Zweifel am historischen Weltenheiland

Eine Buchrezension von M.B.

„In seinem Buch „Jesus? Tatsachen und Erfindungen“ geht Harald Specht der Frage nach, ob Jesus von Nazareth gelebt hat. Anders als die meisten Autoren setzt Specht die Historizität Jesu nicht als eine unhinterfragbare Tatsache voraus, um dann auf der Grundlage der Evangelien viel oder wenig über einen “historischen Jesus” zu wissen zu bekommen. Spechts Interesse an Jesus ist denn auch nicht theologischer, sondern historischer Natur. Der Vorteil seiner unvoreingenommenen Perspektive besteht gegenüber herkömmlichen Jesusbüchern darin, dass sie den Blick weitet und die Möglichkeit einer anderen Geschichte des frühen Christentums überhaupt erst zulässt: „Zeigt sich, dass an der historischen Existenz Jesu eher gezweifelt werden muss, steht weiter zu untersuchen, was zur Erfindung dieser fiktiven Figur führte. Dies mag Irrtümer im Rahmen der Befürwortung eines historischen Jesus klären helfen.“

img220In der ersten Hälfte seines 600 Seiten umfassenden Werks fragt Specht nach dem Quellenwert der uns erhaltenen Jesus-Zeugnisse. Die in der nicht-christlichen Literatur vorkommenden Hinweise auf einen historischen Jesus halten einer näheren Prüfung nicht stand, wie man auch in der Theologie unlängst weiss. Auf einen im 1. Jahrhundert lebenden Juden Jesus von Nazareth gibt es in ausserchristlichen Quellen keine Hinweise. Als frühester und deshalb wichtigster Zeuge Jesu gilt gemeinhin der Apostel Paulus. Seine Briefe an seine Gemeinden soll er in den Jahren 50-60 geschrieben haben. Merkwürdig nur, dass eine so wichtige Gestalt des frühen Christentums weder dem um die Mitte des 2. Jahrhunderts wirkenden Kirchenlehrer Justin noch interessierten Zeitgenossen Pauli bekannt war. Noch nicht einmal der unbekannte Verfasser der Apostelgeschichte weiss etwas von den Briefen Pauli. Noch irritierender ist allerdings, dass die Schriften des Apostels einen historisch existierenden Menschen namens Jesus gar nicht erwähnen. Paulus weiss weder etwas von dem Propheten und Wundertäter der Evangelien noch von Jesu Reden und Reich-Gottes-Gleichnissen. Jesu Abstammung und Herkunft sind ihm ebenso unbekannt wie die Umstände seiner Kreuzigung und Auferstehung. Auch Johannes den Täufer oder Pontius Pilatus finden bei Paulus keine Erwähnung. Specht kommt denn auch zu dem Schluss, dass es sich bei der Apostelgestalt offensichtlich um eine Kunstfigur eines um die Mitte des 2. Jahrhundert wirkenden Gnostikers handelt, der nicht einen Menschen aus Fleisch und Blut im Sinn hatte, sondern eher einen überweltlichen, kosmischen Christus. Selbst die Paulus-Briefe geben also als Quellen für die Rekonstruktion eines historischen Jesus nicht nur nichts her, sie sind eher ein Hinweis darauf, dass es einen historischen Jesus gar nicht gab.

Bleiben die kanonischen Evangelien, die gemeinhin auf die Jahre 80-100 datiert werden, also frühestens 50 Jahre nach dem Tod Jesu geschrieben wurden. Ausserdem die zahlreichen apokryphen und gnostischen Schriften, die zwar aufgrund ihrer späten Datierung bei der Suche nach einem historischen Jesus nicht weiterhelfen, allerdings wichtige Hinweise auf die Pluralität und Widersprüchlichkeit des Jesus-Bildes in der frühen Christenheit bilden. Diese erst gegen Mitte des 20. Jahrhunderts wiederentdeckten Schriften zeichnen jedenfalls ein uns fremdes Bild des frühen Christentums. Lässt sich die herkömmliche Geschichte eines um das Jahr 30 gekreuzigten Gottmenschen angesichts dieser Quellen wirklich noch aufrecht erhalten? Specht hält den umgekehrten Schluss für plausibler: „Offenbar war es in der Auseinandersetzung verschiedener frühchristlicher Gruppierungen von Interesse, die jeweils verfochtenen Glaubensinhalte an eine Person zu binden. Diese Personifizierung des Glaubens gab der neuen Frohbotschaft einerseits eine Stifterfigur und damit eine tradierfähige und allgemein verständliche Geschichte als Identitätshintergrund, andererseits aber auch einen bis dahin unbekannten Autoritätsausweis, indem der Menschensohn mehr und mehr vergöttlicht wurde.“

Im Vergleich zu dieser nüchternen Einschätzung der christlichen Frühgeschichte wirkt die offizielle Version der Kirchen und der Theologie wie die naive Historisierung eines Mythos. Hat man diese Version erst einmal akzeptiert, so stellen sich lauter unsinnige und im Rahmen dieser vermeintlich historischen Vorgabe unbeantwortbare Fragen. Wer von einem historischen Jesus als Stiftergestalt des Christentums ausgeht, kann sich des Eindrucks fast nicht erwehren, dass dieser Mensch Jesus von Nazareth eine in der Weltgeschichte nie dagewesene Erscheinung ist. Ja, ist nicht die Wirkungsgeschichte des Christentums ein deutlicher Hinweis darauf, dass dieser historische Mensch mehr als menschlich, dass er göttlich gewesen sein muss? Ist dann aber nicht der Siegeszug des Glaubens geradezu ein Beweis nicht nur der Historizität Jesu, sondern auch seiner Auferstehung? Selbst Kritiker des Christentums werden nur schwer umhin können, sich auf das Niveau dieser Auseinandersetzung einzulassen, wenn sie die offizielle Version der christlichen Frühzeit als gegebene Tatsache hinnehmen.

Spechts Verdienst besteht nicht nur darin, dass er in seiner Diskussion der Quellen zeigen kann, dass es einen historischen Menschen Jesus von Nazareth nie gegeben hat. Er schreibt auch eine andere Geschichte des frühen Christentums, welche die Entstehung der Figur des Jesus von Nazareth wirklich erklärt und deshalb, anders als die Version der Kirchen, ganz ohne Mystifikation auskommt. Aber ist es nicht doch möglich, wenigstens anhand der Evangelienschriften so etwas wie einen ungefähren Lebenslauf Jesu zu konstruieren, der es nahelegen würde, dass es einen historischen Jesus eben doch gegeben hat? Auch dieser Frage geht Specht nach. Nach ausführlicher Diskussion der unterschiedlichen Punkte wie Jesu Geburtsjahr, seiner Geburt und Herkunft, seines Namens und seiner Titel, seines Redens und Handelns kommt er zu dem Schluss, dass dem Jesus-Bild der Evangelien unmöglich ein wirklicher historischer Mensch als Vorbild gedient haben kann. Sind doch bereits die zahlreichen gematrischen (kabbalistischen und zahlenmystischen) Hinweise im Neuen Testament ein deutliches Indiz dafür, dass es sich bei der Figur des Jesus von Nazareth um die Historisierung eines Mythos handelt. Der gematrische Wert von „Jesus“ ist genau 888 (10 + 8 + 200 + 70 + 400 + 200), die Acht aber galt im Altertum als die Zahl des Christentums, der Religion des am 8. Tag auferstandenen Gottessohnes. Auch eine Zahl wie die der 500 Zeugen der Auferstehung in 1Kor 15 ist eindeutig gematrisch zu verstehen. Von Fundamentalisten wird diese Stelle als Beweis der Historizität der Auferstehung Jesu gewertet: 500 historische Zeugen können nicht irren. Wie lächerlich ein solches Verständnis der neutestamentlichen Texte ist, wird bei der Lektüre von Spechts Jesus-Buch auf jeder Seite deutlich.

Das fünfte Kapitel von Spechts Buch trägt den Titel „Die Erfindung Jesu“. Dieses Kapitel ist gerade für Theologen besonders wertvoll. Es stellt eine Fortsetzung der ersten drei Kapitel dar. Specht bleibt bei seiner in diesen Kapiteln vorgenommenen Infragestellung der Historizität Jesu nicht stehen. Vielmehr geht es ihm jetzt darum, in der Auseinandersetzung mit der Religions- und Zeitgeschichte des Altertums ein anderes, glaubwürdigeres Bild von den Anfängen der christlichen Religion zu zeichnen. Dass ihm dies gelingt, macht die Stärke des Buches aus. Blosse Zweifel an der Historizität Jesu blieben allzu unverbindlich. Erst eine andere Erklärung der christlichen Anfänge liefert den Nachweis, dass es mit der offiziellen Version der Kirchen nicht seine Richtigkeit haben kann. Zahlreich sind die christlichen Entsprechungen zu anderen religiösen und esoterischen Strömungen des Altertums. Wer erst einmal mit den mythischen Inhalten und Hintergründen der Evangelienerzählungen und der christlichen Glaubensinhalte vertraut ist, kann sich über die bewusste Ignoranz der Theologie nur wundern. 2000 Jahre lang hat das Christentum alles Heidnische verdrängt, bekämpft und vernichtet, um seine eigenen heidnischen Wurzeln zu verdecken. Diese Verachtung des Menschlichen zeigt sich auch noch in der Psychologiefeindlichkeit heutiger Theologie. Weil die vernünftige Vermittlung des Glaubens nicht auf der Ebene der Anthropologie liegen darf, muss sie in der Historie liegen, muss das Christentum auch und wesentlich historisch wahr sein. Dabei ist gerade das Christentum eine in hohem Masse synkretistische Religion. Specht schreibt: „Der uns aus den Evangelien bekannte Jesus von Nazareth ist hinsichtlich seiner religiösen, ethischen, aber auch äusseren Gestaltung ein Mischprodukt aus mehreren Gott-Charakteren seiner Zeit. Eine Heldenfigur der kanonischen Evangelien, die vor allem aus jüdischen, ägyptischen wie hellenistischen Elementen kompiliert wurde. Seine religiösen Wurzeln liegen daher ebenso in der Prophetie und Messiaserwartung des Judentums wie im Jenseitsglauben der Ägypter, entspringen dem Glauben an Vegetations- und Fruchtbarkeitsgötter wie den antiken Sonnenkulten. Der einzige Unterschied zwischen Jesus von Nazareth und all seinen Vorbildern besteht darin, dass man ihm neben seiner Rolle als Gott auch die eines lebenden Menschen dazu erfand.“ Das könnte und müsste auch die Theologie längst wissen. Ein historischer Gottmensch als Stifterfigur wird zur Rekonstruktion des frühen Christentums jedenfalls nicht benötigt, im Gegenteil: das uns heute zur Verfügung stehende Quellenmaterial widerlegt diesen gottmenschlichen Stifter an jeder Stelle.

Das 4. Kapitel von Spechts Jesus-Buch ist eine kleine Geschichte der Leugnung der Historizität Jesu seit der Aufklärung. Obwohl bereits Persönlichkeiten des Altertums wie der heidnische Philosoph Celsus an einer historischen Stifterfigur des Christentums ihre Zweifel hatten, konnte sich die Infragestellung eines historischen Jesus erst in der Neuzeit durchsetzen. Dennoch hat ein nüchterner Blick auf die christlichen Anfänge in der wissenschaftlichen Forschung bis heute keine Chance. Warum? Specht zufolge hängt das mit den ideologischen und machtpolitischen Interessen der Kirchen zusammen: „Es sind rein persönliche Beweggründe, die insbesondere Theologen davon abhalten, die Geschichtlichkeit Jesu zu leugnen. Hier vorurteilsfrei zu denken und zu reden bedeutete, den Ast, auf dem man sitzt, radikal abzuholzen.“ Nicht nur setzt die herkömmliche Theologie die Historizität Jesu unkritisch voraus, sie liefert auch ein überaus widersprüchliches Bild des historischen Jesus: „Will man aus den Urteilen der Exegeten ein Bild über diesen Menschen Jesus gewinnen, scheitert man ebenso sehr, wie beim Studium der Bibel.“ Dieser Tatbestand hätte eigentlich längst deutlich machen müssen, dass der ganze Frageansatz nicht richtig sein kann. Seit Albert Schweitzer und Rudolf Bultmann weiss im Grunde auch die Theologie, dass wir aus den Schriften des Neuen Testaments nichts über einen historischen Jesus zu wissen bekommen können. Aber einer Theologie, für die das Christentum mit einer historischen Menschwerdung Gottes steht und fällt, konnte das nicht genügen. Diese Theologie ist darauf angewiesen, dass sich das Bild ihres rekonstruierten „historischen Jesus“ mit dem Jesus-Bild der Evangelien im Wesentlichen deckt.

Im letzten Kapitel seines Buches zieht Specht ein Fazit, dem der kritische Leser nur zustimmen kann: Der Erfolg des Christentums verdanke sich der „Trivialisierung der Lehre, deren Anpassung an den Bildungsstand der breitesten Masse und letztlich der Schaffung der Identifikationsfigur Jesus Christus. (…) Die Personifizierung des Christos-Gedankens durch Erfindung der Person des Jesus von Nazareth war das entscheidende Mittel, gegenüber anderen Gruppen der frühen Christenheit die religiöse Oberheit zu erringen und zu behalten.“ Specht erkennt richtig, dass mit der Infragestellung eines historischen Jesus auch für die Kirche viel, wenn nicht alles auf dem Spiel steht. Bis heute bemüht die Theologie denn auch die fadenscheinigsten Argumente, um an der Bedeutung eines historischen Jesus für das Christentum festzuhalten. Dass es dabei nicht um ehrliche Wahrheitssuche geht, sondern vor allem um Macht und die Engstirnigkeit eines Berufsstandes, weiss jeder, der selbst ein paar Semester Theologie studiert hat. Auch die Theologie des 21. Jahrhunderts lebt von der Ideologie einer historisch ergangenen Menschwerdung Gottes.

Zuletzt führt Specht zwei vielbemühte Einwände gegen die Leugnung der Historizität Jesu auf. Auf einen davon will ich nun noch eingehen: Wahrer Glaube bedürfe keiner (historischen) Zeugnisse. Specht dazu: „Die Historizität Jesu als belanglos erklären hiesse, auch die Grundlagen des Christentums als unbedeutend hinzustellen.“ Steht und fällt das Christentum also wirklich mit der Historizität Jesu? Können die „Grundlagen des Christentums“ nur in der Historie liegen? Oder wird man nicht eher umgekehrt fragen müssen: Können, wenn am Christentum etwas dran sein soll, seine Grundlagen überhaupt in der Historie liegen? Es sind meines Erachtens nicht nur die neuzeitlichen Erkenntnisse über den Menschen und die Natur, die eine historische Menschwerdung Gottes als absurd erscheinen lassen und als blosse Projektion aufdecken, es sind gerade auch theologische Gründe, die gegen eine historische Menschwerdung Gottes sprechen. Theologisch ist es jedenfalls illegitim, dem christlichen Dogma von der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus eine historische Information entnehmen zu wollen um diese wiederum dem Dogma grundzulegen. Das Dogma selbst ist als Glaubensgeheimnis etwas Letztes, Unableitbares, es ist, wenn man so sagen will, die untrennbare Einheit von Mythos und Historie. Das Dogma bezieht sich nicht noch einmal auf einen historischen Menschen Jesus von Nazareth, wie man in der Theologie bis heute betont. Es bedarf keiner historischen Erklärung für sein Zustandekommen, wohl aber einer religionsgeschichtlichen und vor allem religionspsychologischen Vermittlung. Wesentlich von daher ist das Festhalten der Theologie an ihrem „historischen Jesus“ zu erklären: die Theologie fürchtet sich vor nichts so sehr wie vor einer psychologischen Vermittlung ihrer Glaubensinhalte. Wer aus ideologischen Gründen an der Historizität Jesu um jeden Preis meint festhalten zu müssen, den werden auch die besten historischen, theologischen und vor allem anthropologischen Argumente nicht überzeugen können. Spechts Buch ist deshalb allen (Laien wie Theologen) zu empfehlen, die an einem historischen Weltenheiland ihre Zweifel haben. Es vereint die besten Gründe gegen die Historizität Jesu und vermag die Entstehung des Christentums aus der Zeit der ersten beiden nachchristlichen Jahrhunderte heraus zu erklären. Der Aufweis zahlreicher religionsgeschichtlicher Parallelen zum christlichen Mythos ist auch eine wichtige Grundlage für eine anthropologische Vermittlung des christlichen Glaubens.

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