Über Albert Kalthoff

„Et hic dii sunt – auch dieser Ort ist ein heiliges Land!“ Ernst Haeckel und Albert Kalthoff – eine Wahlverwandtschaft?

Erstveröffentliching in: Lenz, Arnher E. und Volker Mueller (Hrsg.): Darwin, Haeckel und die Folgen: Monismus in Vergangenheit und Gegenwart, Neustadt am Rübenberge: Angelika Lenz 2006

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„Als Mensch auf Menschen wirken“ Erinnerung an Albert Kalthoff (1850-1906) in Bremen 11. Mai bis 30. Juni 2006 Texte zur Ausstellung – von Helmut Donat

Mit freundlicher Genehmigung von Helmut Donat können nunmehr auch die informativen Texte zu der Bremer Kalthoff-Ausstellung 2006 (in der Villa Ichon) gelesen werden. Sie zeigen das facettenreiche Bild einer ungewöhnlichen Persönlichkeit.

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Der Geist ist frei!

Albert Kalthoffs freigeistiges Engagement als Pastor an der St. Martini-Kirche in Bremen, Schriftsteller und Präsident des Deutschen Monistenbundes. Vortrag von Hermann Detering, gehalten in der Villa Ichon, Bremen 15. Juni 2006

Anfänge: Der Freigeist und die kirchliche Ordnung

Die theologische Laufbahn Albert Kalthoffs endete in der Freien Hansestadt Bremen und begann in Preußen – genauer gesagt: in der Berlin-Brandenburgischen Kirche.

In Berlin hatte Kalthoff studiert, und in Berlin, in St. Markus – die Kirche an der heutigen Frankfurter  Allee im Osten Berlins ist inzwischen abgerissen – wurde er ordiniert.  Gleich danach – 1875 – kam es zu einem ersten Streit. Eigentlich ein Streit „um Kaisers Bart“, um Kalthoffs Bart nämlich. Sein  Bart war der berlin-brandenburgischen Kirchenleitung zu lang und überhaupt – er sollte ihn stutzen. Kalthoff  verbat sich einen derartigen Eingriff in seine persönlichen Freiheitsrechte und wurde prompt wegen Ungehorsams in die Provinz nach Nickern (Niekarzyn) bei Züllichau in Brandenburg – im heutigen Polen – versetzt.

Wer geglaubt hatte, daß Kalthoff die Beschaulichkeit der dortigen Natur zu der von der Kirchenleitung offensichtlich gewünschten inneren Einkehr gebracht hätte, sah sich  getäuscht. Der aufmüpfige und nun  in die Provinz versetzte Prediger gab jetzt erst recht  keine Ruhe und mischte sich 1877 in die Kirchenpolitik, genauer in die Frage der Besetzung von Pfarrstellen  ein – bekanntlich ein heikles Thema, bei dem sich Konsistorien nur ungern hineinreden lassen. Anlaß dafür war die Nichtbestätigung der Wahl Hossbachs zum Pfarrer an der St. Jakobi-Gemeinde in Berlin. Sie  veranlaßte Kalthoff zu einer Eingabe an das Konsistorium.

Abgesehen davon, daß eine Solidarisierungsaktion mit dem geschassten Kollegen im Konsistorium kaum gern gesehen wurde, sticht der renitente Tonfall ins Auge. Kalthoff schlägt Töne an, die mißtrauische und um die Disziplin ihrer Pastoren besorgte Vorgesetzte aufhorchen lassen mußten. Kalthoff spricht sowohl ihnen als auch der Heiligen Schrift jede Lehrautorität ab und will einzig und allein das eigene Gewissen, die eigene Überzeugung  noch gelten lassen. Das hatte vor Kalthoff nur Martin Luther gewagt, doch  der hatte die Autorität der Heiligen Schrift nicht angetastet. Dagegen Kalthoff:

„er halte sich nur an die, auf die Verwaltung und äußere Ordnung der Kirche bezüglichen Ordnungen seiner Vorgesetzten gebunden, bestreite denselben aber das Recht, auch wegen der Lehre bindende Vorschriften zu geben, sehe vielmehr selbst sich für berechtigt an, lediglich seiner Überzeugung zu folgen und leugne seinerseits die normative Autorität der heiligen Schrift, die Wunder, die Gottmenschheit Jesu“[1].

Klar, wer so etwas an die konsistoriale Behörde schrieb, stellte eine Gefahr für Ordnung und Disziplin dar. Es darf nicht verwundern, wenn Kalthoff wenig später, am 9. Mai 1878, „wegen grober Verletzung seiner Amtspflichten“,[2] aus dem Pfarramt entfernt wurde. „Grobe Verletzung der Amtspflichten“ – nun, das kennt man. Die Details, die für ein Disziplinarverfahren reichen und die falschen  Zeugen, die den Rausschmiß rechtfertigen sollen, sind immer schnell gefunden, wenn es darum geht, unbequeme Leute aus dem Amt zu entfernen. Und daran,  daß Kalthoff der  damaligen Kirchenleitung äußerst unbequem war, besteht kein Zweifel.

Hinzu kam, daß der damalige Konsistorialpräsident nicht eben ein Freund und Gönner des renitenten Predigers war. Das war ein gewisser Thomas Immanuel Christian Hegel (1865-1891) – also kein Geringerer als der Sohn des großen Philosophen –, ein Mensch von der Sorte: „Ich trage einen großen Namen“[3].

Wie auch immer, Kalthoff stand nach seinem Rausschmiß im wahrsten Sinne des Wortes auf der Straße, aber unbeugsam, wie er war, machte er erst einmal weiter  und tat das, was er vorher getan hatte, predigen. Und weil man  ihn in den Kirchen nicht mehr ließ, predigte er auf den Straßen und Plätzen. Auch freikirchliche Trauungen nahm er, trotz des eben eingeführten Tauf- und Trauzwangs, vor.

Mit seinem unnachgiebigen, kompromißlosen Auftreten hatte sich Kalthoff  eindrucksvoll der Kirchenleitung gegenüber behauptet. Doch die so verteidigte  persönliche Freiheit war das eine – die spürbare finanzielle Enge, die sich mit dem Verlust der Pfarrstelle einstellte und unter der er nun litt, das andere. Einige Zeit war er auch als Redner des Protestantischen Reformvereins tätig. Doch durch dessen raschen Niedergang war auch seine wirtschaftliche Existenz stark gefährdet. Kalthoff mußte, um sich über Wasser zu halten, Beiträge für die damalige Gartenlaube verfassen.

Rettung kam zuerst aus der Schweiz, wo er 1884 zum Pfarrer von Rheinfelden bei Ba­sel gewählt wurde. Danach aus Bremen, wo er im Herbst 1888 an die St. Martini-Kirche in Bremen berufen wurde, an der er seit 1894, nach dem Weggang seines Kollegen Moritz Schwalb, Primarius war.

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St. Martini – Kirche in Bremen – Foto: Dr. Hermann Detering

In dem Märchen von den Bremer Stadtmusikanten sagt der Esel zum Hahn: „Ei was, zieh lieber mit uns fort, wir gehen nach Bremen, etwas Besseres als den Tod findest du überall“. Bekanntlich finden die vier Stadtmusikanten dann in Bremen ein Haus und das gefällt ihnen so gut, daß sie, wie es heißt „nicht wieder hinaus wollten“. Für Kalthoff war das Haus, in dem er sein Glück machen sollte,  die Bremer St. Martini-Gemeinde. Die günstigen Bedingungen, die Kalthoff in der Kirche der Freien Hansestadt vorfand, trugen dazu bei, daß sich seine Begabungen frei und ungehindert entfalten konnten. In seiner St. Martini-Gemeinde sammelte er sich (vor allem unter den Bremer Lehrern) eine große Anhängerschaft, die in den Gottesdiensten Sonntag für Sonntag seinen Predigten lauschte. Die Gemeinde bot Raum für theologische Experimente, Predigten über Nietzsches Zarathustra und Goethe. Die Gemeinde bot ihm die Möglichkeit, schriftstellerisch, politisch und friedenspolitisch tätig zu sein. Kurz Kalthoff fand in der St Martini Gemeinde genau das, was er zur damaligen Zeit in Berlin-Brandenburg nicht fand und wohl nirgendwo sonst in Deutschland gefunden hätte

Alles in allem ein schöner Beweis dafür, daß es nicht  nur auf die individuellen Begabungen einer Persönlichkeit ankommt, sondern auch auf das soziale, politische und kulturelle Umfeld, in dem Begabungen sich entwickeln und gedeihen können. Und außerdem ein Wink in Richtung Kirchenleitungen und Konsistorien, daß sie am besten beraten sind, wenn sie weniger auf Ordnung und Disziplin achtgeben, als vielmehr darauf, ihren schutzbefohlenen Pfarrern den ihnen gemäßen Entfaltungsraum zu gewähren.

Freiheit vom historischen Jesus: Kalthoffs Kritik am liberalen Jesusbild  und das radikale Paradigma

Als Kalthoff seinen Kollegen Hoßbach verteidigte, war er noch Anhänger der Liberalen Theologie und konnte aus diesem Grund kühn  „die Gottmenschheit Jesu“ bestreiten. Von einer Leugnung der Menschheit  im Sinne der radikalen Leugnung der historischen Existenz Jesu war er damals noch weit entfernt. Auch in seinen 1880 gehaltenen Reden im Protestantischen Reformverein glaubte er noch „die in der neueren Theologie allgemein aberkannten Resultate ohne weitere Begründung einfach zugrunde legen“  zu können. Die „neuere Theologie“ war aber eben die Liberale Theologie, mit der sich Kalthoff zu diesem Zeitpunkt also noch d’ accord wußte.

Die Liberale Theologie des 19. Jahrhundert unternahm den Versuch, in den Schriften des NT den historischen Jesus zu entdecken. Das mag selbstverständlich klingen, war es aber damals keineswegs. Denn bis dahin fußte die orthodoxe Theologie auf dem Gottmenschen Jesus Christus. Nun aber sollte es der Mensch Jesus sein, der an die Stelle des wunderbaren fleischgewordenen Gottessohnes trat, eine Art Idealmensch mit einer unvergleichlich erhabenen Lehre. Damit war die moderne Jesus-Verehrung eingeläutet: der romantische Kultus des „Menschen“ Jesus. Man zeichnete ihn als menschliches Vollkommenheitsideal, als Vorbild, dem es nachzufolgen galt. Ganz im Stil der liberalen Jesus-Theologen konnte auch Kalthoff schwärmen:

„Wir haben ja doch in unserer Kirche noch ein Menschenbild, an dem wir das Geheimnis der Kunst, dem Volke die Religion zu erhalten, immer von neuem studieren können: das Bild des Menschensohnes, des Zimmermannssohnes aus Nazareth. Der hat den Menschen einmal in böser, kritischer Zeit an der Wende der Jahrhunderte die Religion erhalten, und wie er‘s gemacht hat, so wird es immer gemacht werden müssen: er hat die Ausgestoßenen und Enterbten seines Volkes aufgesucht und sie als Brüder und Schwestern behandelt.“[4]

Das Zitat zeigt, daß Kalthoff selber eine zeitlang der Lehre vom Idealmenschen und Vorbild Jesus anhing. Doch dann wurde er, wie Albert Schweitzer in seiner Geschichte der Leben Jesu Forschung spöttisch bemerkt,

„an dem Christus nach dem Fleisch, den er damals seinen Hörern vor Augen malte, so gründlich irre, daß er sogar im Theologischen Literaturkalender nicht mehr kennen wollte, und vergaß, jene auch im Druck erschienenen Vorträge unter seinen Werken aufzuzählen“.[5]

Wie es zu der Wende kam, läßt sich nur mutmaßen. In jedem Fall wird, wie später noch gezeigt wird, die Begegnung mit der Holländischen Radikalkritik daran kaum ganz unschuldig sein – auch wenn Kalthoff, der verständlicherweise gern  die Originalität seines Ansatzes betont, darauf eher selten zu sprechen kommt.

Die liberale Theologie hat sich bemüht, aus den Evangelien das Bild des historischen Jesus herauszufiltern.  Aber sie ist damit gescheitert. Sie ist deswegen gescheitert, weil ihre Methode eine falsche war, ihr Auswahlverfahren willkürlich.

Sein 1902 erschienenes Buch Das Christusproblem zeigt ihn dann erstmals  als radikalen Kritiker. Für den historischen Jesus der Liberalen Theologie hat er jetzt nur noch Hohn und Spott übrig. Vom „Zimmermannssohn des liberalen Christentums“, vom „harmlosen Landmann“ und „fröhlichen Optimisten“, dem „jungen Mann in Palästina, von dem die Gelehrten eigentlich nur wissen, daß er gerade das nicht gewesen ist, was er nach den Schriften der Bibel sein soll“, will Kalthoff fortan nichts mehr wissen.[6]  Der ganze liberale Jesuskult ist für ihn Totenkult:

„… Wo ist denn eine Spur von Leben noch in dem Gott der Theologen,“ – fragt er in den Zarathustrapredigten, „den sie mit ihren Gedanken sezieren, zerstückeln, zersägen; in diesem historischen Gott, dessen Geschichte die Gelehrten beschreiben, von dessen Zügen sich die Gläubigen ein haarscharfes Bild gemacht! Aber diese seine Geschichte ist ein Nekrolog, seine Züge sind eine Totenmaske.“[7]

Der historische Jesus der protestantischen Forschung ist ein durch und durch künstliches Konstrukt, voll innerer Widersprüche und als historische Person unvorstellbar. „Die zahlreichen Stellen in den Evangelien, die von dieser Theologe bei Seite geschoben, für ihren historischen Jesus gestrichen werden müssen, stehen literarisch genau auf einer Linie mit denjenigen Stellen, aus denen die Theologie ihren historischen Jesus zusammensetzt, sie beanspruchen also auch den gleichen historischen Wert, wie diese. Der synoptische Christus, in dem die moderne Theologie durchweg die Züge des historischen Jesus zu haben meint, steht einer wirklich menschlichen Auffassung des Christentums nicht um ein Haar breit näher, als der Christus des vierten Evangeliums. Der Jungfrauen-Sohn, der Auferstandene und gen Himmel Gefahrene ist als historische Persönlichkeit genau so unvorstellbar, wie der johanneische Christus …“[8]

Der historische Jesus der protestantischen Forschung ist ein durch und durch künstliches Konstrukt, voll innerer Widersprüche und als historische Person unvorstellbar. Man beachte, daß er in den neutestamentlichen Schriften durchweg als Gottmensch dargestellt wird. Aus diesem Gottmenschen kann man keinen Menschen dadurch machen, daß man das Göttliche subtrahiert. Sondern dieses Göttliche ist „in Christus stets und überall mit dem Menschlichen innerlich eins zu denken“.[9] Die von vielen Forschern angewendete „Abziehmethode“ kann deswegen nicht zum Erfolg führen, weil nach Abzug aller mythischen und wunderbaren Elemente kein historisches Individuum übrigbleibt. Bei dem historischen Jesus handelt es sich um ein reines Postulat der liberalen Theologie![10]

Aber warum ist die protestantische Theologie überhaupt auf den historischen Jesus verfallen?

Kalthoffs Antwort: Weil die bisherige protestantische Forschung noch ganz von dem Gegensatz zur römisch-katholischen Kirche geleitet war. Ihr Interesse war es, eine Quelle zu besitzen, welche die protestantische Auffassung gegen die katholische Verfälschung des Christentums  als ursprünglich erwies. So wurde der historische Jesus für sie zum Strohhalm, an „den das Autoritätsbedürfnis sich anklammert, von welchem die liberale Theologie nicht loskommt.“[11]

Aber der Gottessohn ist am Ende zum „Professorenchristus“ verkommen, der auf einer Universität wieder anders aussieht als auf der anderen;[12] zum leeren Gefäß, in das jeder Theologe seine eigenen Inhalte ergießt.

Daran hat sich bis heute übrigens wenig geändert. Bis heute spiegeln sich in den Jesusbüchern verschiedener Autoren nur die jeweiligen Interessen ihrer Autoren. Bei Franz Alt wird Jesus zum Vorkämpfer der Friedens- Frauen- und Ökobewegung , bei dem linken CDU ler Heiner Geißler zu einem linken CDU ler, den Vegetariern wird er ein zum Vegetarier, den Charismatikern ein Charismatiker usw. Bei Gerd Theißen ist er so sehr im Judentum integriert, daß man sich fragt, wie sich unter dieser Voraussetzung das Christentum überhaupt jemals vom Judentum abspalten konnte. Man fühlt sich an die Karikatur eines amerikanischen Zeichners erinnert, auf der verschiedene Jesusse zu sehen sind: mit Heiligenschein, als  Revoluzzer, als guter Hirte. Darunter die Aufforderung:  Will the real Jesus please stand up!

Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: Kalthoff war einer der ersten theologischen Vertreter der Friedensbewegung, der erste Pastor in Deutschland, der eine Frau auf der Kanzel predigen ließ und der sich entschieden gegen den Antisemitismus eines Stöcker  wandte. Aber Kalthoff wäre es im höchsten Grade historisch unredlich erschienen, seine eigenen politischen und ethischen Wertvorstellungen in einen vor 2000 Jahren gelebt habenden Menschen zu projizieren, um sie dann der Öffentlichkeit von den Kanzeln als Antwort auf die Fragen der Gegenwart zu verkaufen.

Die Evangelien sind aber für Kalthoff überhaupt „nicht Urkunden der Geschichte eines Individuums, sondern der einer sozialen Bewegung, der werdenden katholischen Gesellschaftsordnung“.

Die Geschichte des Christentums kann sich nach Kalthoff unmöglich so ereignet haben,  wie sie von den theologischen Kathedern seiner Zeit,  insbesondere von Harnack und seinem Anhang, gelehrt wurde.

„Diese historische Theologie“ so Kalthoff  „ist deshalb so ganz und gar unhistorisch, weil sie die neutestamentliche Litteratur nicht aus den treibenden Kräften ihrer Zeit, der werdenden katholischen Kirche … sondern aus der Bildungsperspektive der Gegenwart erklärt“, mit anderen Worten: aus einem Wunsch-Jesus erklärt, den sie sich willkürlich nach ihren eigenen Bedürfnissen zurechtgestutzt hat. Die Evangelien sind aber für Kalthoff überhaupt „nicht Urkunden der Geschichte eines Individuums, sondern der einer sozialen Bewegung, der werdenden katholischen Gesellschaftsordnung“.[13] Vom sozialtheologischen Standpunkte aus ist das Christusbild der „sublimierteste religiöse Ausdruck“ der in einem bestimmten Zeitalter wirksamen sozialen und ethischen Ideen.

Die Kirche wurde nicht durch einen Stifter namens Jesus konstituiert, auch nicht durch einen Kanon von vier Evangelien und apostolischen Briefen, sondern umgekehrt: die Kirche ist das Ursprüngliche, die Bibel das Abgeleitete! Die Kirche hat sich durch Auswahl ihren Bibelkanon allererst geschaffen und damit auch das Jesusbild.

„Wie das Leben unter allen Umständen ursprünglicher ist als die Schule, so hat auch die Kirche, wenn auch in ihrem Werden, als eine lebendige Realität die Bibel geschaffen, nicht umgekehrt.“[14]

Wenn man das erst einmal verstanden hat – und die Katholiken haben das immer besser verstanden als die Protestanten – dann wird auch klar, daß es keinen Weg gibt, der vom historischen Jesus der Liberalen  Theologie hin zur katholischen Kirche des 2. Jahrhunderts führt, sondern nur den von der Gemeindetheologie des 2. Jahrhunderts hin zum Jesusbild der Evangelien, in dem sich eben diese Theologie widerspiegelt.

Dennoch sind die Evangelien durchaus „als Geschichtsquellen zu verwerten; nur sind sie nicht Urkunden der Geschichte eines Individuums, sondern einer sozialen Bewegung, der werdenden katholischen Gesellschaftsordnung.“

Die Entstehung der Evangelien ist nach Kalthoff am besten vor dem Hintergrund der damals apokalyptischen Literatur zu verstehen. Der vorausgesetzte historische Schauplatz in Palästina und der vorausgesetzte historische Zeitraum um 30 sind Fiktion. Die Evangelien sind statt dessen im 2. Jahrhundert entstanden und schildern unter historischer Einkleidung Gemeindeverhältnisse aus dieser Zeit: denn

„die Apokalyptik liebt es, die ihr zu Grunde liegenden Zeitverhältnisse rückwärts zu datieren, oder auch in eine anders geartete geographische Umgebung zu verlegen.“[15]

Die Evangelien sind nach Kalthoff keineswegs in Palästina entstanden, sondern in den jüdischen Diasporagemeinden Roms, wie daraus hervorgeht, daß einige Gleichnisse und Erzählungen der Evangelien römische und nicht palästinensische (Rechts- und Besitz-) Verhältnisse  voraussetzen. Nach Rom weist vor allem die Petrus:

„Petrus ist für die Evangelien fast ebenso wichtig wie Christus. … Petrus ist unverkennbar die Personifikation der römischen Gemeinde und ihrer weltgeschichtlichen zentralisierenden Tendenz. Schon sein Name ist symbolisch: Petrus, der Felsen, auf den die christliche Gemeinde sich gründet.“[16]

Durchsichtig ist die Maske, die hinter der Gestalt des Petrus den römischen Episkopat verbirgt, z.B. an der Matthäus-Stelle, wo Petrus als der Fels der Kirche mit der Gewalt zu binden und zu lösen für Himmel und Erde, der sogenannten Schlüsselgewalt der Kirche, belehnt wird (Mt 16:19).

Was die Paulusbriefe betrifft, so sympathisiert Kalthoff mit der These der Holländischen Radikalkritik, wonach es sich dabei sämtlich um pseudepigraphische Schriften aus dem 2. Jahrhundert handelt.[17]

Exkurs: Kalthoff und die Holländische Radikalkritik

Kalthoff erwähnt die Holländischen Radikalkritiker in seinem 1902 erschienenen „Christusproblem“. Wer nach der Herkunft Kalthoffscher Gedanken fragt, wird nicht umhinkönnen, sich mit ihnen zu befassen. Daß ein persönlicher Link  zu den Radikalen in Holland bestand, läßt sich beweisen. Die Verbindung zu den Holländern erfolgte offenbar durch Kalthoffs Kollegen an Sankt Martini:  Moritz Schwalb.

Bei einer von der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit und der Deutsch Israelischen Gesellschaft veranstalteten Vortragsreihe wäre gerade über ihn, den konvertierten Juden, viel zu sagen. Aber das müßte einmal an anderer Stelle geschehen (vgl. den Beitrag über Moritz Schwalb von Eberhard Hagemann). Jedenfalls war Schwalb mit dem holländischen Theologen Abraham Dirk Loman aus Amsterdam befreundet, der als geistiger Nestor der Holländischen Radikalen galt. Loman hatte am  13. Dezember 1881 im Haus der Vrije Gemeente in der Weteringschans in Amsterdam einen umstrittenen Vortrag gehalten. Im Mittelpunkt des Vortrages stand die These, daß das frühe Christentum nichts anderes war als eine jüdisch-messianische Bewegung und daß der Jesus der Evangelien keine historische Person gewesen sei, sondern die Verkörperung von Ideen und Gedanken, die erst im 2. Jahrhundert historisch nachweisbar seien. Die These, daß die Paulusbriefe sämtlich unecht seien, wurde von Loman in seinem Vortrag ebenfalls angedeutet und später in seinen  Quaestiones Paulinae wissenschaftlich vertieft.

Die Eliminierung des geschichtlichen Jesus wird von Loman nicht als Verlust, sondern als Gewinn und Befreiung im Hinblick auf den Glauben gewertet. Dem liberalen Jesus-Kult steht er kritisch gegenüber: In seiner Nachschrift zum Vortrag vom 13. Dezember sieht er einen  Irrtum darin, „Jesus von Nazareth weiterhin als religiösen Heros“ zu verehren – wie dies die Liberalen Theologen tun. Es existiert ein Briefwechsel zwischen Schwalb und Loman, der belegt, daß  man an St. Martini offenbar bestens über die theologische Situation in Holland unterrichtet war. Loman klagt in einem Brief an Schwalb vom 24. April 1889  darüber[18], daß er sich selbst von seinen Freunden mißverstanden fühle.

„Oefters bekam ich den Eindruck dass meine Freunde mich besser verstanden hätten, wären sie nicht durch ihre Jesulatrie für die Wahrheit unempfindlich geworden … Mir ist’s als ob heutzutage eine ungesunde Luft in Kirche und Staat die Entwicklung der theologischen Wissenschaft hemmt.“[19]

In Kürze haben wir bei Loman alle Punkte, die auch für Kalthoffs Position charakteristisch sind, beieinander:  Ablehnung der als „Jesulatrie“ kritisierten Liberalen Jesus-Theologie, Leugnung des historischen Jesus, Bestreitung der Echtheit sämtlicher Paulusbriefe und Entstehung der neutestamentlichen Schriften im 2. nachchristlichen Jahrhundert.

Wie sich in dem Gottesknecht des Deuterojesaja das Schicksal Israels spiegelt, so spiegelt sich in ihm die Geschichte der christlichen Gemeinde selber wider.

Es ist keine Frage, daß Kalthoff sein historisches Paradigma von den Holländern, speziell wohl von Loman, übernommen, dann aber auf seine ganz besondere Weise geprägt und seine besondere persönliche Note gegeben hat.

Wie für Loman ist auch für Kalthoff das neutestamentliche Jesusbild nichts anderes als das historisierte Messiasbild des späten Judentums. Wie sich in dem Gottesknecht des Deuterojesaja das Schicksal Israels spiegelt, so spiegelt sich in ihm die Geschichte der christlichen Gemeinde selber wider. Das Kreuz Christi ist das Kreuz der im Römischen Reich erstmals unter Trajan verfolgten jüdischen Messiasgemeinden.

„Wie viele Tausende Juden und Sklaven am Kreuze gestorben sein mögen: Der gekreuzigte Christus des Neuen Testaments ist kein einzelner von diesen allen, er ist ihre ideale Zusammenfassung in der Kreuzesgeschichte der Christusgemeinde, und es hat alle Wahrscheinlichkeit für sich, daß diese Kreuzesgeschichte in der Trajanschen Christenverfolgung ihren historischen Hintergrund und biblischen Abschluß gefunden hat“.[20]

Man vergleiche damit Loman:

„Gemäß der vorgestell­ten Hypothese ist dieser Jesus von Nazareth nichts anderes als der ideale Sohn der jüdischen Nation selbst … jener jüdischen Nation, die ihr Kreuz getragen und sonach von der Welt mit Füßen getreten wurde; der leidende Messias, der Knecht Gottes, der sich auch aus seiner Erniedrigung erhob und mit Herrlichkeit gekrönt wurde. Freilich erst, nachdem Tempel und Stadt durch die Römer verwüstet waren, nachdem das Israel nach dem Fleisch untergegangen, von den Toten auferstanden und mit dem neuen Namen, Christentum, getauft war“.[21]

Ich sagte anfangs: Auch die Leugnung des historischen Jesus hat bei Kalthoff etwas zu tun mit seinem Lebensthema Freiheit. Die Eliminierung des historischen Jesus gilt Kalthoff – ebenso wie dem schon  erwähnten Loman – als  Befreiungsakt. Warum?  Weil der Vorbild-Jesus der Liberalen Theologie eine neue Form der Gesetzlichkeit einführt. Er schnürt den Geist des Gläubigen in ein gesetzliches Korsett und steht dessen Entwicklung zu einem freien, selbstbestimmten Subjekt im Wege.

Kalthoff berührt sich an dieser Stelle eng mit dem von ihm sonst nirgendwo erwähnten Bruno Bauer. Auch für Bauer spiegelt sich in Christus nur das sich selbst entfremdete, in den Himmel erhobene, zu Gott gewordene Selbstbewußtsein der Gemeinde. Zur wahren Freiheit kann sie nur gelangen, indem sie diese Täuschung erkennt und den grausigen Zauber der Selbstentfremdung des Ich überwindet.

Ans Ende seiner polemischen Abrechnung mit Bousset stellt Kalthoff  ein Zitat aus einem Aufsatz von Ellen Key – einer bekannten Frauenrechtlerin und Verfasserin des bekannten Buches „Das Jahrhundert des Kindes“ – aus: „Die Wenigen und die Vielen“:

„Wir stehen jetzt vor der nächsten großen Selbständigkeitserklärung, nämlich der, daß die Menschennatur in ihren eigenen Tiefen und ihren eigenen Gesetzen die Möglichkeit zu einer immer höheren ethischen Harmonie und Entwicklung hat. Die Lehre von dem Idealmenschen Jesus, als der einzig lebenden und lebengebenden  Norm der Sittlichkeit steht dieser Selbständigkeitserklärung entgegen.“

Kalthoff bestätigt das ausdrücklich:

„In dieser Forderung, in der Bejahung der eigenen Autonomie und der Verneinung jeglicher Gebundenheit an eine fremde Autorität, trifft ein Wissen, das vollen Ernst macht mit seinem eigenen Begriff, durchaus zusammen mit einem Glauben, der wirklich aus religiösen Lebenswerten gebildet ist. Die Erfüllung  dieser Forderung wird nur unmöglich gemacht bei jener gläubigen Gelehrsamkeit und jener gelehrten Gläubigkeit, die nach Art der Theologie Boussets weder zum Glauben noch zum Wissen innere Kraft besitzt und sich deshalb mit ihrem versinkenden Glauben an ihren Strohhalm eines angeblichen Wissens von Jesu anklammert.“[22]

Für Kalthoff ist also die Eliminierung des historischen Jesus keineswegs das Ende von Glauben und Theologie, die Erkenntnis der Nichtexistenz Jesu hat für den Glauben vielmehr positive Bedeutung insofern, als er dadurch von der Tyrannei einer Vorbild-Christologie erlöst wird, die letztlich noch schlimmer ist als das katholische Papsttum.

Kalthoff geht es um eine illusionslose Betrachtung der Geschichte, auch der christlichen. Da sein Glaube nicht auf historischen Tatsachen bzw. sog. Heilsfakten ruht, hat er es gar nicht nötig, für ihn historische Beweisgründe zu suchen. Ob Jesus gelebt hat oder nicht, ist für ihm  letztlich gleichgültig, da, selbst wenn er gelebt hätte und wir in der Lage wären, seine Ansichten zu rekonstruieren, diese für den Menschen der Gegenwart immer nur historischen, aber niemals religiösen  Wert haben könnten.

„Der Christus, der uns Heutigen das bedeutet, was der Christus der Evangelien für seine Zeit gewesen ist, kann nie ein historischer, ein vergangener Christus sein, er muß aus dem gesamten Inhalt des modernen Lebens, aus den treibenden Kräften unserer gesellschaftlichen Kultur geboren werden, er kann nur ein Menschenbild sein, in dem alle gärenden, alle aufwärts und vorwärts strebenden Tendenzen der heutigen Menschheit ihren verklärten, vergeistigten und vermenschlichten Ausdruck finden.“

Von allen Leistungen Kalthoffs scheint mir diejenige die bemerkenswerteste, daß mit ihm erstmals ein Theologe in Deutschland – nach Bruno Bauer – den Mut fand, der erstaunten Öffentlichkeit  die  Ergebnisse der radikalen historischen Bibelkritik mitzuteilen. Kalthoffs historische Arbeiten, die allerdings  mehr den Charakter eines Manifests oder einer historischen Skizze als eines ausgeführten Programms tragen, verdienen bis heute Beachtung. Während viele seiner Predigten oft schon einen etwas angestaubten,  allzu betulichen Eindruck machen und sowohl in inhaltlicher als auch in stilistischer Hinsicht noch stark den Geist des Gründerzeitalters  atmen, wirken seine Schriften immer dann, wenn er Kritik am Jesuskult der Liberalen  übt, so frisch, bissig und aktuell wie eh und je. Ebenso seine Polemik am Historismus und der Vergangenheitsorientierung des Glaubens. Der Biblizismus einiger Christen erinnert Kalthoff an das senile Gebrabbel von Greisen, die „dieselbe Geschichte  hundertmal erzählen, und jedesmal meinen …  ihre Zuhörer müßten an ihren Worten dieselbe Freude haben, die sie dabei empfinden.“[23]

Kalthoffs Thesen über die Entstehung des frühen Christentums sind auch heute keineswegs überholt und dem Liebhaber  unvoreingenommener Bibelkritik sicherlich wertvoller als die Platitüden und der x-fache Aufguß der Leben-Jesus-Forschung, den wir bis heute unter immer neuen Etiketten („Neue Frage“ „Third Quest“ etc.) in den Büchern von Gerd Theißen, Klaus Berger, J.D. Crossan usw. antreffen.

Kalthoff – und andere mit ihm – hatte die Tür zu einem neuen Paradigma geöffnet; es besagt, daß sämtliche neutestamentlichen Schriften im 2. nachchristlichen Jahrhundert entstanden sind, Evangelien, Paulusbriefe, katholische Briefe, Apokalypse – alles. Die Tür, die Bauer, die Holländer, Kalthoff und einige andere aufgestoßen haben, steht immer noch offen. Nur gibt es bis heute wenige Wissenschaftler, die  bereit sind, hindurchzugehen und das Neuland zu betreten. Da es dafür keine wissenschaftlichen Gründe gibt, kann es nur andere geben: Voreingenommenheit, Unwissenheit, Borniertheit, Angst.

Einen Rückfall in die vorkritische Zeit stellt das letzte Jesus-Buch  des Theologen Klaus Berger dar, ein Buch von dem man nicht recht weiß, ob man es überhaupt unter die historischen Jesusbücher einreihen darf[24]. Als historisch-kritisch kann dieses Buch selbst im Sinne des Verfassers schon deswegen nicht bezeichnet werden, weil Berger, sich ausdrücklich von der historisch-kritischen Methode abgrenzt und einen Wirklichkeitsbegriff voraussetzt, der (natur-) wissenschaftlich feststellbare Fakten nicht bloß transzendiert, sondern diese schlichtweg ignoriert. Für seine Verabschiedung des historischen Analogiekriteriums bemüht Berger vage postmodernistische und konstruktivistische Kategorien; er nennt das Ganze „Mystik“: „Mystik ist die Definition der Welt unter Einschluß der Existenz Gottes und der Annahme der Möglichkeit von Interaktion mit allen ,Personen‘ und Mächten der unsichtbaren Welt.“[25] Darum kann sich in Bergers „mystischem“ Weltbild alles genauso  verhalten, wie es uns die Evangelisten berichten: die Welt ist bevölkert von Engeln und Dämonen, Jesus trägt „die Spuren der Entstehung durch den Heiligen Geist noch an sich“, sein Leib wurde einst wirklich  auf dem Berge verklärt und wandelte tatsächlich auf den Wellen und erstand körperlich auf. Blinde sehen, Lahme gehen und Tote stehen auf – und wehe all jenen kleingläubigen Exegeten, die solche Wunder symbolhaft aufzulösen  wagen und damit bereits die Substanz des christlichen Glaubens gefährden! Am Ende wird selbst die Höllenfahrt für Berger zur historischen Begebenheit[26]. Die Arbeit des Jesus-Forschers besteht nur noch in der Paraphrase neutestamentlicher Wundergeschichten und Legenden, die in mal erbaulichem, mal räsonierendem  Predigtton vorgetragen werden. Bergers dekretiert: „Bis zum Erweis des Gegenteils sind die neutestamentlichen Berichte (im Sinne der Historiker) als historisch wahr anzunehmen.“ Da sich für Berger aber die Auseinandersetzung mit jenen, die eine andere Auffassung vertreten, offenbar nicht lohnt, hat er freies Feld für seine Jesus-Phantasien.

Klaus Berger hat neue Begriffe entdeckt („Postmodernismus“, „Konstruktivismus“), um alte kirchliche Ladenhüter in moderner Verpackung an den Mann zu bringen und eine Exegese zu betreiben, die den Namen nicht verdient. Ärgerlich ist besonders der dilettantische Gebrauch des Begriffes Mystik. Berger bezeichnet alles als „mystisch“, was nicht mit rechten Dingen zugeht, also naturwissenschaftlich nicht erklärt werden kann. Das alles hat mit der echten Mystik (z.B. der eines Areopagiten oder eines Eckehart) nicht das Geringste zu tun. Berger scheint mystisches und mythisches Weltbild miteinander zu verwechseln.

Wenn Berges Buch den letzte Stand der protestantischen Jesus-Forschung darstellen sollte, stünden wir nach 200 Jahren historisch-kritischer  Forschung wieder ganz am Anfang: Da würde sich nicht nur  Kalthoff im Grabe umdrehen, sondern auch ein Ferdinand Christian Baur und Rudolf Bultmann – was allerdings Berger kaum bekümmern dürfte. Berger betreibt keine Restauration, sondern eine Infantilisierung des Glaubens.

Es ist bedauerlich, daß Kalthoffs Entstehungsgeschichte des Christentums – nicht zuletzt durch seinen frühen Tod – ein Entwurf geblieben ist. Zu kritisieren ist vor allem, daß er den Anteil der Apokalyptik im Hinblick auf die Entstehung des Christentums zu hoch und den der Gnosis zu gering einschätzt. Aber das mag mit Kalthoffs Monismus zu tun haben, auf den ich gleich zu sprechen komme. Als Monist hatte Kalthoff für den Dualismus der Gnosis wohl nicht die notwendigen Sensoren.

Von der Freiheit eines Theologen, Monist zu sein – Kalthoffs Verhältnis zum Monismus und zu  Haeckel

Schon 1902 hatte Kalthoff in seinem Christusproblem eine neue Weltanschauung gefordert, die über den Dualismus der alten hinausführen sollte. Geist und Materie sollen sich in dieser neuen Anschauung nicht länger unversöhnlich gegenüberstehen, sondern einheitlich in ihrer Wechselwirkung und gegenseitigen Bedingung verstanden werden.

Ernst Haeckel
Ernst Haeckel

Diese monistische Auffassung wollte Kalthoff  damals noch, „bis ein besserer Name gefunden sein wird“, als realistische bezeichnen, später hat er sie dann als das bezeichnet, was sie ist. Kalthoff  übernahm mit ihr Gedanken, die in seiner Zeit von dem Evolutionswissenschaftler und  Zoologen Ernst Haeckel vertreten wurden. Haeckel hat bis heute das Verdienst, Darwin in Deutschland eingebürgert zu haben. Dessen Evolutionstheorie wird unter anderem in seinem zum Bestseller avancierten Buch „Welträtsel“ dargelegt. Haeckels Buch löste einen regelrechten Begeisterungssturm aus, das Wort Monismus war nun in aller Munde, überall sammelten sich Anhänger der neuen Bewegung.

So kam es genau vor hundert Jahren im Januar 1906 zur Begründung des DMB, des Deutschen Monistenbundes in Jena. Der erster Vorsitzender war kein Geringerer als: der Bremer Pastor Albert Kalthoff.

Ein Theologe an der Spitze einer Bewegung, die weithin im Verdacht stand, eine rein naturgesetzliche – „innerweltliche“  Erklärung des Daseins zu geben, in der Begriffe wie Gott, Schöpfung, ewiges Leben keinen Platz hatten. Wie kam es dazu?

In seinem Aufsatz Ein deutscher Monistenbund aus dem Jahre 1906[27] hat Albert Kalthoff  auf einigen  Seiten  des Blaubuchs einen lesenswerten Bericht darüber gegeben, auch über seine erste persönliche Begegnung mit Ernst  Haeckel.

Kalthoff war nach Jena gekommen, um der am 11. Januar stattfindenden konstituierenden Sitzung des  Deutschen Monistenbundes beizuwohnen. Zum Zeitpunkt seines Eintreffens wußte er allerdings noch nicht, daß Haeckel, den er bis dahin nur literarisch und brieflich kannte,  ihn dazu ausersehen hatte, den Vorsitz des DMB zu übernehmen. Haeckel wollte ihm dies erst in einem vertraulichen Vorgespräch eröffnen, zu dem er Kalthoff und seinen Assistenten Heinrich Schmidt am Vormittag in seine „Villa Medusa“ eingeladen hatte.  Kalthoff war von einer „gespannten Erwartung“ erfüllt, „wie sich wohl der erste Eindruck seiner Persönlichkeit mir darstellen werde“, als er „die nach ihm benannte Straße zu seiner Villa“ hinaufging.

Der beiläufige Hinweis  auf die nach Haeckel benannte Straße ist wohl nicht ganz zufällig und deutet bereits auf das Gefälle zwischen den beiden Männern. Auf der einen Seite Kalthoff – 16 Jahre jünger als Haeckel und trotz einiger Publikationen und eines beachtlichen Anhangs in St. Martini in Bremen ein der deutschen Öffentlichkeit kaum bekannter Theologe und Freigeist. Auf der anderen Seite der schon zu Lebzeiten zur Legende gewordene, in seiner „Villa Medusa“ residierende Ernst Haeckel, Forscher, Zoologe und Buchautor, der für seine wissenschaftlichen Leistungen bereits  mit vielen Ehrendoktorwürden honoriert worden war, dessen Welträtsel ein in viele Sprachen übersetzter internationaler Bestseller war, der mit seinen Beiträgen das geistige Leben des wilhelminischen  Deutschland nachhaltig beeinflußt hatte, dem noch zu Lebzeiten  Büsten gefertigt – und nach dem Straßen benannt wurden!

Kalthoff  hatte davon gehört, daß Haeckel leidend sei, dieser selbst hatte ihm von den Beschwerden des Alters geschrieben. So zeigte sich Kalthoff

„freudig überrascht, den 72 jährigen, auf dessen Schultern die Last einer Riesenarbeit liegt, mir so elastisch entgegenkommen zu sehen. Das leuchtende Künstlerauge, die sonnige Heiterkeit seines Wesens zeigten mir das Bild eines Kämpfers, der im Kampfe nur sich selber vertieft und verklärt, weil es eine große, eine Menschheitssache war, für die er gekämpft.“

Der Inhalt der Unterredung faßt den Kern der von Haeckel und Kalthoff vertretenen monistischen Weltanschauung zusammen: Auf die Versicherung, daß der Monismus als antidogmatische Bewegung nicht seinerseits Dogmen produzieren dürfe, folgt eine Kritik an der dualistischen Weltanschauung, die als „zwiespältiges Lebensbild, wie es dem kindlich naiven Denken der Vorfahren genügte“, bezeichnet wird. Sie sei in  einer Epoche der fortgeschrittenen naturwissenschaftlichen Erkenntnis obsolet geworden und müsse für die  auf dem ganzen Kulturleben lastende „Halbheit und Zerfahrenheit“ verantwortlich gemacht werden. Demgegenüber gelte es, „die Kulturwerte aufzuzeigen, die in einer monistischen, das Weltbild einheitlich betrachtenden, alle Lebensfunktionen auf ihren inneren Zusammenhalt zurückführenden Weltanschauung beschlossen liegen“. Die Einheit müsse noch fester bestimmt werden, damit die

„Moral, die Kunst, die Religion als besondere Erscheinungsformen des in sich einheitlichen Lebens erkannt und gewürdigt, und auch die gesellschaftlichen Vorgänge, die politischen und sozialen Bildungen und Entwicklungen in ihrer biologischen Bedingtheit erfaßt werden“.[28]

Hinsichtlich ihrer Anschauungen über Grundlagen und Zielsetzung des  Monismus  gibt es zwischen den beiden Männern keine Meinungsverschiedenheiten.[29] Das von Kalthoff  etwas weitschweifig umschriebene Programm ist die Paraphrase einiger von Haeckel schon in seinen Welträtsel ausgesprochenen Gedanken sowie des später im Altenburger Vortrag  wiederholten Glaubensbekenntnis[ses]  der reinen Vernunft. [30]

Kalthoff, der die monistischen Gedanken eloquent zu formulieren und öffentlichkeitswirksam vorzutragen verstand, war trotz seiner theologischen Herkunft, in den Augen Haeckels ein ideales Sprachrohr und ein geeigneter Vorsitzender des DMB.  Daß Kalthoff sich angesichts der Größe der Aufgabe noch eine Weile zierte, ist sicher wenig mehr als bescheidene Attitüde. Am Ende läßt er sich natürlich doch erweichen, vor allem durch „Hinweisung auf die Männer, welche ihre Kräfte in den Dienst der Sache“ stellen wollen und erklärt sich, wenigstens „vorläufig“, zur Übernahme dieses Amtes bereit.

Nachdem Haeckel noch einmal seiner Freude Ausdruck verliehen hat, daß das Werk, „an das er selber nur nach ernstesten Erwägungen Hand angelegt habe, jetzt der Verwirklichung nahe gerückt sei“,  verabschiedet er sich auf Anraten seines Arztes, der ihm nur eine halbe Stunde gestattet hatte, vom Gründungskomitee. Die Szene wird mit einem Bonmot aus dem Mund von Adlatus Schmidt abgerundet:

„Ich weiß, daß unser [!] Professor, dessen Hauptleiden nervöse Schlaflosigkeit ist, in der kommenden Nacht einmal besser schlafen wird.“

Kalthoff  war sich über die historische Dimension seiner Begegnung mit Haeckel gewiß im klaren. Er schildert eine ideale Szene. So hätte es sein sollen: Der Ältere übergibt dem Jüngeren am Ende eines langen Forscherlebens sein Vermächtnis und beauftragt ihn damit, sein Lebenswerk, das heißt die Sache des Monismus, fortzuführen. Haeckel – eine Art Mose, Begründer einer neuen Religion, der „Monistenreligion“ – dem es selber voraussichtlich nicht mehr vergönnt sein würde, das Heilige Land zu betreten, Kalthoff als dessen Nachfolger Josua. Die von Haeckel im Altenburger Vortrag programmatisch geforderte Verbindung von Wissenschaft und Religion sollte durch den Monistenbund unter Vorsitz des jüngeren Kalthoff  in die Tat  umgesetzt werden. In dem beruhigenden Wissen, daß sich sein Vermächtnis in guten Händen befand, hätte Mose-Haeckel fortan der wohlverdienten Ruhe pflegen können. Josua-Kalthoff sollte es vorbehalten bleiben, das Volk ins Gelobte Land des Monismus zu führen.

Die von Kalthoff sorgfältig stilisierte Szene wurde genau vier Monate später von der Realität ad absurdum geführt. Das Schicksal, das sich menschlichen Inszenierungen und Selbstinszenierungen gegenüber gewöhnlich als wenig einfühlsam zu erweisen pflegt, hatte es anders gewollt: Nicht der Ältere starb zuerst, sondern der soeben designierte Nachfolger. Kalthoff erkrankte kurz nach der Begegnung mit Haeckel und verschied noch am 11. Mai desselben Jahres nach einer durch eine Bronchitis verursachten Herzaffektion. Der greise Haeckel hingegen, dem der Arzt bei der konstituierenden Sitzung aus gesundheitlichen Gründen nur eine halbe Stunde des Beiseins gestattet hatte, sollte ihn noch um 13 weitere Jahre überleben und starb erst nach dem 1. Weltkrieg am 5. August 1919.

Gewiß, der durch den Tod von Kalthoff vakant geworden  Platz des Vorsitzenden wurde schnell wieder besetzt, und die Geschichte des Monistenbundes ging auch ohne den freisinnigen Theologen  aus Bremen weiter. Aber die historische Bedeutung der Begegnung in Jena war durch Kalthoffs frühen Tod und dadurch, daß sein Vorsitz im Monistenbund nur eine flüchtige Episode geblieben war,  erheblich relativiert worden. Möglicherweise hätte auch die Geschichte des Monistenbundes mit Kalthoff als Vorsitzenden einen anderen Verlauf genommen. Der von Haeckel initiierte kühne Streich, ausgerechnet einen Theologen zum Vorsitzenden des Monistenbundes zu machen, ließ sich nicht ein zweites Mal wiederholen.  Mit dem Chemiker Wilhelm Ostwald übernahm 1912 ein profilierter Naturwissenschaftler die Leitung des DMB. In der ideologischen Ausrichtung des Monistenbundes, der in dieser Zeit – darf man sagen: noch ein wenig dualistisch? – zwischen Naturalismus und Idealismus hin und herpendelte, wurde damit eine klare Entscheidung zugunsten  des Naturalismus getroffen.[31] Die  von Haeckel mit der Nominierung von Kalthoff einst anvisierte Annäherung und Aussöhnung von Religion und Wissenschaft war damit auf Eis gelegt, vielleicht sogar revidiert worden. Der Ausstieg selbst „radikaler“ Theologen, wie der Kalthoff-Nachfolger  Steudel und Mauritz, war, soweit nicht durch kirchliche Repression erzwungen, bereits eine Konsequenz der zunehmenden „Naturalisierung“ bzw. Säkularisierung des DMB nach dem Tode Kalthoffs.[32] Der an E. von Hartmann angelehnte idealistische Monismus eines Arthur Drews fand innerhalb des Monistenbunds, trotz rühriger literarischer Tätigkeit des Philosophen aus Karlsruhe, nie nennenswerten Widerhall.[33]

Die Schnittmenge zwischen Haeckel und Kalthoff war zum Zeitpunkt der Gründung des DMB, so groß, daß die die Differenzen (noch) nicht ins Gewicht fielen. Die entscheidende  Frage jedoch ist, wie lange die Verbindung Bestand gehabt hätte. Die Beziehung hatte ja den „Vorzug“, sich nicht weiter bewähren zu müssen. Kalthoff starb nur wenige Monate, nachdem er den Vorsitz des DMB übernommen hatte. Von den Schwierigkeiten, die dadurch auf ihn persönlich, aber auch auf den Monistenbund zukommen sollten, hat er allenfalls ein Wetterleuchten wahrnehmen können.[34]

So bleibt vieles ungeklärt. Wie wäre Haeckels Befürwortung des Weltkriegs vom Pazifisten Kalthoff beurteilt worden? Oder dessen zunehmender Nationalismus? Oder sein Austritt aus der Kirche im Jahre 1910? Sein Eintreten für die Euthanasie? [35] Hätte Kalthoff der wachsenden öffentlichen Kritik nachgegeben und den Vorsitz des DMB niedergelegt? Hier lag eine Menge Konfliktpotential, das die Verbindung der beiden Männer vermutlich noch oft auf die Probe gestellt hätte.

Kalthoff im Kreis seiner Freunde - Staatsarchiv Bremen
Kalthoff im Kreis seiner Freunde – Staatsarchiv Bremen

Auf einem ganz anderen Blatt steht die Frage, ob denn der „Monismus Kalthoffs letztes Wort gewesen“ wäre[36]. Bei einem so flexiblen und wandlungsfähigen  Geist läßt sich das schwer beantworten. Gehen nicht auch „wahlverwandte“ Elemente  Verbindungen oft nur „auf Zeit“ ein? In der Natur ist nichts von Dauer. Es gilt: Tempora mutant et nos mutamur in illis.

Festzuhalten bleibt, daß aufgrund zahlreicher persönlicher und inhaltlicher Übereinstimmungen durch Haeckel und Kalthoff im Januar 1906 eine einmalige geistesgeschichtliche Konstellation herbeigeführt wurde, eine Koalition zwischen Monismus und theologischem Radikalismus, eine Verbindung, so eng, daß der Monismus in dieser Zeit als Radikalismus und der Radikalismus als Monismus gelten konnte.

Doch diese Konstellation war ein überaus fragiles Gebilde und dauerte nur kurz. Um es präzise zu sagen: ganze vier Monate – vom 11. Januar bis zum 11. Mai 1906.

Literatur

Johannes Abresch, Enfant terrible im Talar. Albert Kalthoff (1850-1906), in: Geschichte im Wuppertal 5 (1996), S. 18-51.  (= Enfant terrible)

Heinrich Bösking, Kalthoffs Gedenken, in: Das Blaubuch, 1. Jg., Nr. 19, Berlin 1906, S. 927-930.    (= Kalthoffs Gedenken)

Ernst Haeckel, Die Welträthsel. Gemeinverständliche Studien über Monistische Philosophie. Volks-Ausgabe, Stuttgart 1903, 171.-180. Tausend. Mit einem Nachworte: Das Glaubensbekenntniß der Reinen Vernunft.  (= Welträtsel)

Albert Kalthoff, Schleiermachers   Vermächtnis   an  unsere   Zeit.    Religiöse Reden. Berlin 1896.   (= Schleiermachers   Vermächtnis)

Albert Kalthoff, An der Wende des Jahrhunderts.    Kanzelreden  über  die sozialen Kämpfe unserer Zeit. 1898.   (=An der Wende des Jahrhunderts)

Albert Kalthoff, Das Christus-Problem. Grundlinien zu einer Sozialtheologie, Leipzig 1902, 19032.  (= Christus-Problem)

Albert Kalthoff, Religiöse Weltanschauung. Reden, Leipzig 1903. (= Religiöse Weltanschauung)

Albert Kalthoff, Die Entstehung des Christentums. Neue Beiträge zum Christusproblem, Leipzig 1904. (= Die Entstehung des Christentums)

Albert Kalthoff, Was wissen wir von Jesus? Eine Abrechnung mit W. Bousset, Berlin 1904, Jena 19122 .    (= Was wissen wir von Jesus?)

Albert Kalthoff,  Zarathustra-Predigten. Reden über die sittliche. Lebensauffassung Friedrich Nietzsches, Jena 1904, 19082.  (= Zarathustra-Predigten)

Albert Kalthoff, Die Religion der Modernen, Jena/Leipzig 1905.  (=Religion der Modernen)

Albert Kalthoff, Modernes Christentum, Berlin o. J. (1906)  (=Modernes Christentum)

Albert Kalthoff, Ein deutscher Monistenbund, in: Das Blaubuch, Wochenschrift für öffentliches Leben, Literatur und Kunst, herausgegeben von Dr. H. Ilgenstein u. Dr. A. Kalthoff, 1. Jg., Nr. 3, Berlin 1906, S. 109-111.  (=Ein deutscher Monistenbund)

Albert Kalthoff, Zukunftsideale. Nachgelassene Predigten, mit einer  Lebensskizze hg. mit biogr. Einl. v. dems., Jena 1907  (=Zukunftsideale)

Arthur Titius, Der Bremer Radikalismus, Tübingen 1908.  (= Bremer Radikalismus)

 

[1] VEECK, Bremische Biographie, S. 241

[2] VEECK, a.a.O., S. 241 –  (s. Verteidigungsrede des Pfarrers Dr. K. wider die Anklage des Konsistoriums der Provinz Brandenburg zu Berlin, sowie: Verhandlungen zwischen Dr. K. und dem Ev. Oberkirchenrate Schwiebus, 1878).

[3] Hegel, Thomas Immanuel Christian war Konsistorialpräsident der Provinz Brandenburg (1865-1891), Theologe, Politiker. Sein Ehrengrab befindet sich auf dem Alten St. Matthäus-Friedhof Tempelhof-Schöneberg  24.09.1814-26.11.1891 10829 Berlin, Großgörschenstr. 12 (Grablage: D-s-8)

[4] Albert Kalthoff, Dem Volke muß die Religion erhalten bleiben! Vortrag im Bremer Protestantenverein 1892.

[5] A. Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung,  361.

[6] Siehe: Das Christus-Problem, 20ff;  Die  Entstehung  des   Christentums, 9; Die Religion der  Modernen, 1905, 181. 289-293; Modernes Christentum, 22f.;  Was wissen wir von Jesus?  Eine Abrechnung mit Prof. Bousset, 1904, 23; vgl. Titius, a.a.O. 93.

[7] Zarathustra-Predigten,167.

[8] Die  Entstehung  des  Christentums, 14.

[9] Die  Entstehung  des  Christentums,  9.

[10] Die Kritik der Dialektischen Theologie am liberalen Jesus-Kult wird in radikal zugespitzter Weise vorweggenommen.

[11] Das Christus-Problem, 13.

[12]  Was wissen wir von Jesus?  40f: „Dieser Professorenchristus, der auf der einen Universität wieder anders aussieht als auf der anderen, soll unserm Volke angeboten werden als ‚Weg, Wahrheit und Leben’? Das heißt: In unserer Kirche soll ein Professorenregiment aufgerichtet werden, nachdem wir das Priester- und das Pastorenregiment abzuschütteln begonnen haben.“

[13] Das Christus-Problem, 69.

[14] Christusproblem, 24.

[15] Christusproblem, 30.

[16] Christusproblem, 44.

[17] Die  Entstehung  des   Christentums, 110. Vgl. H. Detering, Paulusbriefe ohne Paulus? Die Paulusbriefe in der holländischen Radikalkritik, 1992, 64. 411ff. – ders.: Der gefälschte Paulus, 1995.

[18] Kalthoff war seit 1888 Pastor an der St. Martini-Kirche.

[19]  Aus der Bibliothek des Evangelisch-Luthersch Seminarie (in der Universiteits-Bi­bliotheek in Amsterdam); zitiert nach G.A. van den Bergh van Bergh van Eysinga, Loman na zestig jaren, S. 4.

[20] Die  Entstehung  des   Christentums, 108

[21] A.D. Loman, Het oudste Christendom, in: Stemmen uit de vrije gemeente, 1881, 16.

[22]  Was wissen wir von Jesus?

[23] Religiöse Weltanschauung, 215.- „Darum liegt auf der Vergangenheitsreligion der Fluch der Unseligkeit , den die Menschen um so qualvoller empfinden, je heißer ihr Seligkeitsverlangen in ihnen aufwacht.“ – Die Religion der Zukunft, Blaubuch, 918.

[24] K.  Berger, Jesus,  München 2004.

[25] K.  Berger, Jesus, 68

[26] Offenbar müssen wir uns das so vorstellen, daß Jesus im Jahre 30 bald nach seinem Tode um 15.00 Ortszeit unter dem Hügel von Golgatha die Riegel der Hölle aufbrach: „Und zum Schrecken des Herrschers des Todes kann er nun das Reich des Todes von innen her sprengen. Denn nur von außen her kann man das nicht. Die Riegel, mit denen die Totenwelt verschlossen ist, lassen sich nur von innen her öffnen. Jesus bricht diese Riegel von innen her auf und zerstört das gegnerische System. Der Herrscher der Totenwelt ist damit besiegt, die Welt der Toten ist geöffnet.“

[27] Das Blaubuch I 3 S. 109-115; vgl. A. Titius, Der Bremer Radikalismus, Tübingen 1908; S. 49f – Der vollständige Text wurde von mir digitalisiert und ist zu lesen unter: www.radikalkritik.de/monistenbund.htm.

[28] Ein deutscher Monistenbund, 110.

[29] Auch in den Formulierungen gibt es Ähnlichkeiten. Gleich am Anfang seiner Welträtsel, 7 (Stellung der Welträtsel), spricht Haeckel wie Kalthoff von dem „unbehaglichen Gefühl innerer Zerrissenheit und Unwahrheit“, der das geistige Klima der Zeit präge.

[30] Vgl. den späteren Aufruf des Monistenbundes: „Die ständig wachsende Gefahr, mit der Ultramontanismus und Orthodoxie unser gesamtes wissenschaftliches, kulturelles und politisches Leben bedrohen, kann nur abgewendet werden, wenn den Mächten der Vergangenheit eine überlegene geistige Macht in Gestalt einer einheitlichen, neuzeitlichen Weltanschauung entgegengestellt wird … Diese Weltanschauung der Zukunft kann nur eine monistische sein, eine solche, die einzig und allein die Herrschaft der reinen Vernunft anerkennt, dagegen den Glauben an die veralteten traditionellen Dogmen und Offenbarungen verwirft“ (Fünf Jahre Deutscher Monistenbund, München-Gräfelfing 1911, 6).

[31] Wilhelm Ostwald steht auch für das verstärkte Engagement des DMB in der „Kirchenaustrittsbewegung“. Dem von ihm und Karl Liebknecht ausgerufenen „Massenstreik gegen die Staatskirche“ auf einer Kundgebung am 28. Oktober 1913 folgten etwa 3000 bis 4000 Teilnehmer.

[32] Schon Steudel und Mauritz haben ihren (offenbar nicht ganz freiwilligen) Austritt aus dem Monistenbund (bald nach dem Tode Kalthoffs) damit begründet, daß „eine Reihe von Stimmen, die sie nicht vertreten könnten, geeignet wären, in weiteren Kreisen die Ueberzeugung aufkommen zu lassen, daß die Mitgliedschaft des Bundes mit dem Predigerberuf unvereinbar sei“ Freies Wort 1906, S. 228; zitiert nach Titius, a.a.O. 46.

[33] Drews beschreibt dieses Problem in seiner Christumythe; „Wenn die Vertreter des monistischen Gedankens, die vor kurzem sich zu organisieren angefangen haben [!], sich über die Bedeutung jenes Gedankens erst einmal klarer geworden sein werden, als sie es gegenwärtig meist noch sind, wenn sie dahin gelangt sein werden, einzusehen, daß die wahre Einheitslehre nur Alleinheitslehre, ein idealistischer Monismus im Gegensatze zu dem heute noch überwiegenden naturalistischen Monismus im Sinne eines Haeckel sein kann, ein Monismus, der die Existenz eines Gottes nicht aus-, sondern einschließt, wenn damit ihre gegenwärtige unfruchtbare Verneinung aller Religion sich zu einer positiven, auch religiös vollgültigen Weltanschauung vertieft haben wird, dann, aber auch erst dann werden sie der Kirche wirklich Abbruch tun und wird die heute noch in ihren Kinderschuhen steckende monistische Bewegung zu einer inneren Gesundung und Erneuerung unseres gesamten geistigen Lebens führen können.“ – Die Christusmythe, Das religiöse Problem der Gegenwart, 1910, 237.

[34] „Zwei Tage bevor Kalthoff seine Augen schloß, tagten seine Kollegen in Christo, um einen Coup auszuführen, der bestimmt war, den verhaßten und gefürchteten ‚Monisten’ als Prediger unschädlich zu machen.

In Bremen besteht eine altersgraue Institution, das ‚Geistliche Ministerium’, und Kalthoff als reformierter Prediger gehörte, einer alten Tradition seine Gemeinde folgend, dieser Gemeinschaft an. Selbige hat auch einen uralten Paragraphen denen die Mitglieder sich bei der Aufnahme verpflichten müssen. Diese Paragraphen reden davon, daß das Mitglied die christliche Lehre ‚getreu nach dem Bekenntnisse’ verkünden müsse.

Auf diese Paragraphen fiel eines Tages der Blick der Brüder in Christo, und sie dachten, jetzt hätten sie ihn, den Kalthoff.

Flugs wurde in seiner Abwesenheit eine Eingabe an die bremische Kirchenbehörde fertig gemacht, die den Zweck verfolgte, dieser in aller Demut klar zu machen, daß sie jetzt gegen den abfälligen Bruder einzuschreiten habe.

Zwei der lieblichsten Stellen lauten;

  1. ven. min. wolle die Erklärung abgeben, daß es mit der bevorstehenden gesetzlichen Ordnung ven. min. in prinzipiell und praktisch gleich unerträglichem Widerspruch steht, wenn ein Ministeriale öffentlich für den Monismus eintritt.
  2. ven. min. wolle diese Erklärung einem hohen Senat zur Berufung auf § 57 lit. e. und d. der Verfassung der freien Hansestadt Bremen mit der Bitte unterbreiten, die geltende, aber jetzt verletzte Ordnung ven. min. zu schützen.

Diese rührende Eingabe beschlossen die geistlichen Herren abzusenden …

Als Kalthoff das Schriftstück vorgelegt wurde, das ihn stürzen sollte, hat er zornblitzenden Auges gelächelt. Und seine letzten Federzüge, die er auf seinem Sterbebette getan, waren eine geharnischte Abfertigung seiner Feinde. So beschloß er denn sein Wirken als Kämpfer, der er gewesen ist, sein ganzes reiches Leben hindurch.“  Heinrich Bösking, Kalthoffs Gedenken, 929f.

[35] Von dem Kalthoff freilich 1906 bereits hätte Kenntnis haben müssen. Daß er sich damit auseinandergesetzt habe, ist w.W. nicht bekannt.

[36] Zitiert bei Titius, a.a.O., 46.

 Beilage: Ein deutscher Monistenbund

Von Albert Kalthoff

Aus: Blaubuch I, 3, 1906, 109-111

In einem kurzen Bericht schildert Kalthoff seine persönliche Begegnung mit dem Zoologen, Philosophen und Schriftsteller („Welträtsel“) Ernst Haeckel am 11. Januar 1906 in Jena. Auf Wunsch Haeckels übernimmt Kalthoff den Vorsitz des an diesem Tage gegründeten Monistenbundes. – Ein wichtiges Dokument, das historischen und biographischen Einblick in die näheren Umstände der Gründung des DMB und das Verhältnis Haeckel-Kalthoff gibt.

Die Stadt, in der die Erinnerungen  an die alte Burschenherrlichkeit immer noch nachwirken, ist in diesen Tagen der Ausgangspunkt einer Bewegung geworden, die für die geistige Befreiung des Volkes und die Entwicklung unseres Kulturlebens bedeutungsvoll werden soll. Ganz in der Stille ist am 11. Januar in Jena der Grundstein zu einem deutschen Monistenbunde gelegt worden. Nachdem Ernst Häckel den tausendfachen Anregungen, die in den letzten Jahren von nah und fern immer dringender an ihn ergingen, endlich nachgegeben und die Initiative zu einer Organisation der monistisch Denkenden und Empfindenden ergriffen, hatte eine Umfrage bei einer größeren Anzahl von Männern, unter denen sich Vertreter aller vier Fakultäten, namhafte Schriftsteller, aber auch Männer der Praxis, Industrielle, Kaufleute, befanden, ergeben, daß auf eine freudige Mitarbeit weiter Kreise an dem geplanten Werke gerechnet werden könne. So waren wir der Einladung Häckels in die alte Musenstadt gerne gefolgt.

Häckel hatte mich gebeten, am Vormittage des zur konstituierenden Versammlung angesetzten Tages in Begleitung seines Assistenten, Dr. Heinrich Schmidt, zu ihm in seine Wohnung zu kommen, da er eine vertrauliche Vorbesprechung mit mir wünsche. Da ich Ernst Häckel bis dahin nur literarisch und brieflich kannte, so ging ich mit gespannter Erwartung, wie sich wohl der erste Eindruck seiner Persönlichkeit mir darstellen werde, die nach ihm benannte Straße zu seiner Villa hinauf. Man hatte mir erzählt, Häckel sei leidend, und er selbst hatte mir von den Beschwerden seines Alters geschrieben. Deshalb war ich freudig überrascht, den 72 jährigen, auf dessen Schultern die Last einer Riesenarbeit liegt, mir so elastisch entgegenkommen zu sehen. Das leuchtende Künstlerauge, die sonnige Heiterkeit seines Wesens zeigten mir das Bild eines Kämpfers, der im Kampfe nur sich selber vertieft und verklärt, weil es eine große, eine Menschheitssache war, für die er gekämpft.

Rasch hatten wir uns über die Grundsätze, nach denen der Monistenbund zu arbeiten haben würde, verständigt. Es gab da eigentlich [110] nichts weiter zu verständigen, wo die literarische Verbindung schon allseitig hergestellt war. Daß der Monismus nicht ein neues Dogma, nicht ein bequemes Polster für denkträge, ruhebedürftige Seelen werden dürfe, sondern als ein alle höheren Menschenkräfte anspannendes und in steter Tätigkeit erhaltendes Lebensprinzip gewertet werden müsse, war zwischen uns so selbstverständlich, wie daß es sich bei der Tätigkeit des Monistenbundes in der Hauptsache um eine positive Arbeit, um die Schaffung einer monistischen Lebenskultur handeln müsse. Das zwiespältige Lebensbild, wie es dem kindlich naiven Denken der Vorfahren genügte, ist durch die Entwicklung der Wissenschaft, unter Führung der Naturwissenschaft, entwurzelt. Damit ist eine Halbheit und Zerfahrenheit geschaffen, die auf dem ganzen heutigen Kulturleben lastet und am Marke des Menschen zehrt. Die gewaltsamen Anstrengungen, das zwiespältige Weltbild künstlich aufrecht zu erhalten, seine klaffendsten Risse mühsam genug auszuflicken oder zu verdecken, haben das Übel nur noch verschlimmert. Sie haben einen Zustand der Unwahrhaftigkeit geschaffen, der dadurch, daß er vielfach unbewußt und gewohnheitsmäßig geworden ist, wohl subjektiv erträglicher empfunden wird, objektiv aber noch gefährlicher erscheint. Deshalb gilt es, die Kulturwerte aufzuzeigen, die in einer monistischen, das Weltbild einheitlich betrachtenden, alle Lebensfunktionen auf ihren inneren Zusammenhalt zurückführenden Weltanschauung beschlossen liegen. Es gilt, diese Einheit vielfach noch fester zu bestimmen, den Zusammenhang des einzelnen mit dem großen Ganzen des Lebens oft erst noch aufzusuchen, so daß auch die Moral, die Kunst, die Religion als besondere Erscheinungsformen des in sich einheitlichen Lebens erkannt und gewürdigt, und auch die gesellschaftlichen Vorgänge, die politischen und sozialen Bildungen und Entwicklungen in ihrer biologischen Bedingtheit erfaßt werden. Diese Arbeit ist etwas wesentlich anderes als die einfache Negation der dualistischen Weltanschauung, Sie ist durch und durch schöpferisch. Sie läßt sich gar nicht leisten ohne den Blick auf ein Lebensideal, das mit seiner philosophischen Begründung ebenso in den Tatsachen der Wirklichkeit wurzelt, wie es mit seinen Zukunftsperspektiven auf die höchsten Höhen einer freien und harmonischen Menschenbildung hinweist.

Bei diesen hohen Vorstellungen von den Aufgaben eines Monistenbundes konnte es mir nicht leicht werden, die Bitte Häckels, mich der Versammlung als Vorsitzenden des Bundes vorschlagen zu dürfen, zu erfüllen, und nur die Hinweisung auf die Männer, welche ihre Kräfte in den Dienst der [111] Sache zu stellen sich bereit erklärt haben, konnte mich zuletzt bestimmen, mich wenigstens vorläufig zur Übernahme dieses Amtes bereit zu erklären.

Am Nachmittage fanden wir uns mit Häckel in dem Zoologischen Institut der Universität zusammen, um über den in langen Vorberatungen festgestellten Satzungsentwurf endgültig zu beschließen. Wir bemerkten an dem greisen Forscher eine sichtliche innere Bewegung. Handelte es sich doch um die Bestellung eines Kuratoriums zur Ausführung des Testaments, in welchem Häckels beste Lebensarbeit der Welt vermittelt und erhalten werden sollte. Diese Bewegung teilte sich mit unwillkürlich mit, als er mich einlud, auf einige Augenblicke noch vorher in sein Arbeitszimmer zu gehen, daß er mir zeigen wolle. Den Raum kannte ich ja aus vielen Abbildungen. Aber die Wirklichkeit wirkte doch noch anders als jedes Bild. Diese Einfachheit und dieser Ernst der Ausstattung sind ganz und gar der Ausdruck der Persönlichkeit, die in diesem Raum ein Stück Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts gelebt und gewirkt.

Häckel führte mich an sein Fenster und sagte: „Hier sehen Sie, wie ich mich ausruhe, wenn mir`s einmal zu arg wird in der Arbeit und allem Staub der Lebenskämpfe.“ Dabei öffnete er den Fensterflügel und deutete mit der Hand auf den vor uns liegenden Berg mit dem rötlich strahlenden Gipfel, wie Schiller ihn gegrüßt, und sagte: „Ist das nicht schön?“ Dann nahm er meine beiden Hände, hielt einen Augenblick still und fuhr mit leuchtendem Auge, aber mit vor Erregung zitternder Stimme fort: „Ich denke jetzt an meinen Altenburger Vortrag – Monismus als Bund zwischen Wirklichkeit und Religion. Das soll nun durch uns beide verwirklicht werden.“ Und wie ich seinen Händedruck stumm erwiederte [sic!], fuhr mir`s durch den Sinn: et hic dii sunt – auch dieser Ort ist ein heiliges Land!

Häckel konnte bei unsern Beratungen nicht lange verweilen. Der Arzt hatte ihm höchstens eine halbe Stunde bei uns gestattet. So begrüßte er uns kurz und gab seiner Freude Ausdruck, daß ein Werk, an das er selber nur nach ernstesten Erwägungen Hand angelegt habe, jetzt der Verwirklichung nahe gerückt sei. Als dann am Abend sein Assistent ihm über den Gang der Verhandlungen den Bericht geben konnte, daß der Grundstein zu dem neuen Gebäude gelegt sei, ließ Häckel uns sagen, daß er gerne das Ehrenpräsidium des Bundes übernehme. Und Dr. Schmidt fügte hinzu: „Ich weiß, daß unser Professor, dessen Hauptleiden nervöse Schlaflosigkeit ist, in der kommenden Nach einmal besser schlafen wird.“

Enfant terrible im Talar: Albert Kalthoff (1850-1906)

Johannes Abresch, Wuppertal
Ein Porträt des radikalkritischen Theologen Albert Kalthoff.

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