—ein unzweideutig positives Porträt, das in erster Linie für die Tatsache, daß der Begriff „Samariter“ zum Synonym für jemand wurde, der anderen in Not hilft, verantwortlich ist. Johannes 4,7-9, 20-24 erwähnt und karikiert den kindlichen Trotz, der Juden und Samaritaner trennte und der so groß war, daß sie die Essensutensilien der jeweils anderen für rituell unrein erklärten!

Die Fortsetzung des Lukasevangeliums, die Apostelgeschichte, läßt Philippus, einen der Sieben (dem Leitungsgremium der hellenistischen Christen) in Samarien predigen und die ganze Stadt zum Glauben Jesu bekehren (Apg 8,5-8ff). Hier nun tritt Simon erstmals auf den Plan. Lukas, der Erzähler der Apostelgeschichte, erzählt uns, daß Philippus seinen religiösen Rivalen bereits bei seiner Ankunft in der Stadt wirken sah. Der ganze Ort war von Simon beherrscht, einem Magier, der die „Große Kraft“ zu sein beanspruchte, d.h. die fleischgewordene Gottheit — ein Anspruch, den er durch erstaunliche Wundertaten untermauerte (Apg 8,9-11). Lukas scheint die traditionelle Geschichte an diesem Punkt umzuschreiben.

Andere christliche Quellen haben die Originalform der Legende stärker bewahrt. Verschiedene Häresiologen erzählen uns, daß Simon mit einem Weib namens Helena umherwanderte, die er aus dem Bordell gerettet hatte. Sie war seine ewige Seelengenossin und existierte bereits im göttlichen Pleroma — der himmlischen Welt von Licht und Geist, wie die Ennoia oder Epinoia, der erste Gedanke (etwa das gleiche wie die Idee der als Frau personifizierten Weisheit in Prv 8, Sirach 1 und Weisheit Salomonis 7, oder wie der Logos des Philo, aber eben weiblich). Als solche bildete sie und die „Große Kraft“ eine Syzegie (ein Paar„gespann“), das an die Verbindung von Shiva und seiner Shakti, Kali im tantrischen Mystizismus, erinnert. Sie ging verloren im Sumpf der Materiewelt (eine böse Schöpfung der zerstörerischen Archonten, „Herrscher der Welt“), und es war einzig ihre spirituelle Weisheit, welche die Welt erhielt. Um sie zu retten, stieg die Große Kraft hinab in die dunkle Welt der Materie.

Dieser Erlösungsmythos, der für die Gnosis im allgemeinen recht typisch ist, hatte zum Inhalt, daß jene, welche Simon nachfolgten und sein geheimes Wissen (gnosis) aufnahmen, nach ihrem Tode gerettet würden. Wie man sieht, war Helenas Seele symbolisch für das göttliche Licht der Weisheit, die sich in Millionen Lichtfunken zersplittert und in der ganzen materiellen Welt zerstreut hatte. Die Ex-Hure Helena verkörperte, wie wir annehmen dürfen, so etwas wie die größte einheitliche Konzentration dieser Weisheit. Daneben gab es noch eine Menge anderer Funken, die ohne Erinnerung in den Seelen einiger auserwählter Weniger, die Ohren hatten, die Gnosis des Simon zu hören, vor sich hindämmerten. Das ganze gnostische Schema bildet eine auffallende Parallele zur Kabbala des Isaak Luria im Galiläa des 16. Jahrhunderts n. Chr. Die Frommen leben im Bewußtsein, einen verborgenen Funken der göttlichen Herrlichkeit in sich zu tragen und sie bemühen sich darum, diesen durch meditative Übungen und Askese sowie Verneinung fleischlicher Freuden vor weiterer Reinkarnation zu bewahren. Einige wenige Gnostiker wählten den Pfad zur Linken und suchten Erlösung durch libertinistischen Antinomismus: „Tue, was du willst, das ist das ganze Gesetz“ (A. Crowley). In jedem Fall ging es darum, die eigene Unabhängigkeit vom Buchstaben der staatlichen oder religiösen Gesetze dadurch zu bekunden und zu verwirklichen, da dieses als Werk der unbekannten Herrscher der Welt galten, der bösen Archonten—einer von ihnen war der Jahwe („Jehova“) des Alten Testaments.

Bar Jesus

Die Kirchenväter berichten uns ebenfalls, daß Simon den göttlichen Titel „der Stehende“ beanspruchte und behauptete, er sei vor kurzem in Judäa in der Gestalt Jesu von Nazareth erschienen. Der große theosophische Gelehrte G.R.S. Mead glaubt (in seinem Buch über Simon), dieser Anspruch habe bedeutet, daß Simon einfach den Geist Jesu weitergetragen habe, so wie Elisa den Geist seines Lehrers Elia weitertrug und sein Werk fortsetzte. Mead gibt dieser Interpretation den Vorzug vor dem Gedanken, Simon habe gemeint, er sei im wörtlichen Sinne eine Reinkarnation Jesu—da die Apostelgeschichte Simon mit dem Jünger Simon Petrus, dem Zeitgenossen Jesu, zusammentreffen läßt. Weil Simon Magus und Jesus sich in diesem Fall historisch überschnitten hätten, könne kaum plausibel gemacht werden, daß er die Reinkarnation des anderen gewesen sei.

Freilich scheint es mir, als habe Mead die Chronologie der Apostelgeschichte allzu naiv für bare Münze genommen. Die Verbindung zwischen Simon Magus und Simon Petrus erscheint perfekt. Lukas hat die offenkundigen Spuren der überlieferten Erzählung, die er Apg 8 überarbeitete, nicht vollständig getilgt. Darin muß es um einen Wunderwettbewerb zwischen Philippus und Simon Magus gegangen sein. Da Lukas diesen überging, berichtet er uns nicht, warum Simon das Feld geräumt und Philippus erlaubt haben sollte, die Leitung seiner Anhänger aufgrund einer bloßen Forderung mit zu übernehmen. Es ist gleichsam, als ob Simon im ersten Akt der Vorstellung aufträte, gefolgt von Philippus. Ebenso künstlich mutet es an, daß Lukas den Philippus, der alle Leute des Simon Magus für sich gewonnen hat, taufen läßt, aber ihm den Heiligen Geist vorenthält, bis Simon Petrus von Jerusalem ankommt, um das Ganze offiziell zu machen (Apg 8,14-17). Simon Magus selber tritt ängstlich und bußfertig zum Christentum über und bittet Petrus schüchtern, ihm das Geheimnis, Menschen magisch mit dem Heiligen Geist auszustatten, zu verkaufen, so daß sie in ekstatischer Zungenrede und Prophetie sprechen (18-19). Petrus weist ihn zurecht („Zur Hölle mit dir und deinem Geld“) und Simon zieht sich zurück.

Es ist offenkundig, daß in der Quelle des Lukas, d.h. der Erzählung, wie sie gelesen wurde, bevor Lukas sie aus kirchenpolitischen Gründen umschrieb, ursprünglich nicht Simon Petrus, sondern der Evangelist Philippus die Hauptrolle spielte und daß Simon Magus gezwungen wurde, das Feld zu räumen, als Philippus ihn in einem Duell schlug —  genauso wie Petrus in der postlukianischen Version der pseudoklementinischen Homilien und Recognitien, den Petrusakten usw. Lukas stahl Philippus gleichsam den Glorienschein und übertrug diesen auf Simon Petrus, der in den Tagen des Lukas zu einem wichtigeren Repräsentanten des kirchlichen Christentums geworden war. Ebenso glaubte man, David dadurch glorifizieren zu können, daß man das Motiv der Tötung des Goliath von dem weniger bekannten Helden Elhanan ben Jair aus Bethlehem (2. Sam 21,19) übernahm und statt dessen auf David übertrug (1 Sam. 17).

Spätere (post-lukanische) Schreiber übernahmen den spektakuläreren Bericht vom Wunderwettstreit, den Lukas diskret überging, aber sie folgten Lukas, indem sie Philippus durch den bekannteren Simon Petrus ersetzten. Die späteren Versionen haben das Wunderduell in Rom wiederholt. Simon Magus ist dorthin gereist, um dem Petrus dessen Anhänger abspenstig zu machen. Er ist solange erfolgreich, bis Petrus ihn zu einem anderen Wunderwettbewerb herausfordert, der an den zwischen Elia und den Baalspropheten im 1. Buch der Könige 18 erinnert. Petrus gewinnt und bekommt all seine wankelmütigen und schwankenden Anhänger wieder—bis Simon, der sich einen „Special-Effect-Trick“ ausgedacht hat, zu fliegen scheint, aber dann zu Boden stürzt (die spätere Legende hat dieses Motiv des Hochmuts, der vor dem buchstäblichen Fall kommt, auf die volkstümlichen Gestalten des Antichrist und Dr. Faustus übertragen). Diese Legenden scheinen den Wettbewerb zwischen simonianischen und christlichen Sekten sowohl in Samaria als auch in Rom wiederzuspiegeln. Justin Märtyrer, selber ein samaritanischer Christ, der Rom besuchte, berichtet uns, daß der Simonianismus in seinen Tagen in ganz Samarien vebreitet war und daß auch Rom eine ansehnliche Splittergruppe der Simonianer hatte.

Inwiefern kann uns dies alles bei der Frage nach Simon Magus helfen, der zu früh lebte, um sich als Reinkarnation Jesu hätte ausgeben können? Durch die einfache Erkenntnis, daß die Verbindung mit Petrus sekundär ist. Philippus könnte eine Gestalt der folgenden Generation gewesen sein. Lukas berichtet uns, daß Paulus Philippus und seine vier Töchter traf, „welche prophezeiende Jungfrauen“ (Apg 21,8-9) waren, und zwar auf seinem Weg nach Jerusalem, wo er in einen Aufruhr verwickelt wurde, in Gefangenschaft kam und zur Exekution nach Rom gesandt wurde. Aber Papias, Bischof aus Hierapolis, berichtet uns nach Eusebius, daß er selber Informationen über die apostolische Kirche durch die Töchter des Philippus erhalten habe. Papias schrieb irgendwann um 150 n.Chr., was bedeuten würde, daß Philippus nicht als Zeitgenosse des Petrus oder Jesus in Frage kommen konnte. Lukas scheint Simon Magus und die Töchter des Philippus (und somit Philippus selber) in anachronistischer Weise in das vorangegangene Jahrhundert verlegt zu haben—ebenso wie die Evangelisten häufig religiöse Fragen an Jesus adressieren, die erst in ihren Tagen und nicht in seinen aufkamen.

Wenn Simon in der Tat behauptet hätte, der reinkarnierte Jesus zu sein (d. h. daß beide aufeinanderfolgende Inkarnationen der Großen Kraft waren), so wäre dies religionsgeschichtlich überaus interessant. Es würde Simon zum Vorläufer des Apostels Mani machen, der ein Jahrhundert später lebte. Mani behauptete, daß er die späteste Verkörperung desselben Geistes sei, der früher als/in Zarathustra, Buddha und Jesus erschienen war (was wiederum beinhaltet, daß Mani glaubte, er sei der Saoshyant, Maitreya Buddha und der wiederkommende Christus zugleich, wie viele Jahrhunderte später der Baha’ulla, Gründer des Baha’i-Glaubens.

Liebe stärker als der Tod

Warum mußte die „Große Kraft“ wiedergeboren werden?

Die göttlichen Funken mußten sich reinkarnieren, weil sie in Unwissenheit hinsichtlich ihres wahren himmlischen Ursprungs und ihrer Bestimmung gefallen waren. Da sie von göttlicher Natur waren, konnten sie nicht wirklich sterben, aber solange sie nicht erleuchtet waren, konnten sie sich ebensowenig von der Verunreinigung des Fleisches befreien und in das Pleroma eingehen. Simon teilte diese Unwissenheit nicht. In der Weise der Bodhisattvas des Mahyana Buddhismus unterzog er sich freiwillig zahlloser Geburten, um zu suchen und zu retten, was verloren war: Helena, die Ennoia, das Symbol der Seele der Erleuchteten. Lukas scheint diesen Zusammenhang noch zu kennen, worauf Gerd Lüdemann hinweist, da Petrus bei seiner Erwiderung des Simon ein spezielles griechisches Wort benutzt: „Bete zum Herrn, daß dir dieser Gedanke (epinoia) vergeben werden möge.“ (Apg 8,22)

Das muß ein Hinweis für den wissenden Leser gewesen sein. Freilich, anstatt rational zu widerlegen, sinkt Lukas damit, ebenso wie andere Häresiologen des 2. Jahrhunderts, auf das Niveau skurriler Dreckschleuderei herab. Der Verfasser von Joh 4,16-18 scheint ebenfalls absichtlich mißverstehen zu wollen, wenn er berichtet, daß die samaritanische Frau 5 Männer gehabt habe und nun mit jemandem zusammen lebe, der nicht ihr Mann sei. Das scheint eine Anspielung auf die simonianische Helena zu sein, ihre sexuelle Ausbeutung in mindestens fünf vorangehenden Inkarnationen und ihre jetzige Verbindung mit Simon Magus. Die Andeutungen, daß Helena eine Hure gewesen sei und öffentlich mit Simon in Schande gelebt habe, sind schnell als typisch polemische Diffamierung zu durchschauen. Aus demselben Grund wird Maria Magdalena von den frühen Kirchenvätern, die in ihr eine Häretikerin sahen, als Besessene und Prostituierte dargestellt (siehe mein Aufsatz: „Mary Magdalene: Gnostic Apostle?“, Grail, vol. 6 # 2, June 1990).

Simon, der Sünder

Ein anderes Beispiel für Diffamierung ist, wie wir an dieser Stelle anmerken wollen, die Benutzung des Ausdrucks Simon „Magus“, der Magier. Wie Anthropologen gezeigt haben, wird „Magie“ und „Mirakel“ in Kulturen, die an beides glauben, nicht unterschieden. Der Unterschied liegt in der Bewertung: „Mein übernatürliches Wunder ist ein Mirakel; Dein übernatürliches Wunder ist Magie.“ „Er hat den Beelzebul, und: Er treibt die bösen Geister aus durch ihren Obersten.“ (Mk 3,22). Es gibt eine gute Diskussion dieser doppelten Bewertung in dem Buch: The Demise of the Devil Magic and the Demonic in Luke´s Writings, 1989, 4ff. Wenn also Simon als Magier bezeichnet wird, bedeutet das nichts anderes, als daß er den Ruf eines Wundertäters hatte und daß dieser Ruf in ein schlechtes Licht gestellt werden sollte (siehe Garett, Kap. 3, „Simon Magus“, 61-78). In eben derselben Weise wird Jesus in den verschiedenen Büchern der Toledoth Jeschu der jüdisch-antichristlichen Polemik als ein Magier und Schwindler dargestellt. Theudas, ein Messiasprätendent aus den 40iger Jahren, prophezeite, daß er wie Josua den Jordan teilen würde. Dies wäre in der Tat ein Mirakel. Seine Gegner nannten ihn „Theudas, den Magier“, wie Josephus bezeugt. Philostratus versucht in seinem Leben des Apollonius den populären Skeptizismus zu zerstreuen, der in dem Wundertäter Apollonius einen bloßen Scharlatan sah.

Ebenso wie der Begriff „Magier“ wurde das Beiwort „Samaritaner“, das mit „häretisch“ gleichbedeutend wurde, negativ verstanden, so z. B. wenn Johannes die Gegner Jesu sprechen läßt: „Sagen wir nicht mit Recht, daß du ein Samariter bist und einen bösen Geist hast?“ (Joh 8,48). Wir mißverstehen manchmal antike Metaphern als biographische Daten. Zum Beispiel, war Jesus ein Zimmermann? Nein, natürlich nicht! Der einzige Hinweis darauf ist Mk 6,3: „Ist er nicht der Zimmermann, Marias Sohn“ mit seiner Parallele in Mt 13,55: „Ist er nicht der Sohn des Zimmermanns? Heißt nicht seine Mutter Maria?“ Wie kommt die Menge zu diesem Ausruf? Jesus hat eben die Schrift erklärt (die Synagogenpredigt geht bis auf den heutigen Tag darauf zurück). Es gab einen zeitgenössischen jüdischen Ausdruck, der benutzt wurde, wenn Rabbinen mit der Auslegung eines schwierigen Schriftverses überfragt waren: „Hier ist kein Zimmermann noch ein Zimmermannsssohn, um das zu erklären.“ Mit anderen Worten, wenn Jesus als Ausleger der Schrift in der Synagoge als Zimmermann oder Zimmermanssohn bezeichnet wird, bedeutet dies möglicherweise, daß er ein guter Schriftausleger war, nicht aber, wie Reverend Billy Saul Hargis so gerne sagte, daß er Möbel für Schlaf- und Eßzimmer verfertigte.

Wenn Simon also als Samaritaner bezeichnet wird, so meint dies einfach: „Simon der Häretiker.“ Welche Häresie? Wir haben bereits gesehen, daß verschiedene Schriftsteller des 2. Jahrhunderts von ihm sagten, er habe die verkörperte „Große Kraft“ zu sein beansprucht. Michael Goulder teilt diese Auffassung und behauptet sogar, daß die ganze Vorstellung vom inkarnierten Gott von den Christen bei den Samaritanern geborgt wurde („The Two Roots of the Christian Myth“, in John Hick, ed. The Myth of God Incarnate, 1977; s. ebenso seine „The Samaritan Hypothesis“ in Goulder, ed. Incarnation and Myth: The Debate Continued, 1979). Eine Quelle jedenfalls, möglicherweise unsere wichtigste—die pseudoklementinischen Homilien und Recognitionen—lassen Simon verkündigen, daß es zwei Götter gebe und daß es nicht Gott war, sondern die Engel, welche die Welt geschaffen hätten; das Alte Testament sei daher nicht länger verpflichtend für Christen. Obschon dies in mancher Hinsicht an den Gnostizismus im allgemeinen erinnert, gibt es einige Züge, die eher zu einer ähnlichen christlichen Richtung Parallelen aufweist und die als Marcionitismus bezeichnet wird.

Marcions Invasion

Marcion aus Pontus gründete seine eigenen Kirche in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts. Er glaubte, daß die 12 Apostel Jesu die Absichten ihres Meisters mißverstanden hätten (eine Sicht, die weithin vom Markusevangelium geteilt wird!) und daß sie es schließlich dahin brachten, Christentum und Judentum zu vermischen—mit anderen Worten, neuen Wein in alte Schläuche zu gießen. Obschon Marcion in keiner Weise Antisemit war und das Judentum als Glauben von eigener unabhängiger Würde respektierte, glaubte er, daß Jesus der Sohn eines höheren als des hebräischen Gottes war, der die böse Welt geschaffen und das mosaische Gesetz befohlen hatte. Jesus kam, um einen liebenden Vater zu offenbaren, der niemanden straft und ausschließlich Liebe übt. Der Vater war bereit, die Geschöpfe des niederen Gottes als die eigenen Kinder zu adoptieren.

Marcion glaubte, daß Paulus, der nicht zu den Zwölfen gehörte, sondern ein späterer Konvertit war, all diese Dinge gelehrt hatte und verkündet hatte, was Jesus wirklich beabsichtigte: die Geburt einer neuen, vom Judentum unabhängigen Religion. Christen sollten daher das Alte Testament den Juden überlassen und nicht länger behaupten, daß es Jesus vorhergesagt habe. Um diese jüdische Schrift zu ersetzen, übernahm er die Briefe des Paulus und „das Evangelium“ (vielleicht eine frühere oder kürzere Form unseres Lukasevangeliums) als neue christliche Schrift, das Apostolicon, das Buch des Apostels. Obschon spätere katholische Schriftsteller Marcion vorwarfen, er habe die übrigen neutestamentlichen Bücher weggelassen und von denjenigen, welche übrig blieben, Passagen gestrichen, scheint es, als würden sich in diesem Vorwurf nur ihre eigenen heimlichen Machenschaften widerspiegeln. Untersuchungen von John Knox (Marcion and the New Testament, 1942) und anderen lassen es viel wahrscheinlicher erscheinen, daß Marcion nicht nur der erste Sammler der Paulinischen Briefe war, sondern zugleich der erste, der die Idee eines christlichen Testaments einführte. Die katholischen Bischöfe, die durch den Erfolg des marcionitischen „Sputnik“ alarmiert wurden, beeilten sich, nachzukommen—allerdings fügten sie noch ein paar zusätzliche Schriften hinzu und veränderten Marcions Schriften durch Einfügung orthodoxer Interpolationen. Das Resultat war letzten Endes das heute gebräuchliche Neue Testament.

Marcion war der erste große Paulinist des Christentums. Paulus war auch für die valentinianische Kirche wichtig. Es waren valentinianische und basilidianische Gnostiker, welche die ersten bekannten Kommentare zu den Paulusbriefen schrieben. Ihr Interesse an Paulus war so groß—und alles andere war offenbar so nebensächlich—daß Tertullian Paulus als den „Apostel der Häretiker“ bezeichnete. Als solcher könnte Paulus in einem geradezu buchstäblichen Sinn aufgefaßt werden, da Paulus, der große Briefschreiber, möglicherweise nur eine Schöpfung der gnostischen und marcionitischen Bewegung darstellt. W.C. van Manen versuchte nachzuweisen, daß der Galaterbrief in seiner ursprünglichen Gestalt eine Schrift des Marcion selber gewesen sein könnte, der den Brief pseudonym unter dem Namen des Paulus verfaßte. R. Joseph Hoffmann (Marcion: On the Restitution of Christianity, 1984) wies zwingend nach, daß auch der Epheserbrief zunächst als Laodiceerbrief der Marcioniten im Umlauf war. In der Tat wurden beide Texte später von den Katholiken für ihren eigenen Gebrauch erweitert und verändert. Dasselbe ist auch für die anderen Paulusbriefe sehr wahrscheinlich. Dies sind die Ergebnisse der Holländischen Radikalkritischen Schule des 19. Jahrhunderts, die von einigen wenigen, hauptsächlich durch Hermann Detering, Darrell J. Doughty und durch mich vertreten werden. Wenn es einen historischen Paulus gab, was wahrscheinlich ist, dann ist seine Gestalt unwiederbringlich hinter den pseudepigraphischen Briefen, die ihm von marcionitischen und gnostischen Mitgliedern der Paulinischen Schule zugeschrieben wurden, verblaßt.

Eine Reihe von Schriften—einschließlich der pseudepigrapischen Apokalypse des Paulus (nicht diejenige, die in Nag Hammadi entdeckt wurde), die Acta Pauli, die Apostelgeschichte, die Akten der Xanthippe und Polyxena und die Petrus und Paulusakten—stellen Paulus als Missionar und Apostel dar, aber sie scheinen wenig Notiz davon zu nehmen, daß er Briefe geschrieben oder eine bestimmte Lehre verkündigt habe. Nach den Auffassungen von Ferdinand Christian Baur, Walter Bauer und anderen müßte darin das Resultat eines späteren Versuchs zu sehen sein, die Gestalt des Paulus zu katholisieren, indem man die Briefe ebenso wie die mit seinem Namen zusammenhängende Theologie ignorierte. Anders, als van Manen und die Holländischen Radikalen meinten, soll dieser neutrale, farblose Paulus so etwas wie eine unabhängige Tradition vom historischen Paulus repräsentiert haben, ohne die gnostisch-theologischen Schnörkel des Marcion und seiner Schule. Es scheint mindestens drei Versuche gegeben zu haben, die gefährlich häretisch klingenden Briefe zu ersetzen. Der Ersatz bestand aus dem apokryphen 3. Korintherbrief, den Pastoralbriefen (1. und 2. Timotheus, Titus) und dem lateinischen Brief an die Laodicener. Und, wie Winsome Munro in ihrem Authority in Paul and Peter (1983) gezeigt hat, selbst die Briefe, wie wir sie heute lesen, sind einer gründlichen domestizierenden, katholisierenden Redaktion unterworfen worden.

Der Anti-Papst

Trotz aller redaktionellen Arbeit an den paulinischen Briefen ist ein Zug der frühen paulinischen Theologie erhalten geblieben, der zum Fundament des Protestantismus wurde (obschon entstellt durch introvertierte psychologische Perspektive Martin Luthers—siehe Krister Stendahl, „The Apostle Paul and the Introspective Conschience of the West“, in his Paul among Jews and Gentiles, 1976): die Lehre von der Verwerfung der jüdisch/biblischen Torah, die durch den Glauben an Christus aufgehoben wurde—mit dem Resultat, daß Heiden, die zum Christentum kommen wollen, sich nicht darum sorgen müssen, die (aus der ihnen fremden kultureller Tradition stammenden) Gebote der Torah zu übernehmen. Dieser Punkt der paulinischen Theologie, der für Katholiken, Marcioniten und Gnostikern gleichermaßen wichtig blieb, reichte aus, um Paulus als Apostel in den Augen anderer antiker Jesus-Sekten, der Nazoräer, Ebioniten, Elchasiten usw. den sogenannten Judenchristen, zu disqualifizieren. Die Jesus- und Torah-Verehrer schrieben Paulus als falschen Apostel und Antichristen ab. Diese Debatten spiegeln sich fast in der gesamten paulinischen Literatur der frühen Kirche wieder, entweder pro oder kontra. Dies bringt uns zurück zu unserem eigentlichen Thema, der Gestalt des Simon Magus. Wie F.C Baur (Paulus, 1845) annahm, scheint Simon Magus eine Art Karikatur des Paulus gewesen zu sein.

Hinweise dafür erhalten wir hauptsächlich aus zwei Quellen des zweiten Jahrhunderts: der kanonischen Apostelgeschichte und den pseudoklementinischen Homilien und Recognitien. Bei den pseudoklementinischen Homilien und Recognitien handelt es sich um zwei verschiedene Rezensionen eines Romans, in dem Simon Petrus die Hauptrolle spielt und die von Clemens von Rom, dem Bischof von Rom, als fiktivem Verfasser (der eigentliche Verfasser ist unbekannt) erzählt wird. Er schildert, wie wir bereits sagten, ein paar dramatische Begegnungen zwischen Simon Petrus und seinem Erzrivalen Simon Magus. Besonders diese Szenen scheinen von einem früheren Werk, dem Kerygmata Petrou, bzw. den „Predigten des Petrus“, einem ebionitischen Dokument, entlehnt worden zu sein. In diesen Abschnitten spricht Petrus über Simon in Ausdrücken, die unmißverständlich an Paulus erinnern. So zum Beispiel lehnt Petrus den Anspruch des Simon auf das Apostolat aus zwei Gründen ab, 1. war dieser nicht mit dem historischen Jesus zusammen, sondern wurde statt dessen durch eine Vision des auferstandenen Christus belehrt, 2. lehre er ein anderes Evangelium, das die Ablösung der Torah beinhalte. Dies sind genau die Bedenken der jüdischen Christen gegen Paulus. Dabei wird Simon Magus mit theologischen Begriffen geschildert, die merkwürdigerweise an Marcion erinnern, woraus erhellt, daß der von den jüdischen Christen abgelehnte Paulus derjenige der marcionitischen und gnostischen Paulinisten war.

Die Apostelgeschichte des Lukas macht ebenfalls aus Simon Magus eine polemische Karikatur des Paulus. So z.B. berichten die paulinischen Briefe häufig, daß Paulus mit großem Eifer eine Kollekte für die jüdisch-christliche Gemeinde in Jerusalem betrieben habe (Röm 15,25-28; 2. Kor 8-9), eine Verpflichtung, die er als Bedingung für die Anerkennung seines Apostolats durch Petrus, Jakobus und Johannes akzeptierte (Gal 2,7-10). Er hoffte, daß sie als eine Geste des guten Willens wohlwollend akzeptiert werden würde, wenn er erst in Jerusalem angekommen sei (Röm 15,31; cf. 15,25-28). Die Apostelgeschichte erwähnt keine solche Kollekte, obschon sie Paulus mit einer früheren Sammlung während einer Hungersnot (Apg 11,27-30) in Verbindung setzt. Das zeigt, daß Lukas von dem Ergebnis der Verhandlungen zwischen Paulus und den drei anderen Aposteln und dem Angebot des Paulus, eine Sammlung bei den heidenchristlichen Gemeinden durchzuführen, wußte, aber dieses in eine Episode kleidete, die das tatsächliche katastrophale Ergebnis auf das erzählerische Double des Paulus, Simon Magus, übertrug. Simon wird dargestellt als jemand, der den Apostolat, die Handauflegung zur Vermittlung des heiligen Geistes, mit Geld erkaufen wolle—eine polemische Version des Versuchs des Paulus, die Kollekte als Preis für seine offizielle Anerkennung durchzuführen.

Warum wurde er Simon genannt, wenn er tatsächlich eine Karikatur des Paulus darstellt? Weil die jüdischen Christen ihn als eine Antithese zu Simon Petrus betrachteten, seinen Gegenspieler, den Anti-Simon. Wir haben bereits gesehen, daß der Begriff „Magier“ etwa die Bedeutung des „medizinischen Scharlatan“ hatte (eine Satire des über geistliche Gaben in Gal 3,2; 1 Kor. 14,18 und 2. Kor 12,1-12 Gesagte, „Denn es sind ja die Zeichen eines Apostels unter euch geschehen in aller Geduld, mit Zeichen und mit Wundern und mit Taten.“)

In ähnlicher Weise kann das Epitheton „samaritanisch“ einfach „häretisch“ bedeuten, obschon sich im Lichte der jüdisch-christlichen Verbindung eine andere attraktive Möglichkeit anbietet. Von den Ebioniten weiß man, daß von ihnen das Gerücht in Umlauf gesetzt wurde, Paulus sei in Wahrheit ein Heide gewesen, der bloß deswegen zum Judentum konvertierte, weil er sich in die Tochter des Hohenpriesters von Jerusalem verliebt hatte. Er verwandte große Mühe darauf, sich selber als gesetzestreu darzustellen, wurde aber schließlich durch ihren Vater überführt. Das habe ihn dazu veranlaßt, dem Judentum den Krieg zu erklären und eine eigene pervertierte Version der Religion des frommen Juden Jesus zu schaffen, die das Gesetz beseitigte, an dem er sich als heidnischer Außenseiter zerrieben hatte. (Das Bild des Paulus als eines mißachteten Liebhabers stellt eine typische Verleumdung dar; ähnliches wurde sowohl von Marcion als auch von dem Propheten Mohammed von ihren Verleumdern gesagt. Es ist eine Metapher für „die reine Jungfrau Kirche verführen“, ein Vorwurf, der 2. Kor 11,2-4 gegen die judenchristliche Apostel selber gewendet wird).

Man beachte, daß „Paulus“ nicht einmal ein richtiger Jude gewesen sein soll. Die halb-edomitische Abstammung Herodes des Großen wurde in derselben Weise gegen diesen als theologische Waffe benutzt. Wenn wir bedenken, daß die Darstellung des Paulus/Simon als eines Samaritaners von derselben Gruppe von Antipaulinisten kommt, scheint es, als sei diese wiederum eine andere Form der Denunziation gewesen.

Der Sündenbock

Wenn Justin Märtyrer und andere Simon Magus zum Vater des Gnostizismus machen, deutet dies auf die Vorliebe der Gnostiker für die Lehre des Paulus hin (Valentin behauptete, er habe die Lehre direkt von Theudas erhalten, einem unmittelbaren Schüler des Paulus). Gleichwohl stellt es wohl eine (symbolische) Vereinfachung dar, wenn eine einzige Person zum Begründer des ganzen gnostischen Flügels der Christenheit gemacht wird; dahinter steht die Suche nach einer faßbaren Gründergestalt für etwas, was in Wahrheit ein weit verbreiteter prä-christlicher Typ des Mystizismus war. Es erwies sich für die Kirchenväter als nützlich, wenn sie die Gnosis als einzelne Abweichung eines einzelnen Irrläufers darstellen konnten (Walter Bauer, Orthodoxy and Heresy in Earliest Christianity, 1971). Wer die historische Komplexität der Bewegung erkennt, dem fällt es schwer, die Authentizität von jüdischem Gnostizismus und Christentum als bodenständiger Formen des Judentums und des Christentums zu bestreiten, die gleichzeitig mit jenen existierten, die später als orthodox bezeichnet wurden.

Aus demselben Grunde versuchten antihäretische Schriftsteller wie Eusebius die verschiedenen „Häretiker“ durch eine Sukzessionskette miteinander zu verbinden, um auf diese Weise den künstlichen Eindruck herzustellen, als handele es sich gleichsam um eine einzige Abstammungslinie pervertierter Gurus, nicht aber um eine rivalisierende Glaubensgruppe mit ihren verschiedenen Untergruppen.

In derselben Weise hatten die Bischöfe eine Sukzessionsliste monarchischer Bischöfe konstruiert, eine geographische und eine chronologische, mit einer direkten Abstammungslinie von der (fiktiven) apostolischen Gründung der Gemeinde bis in ihre eigenen Tage. Die Liste dieser „good guys“ sollte sowohl eine apostolische Abstammungsliste für die Bischöfe in jeder Kirche liefern als auch den Eindruck erwecken, als ob ihre katholische/orthodoxe Form des Christentums direkt aus erster Hand komme. In Wahrheit war die Ausbildung der verschiedenen Typen frühchristlichen Glaubens ein äußerst komplexer und verwirrender Vorgang. Für den radikalen Paulus des Anfangs war bei dieser Art der Kirchengeschichtsschreibung kein Platz mehr.

Um ihm überhaupt einen Platz zuzuweisen, mußte der „Apostel der Häretiker“ in zwei literarische Figuren aufgespalten werden: in den Apostel Paulus und Simon den Zauberer. Es galt, die marcionitischen und gnostischen Interpretationen des Paulus—wer immer dieser gewesen sein mochte—abzustreifen und diese auf seinen Sündenbock-Doppelgänger, den bösen Zwillingsbruder des Paulus, Simon Magus, zu übertragen. Wie René Girard sagt (Violence and the Sacred, Engl. trans. 1977; The Scapegoat, Eng. trans. 1986), kann Ordnung nur mit die Hilfe eines Sündenbocks hergestellt werden, Unordnung, in diesem Fall der Parteienstreit wird so beseitigt. Cf. 1. Clem behauptet, daß sowohl Petrus als auch Paulus den Machthabern zum Martyrium ausgeliefert wurden – „aufgrund von Neid“, d.h. wie Oscar Cullmann spekuliert, durch die Anhänger des jeweils anderen! Nachdem die beiden Apostel erst einmal hingerichtet worden waren, schlossen die Nachfolger ihre Reihen und akzeptierten im Nachhinein den heiligen Charakter des jeweils anderen Patrons. Um jemand zu haben, den man für den Parteienstreit, der nun glücklich beigelegt worden war, verantwortlich machen konnte, wurde ein fiktiver Doppelgänger des Paulus kreiert, auf den all die Vorwürfe projiziert werden konnten, die die Petrusfraktion einst auf Paulus selber bezogen hatte. Der Ersatzmann war Simon Magus.

Wie es immer mit einem Sündenbock geschieht: die zum Dämon stilisierte Gestalt des Simon Magus (einschließlich seiner Transformationen zum Antichrist und Faust) sollte als Warnung dienen, sich nicht der Häresie zuzuwenden und als Vorwand, die zu bestrafen, die es taten. Noch heute steht das Schreckgespenst der Häresie eingeschüchterten Gläubigen vor Augen, um sie so durch das Schicksal des Mannes zu erschrecken, der es wagte, die Kräfte der Orthodoxie herauszufordern.