Wegen meines Artikels „Bedford-Strohm, Marx und das Kreuz mit der klaren Kante“ auf der Achse des Guten wurde ich häufig gefragt, wie ausgerechnet ich dazu komme, die beiden Kirchenmänner, die bei ihrem Jerusalem-Besuch mit Rücksicht auf ihre Gastgeber auf das Tragen des Kreuzes verzichtet hatten, zu kritisieren.
Nun, warum nicht? In der BILD-Zeitung hatte der jüdische Historiker Michael Wolffsohn, der ebenfalls Kritik am Verhalten der beiden Kirchenrepräsentanten übte, die „bange Frage“ gestellt: „Müssen wir Juden jetzt die letzten Verteidiger und Bewahrer des Christentums sein?“ Ich denke, dass ein christlicher Theologe und ehemaliger Pfarrer ebensoviel Recht hat, das Verhalten zu kritisieren, selbst dann, wenn er, wie ich, eine Position einnimmt, die vielen Kollegen wegen ihrer extremen historischen Skepsis als theologisch bedenklich erscheinen mag.
Wer meine Bücher und Beiträge auf dieser Webseite kennt, weiß aber, dass ich keinen Widerspruch zwischen einer radikalen, d.h. an die Wurzeln gehenden historischen Kritik des Christentums und christlicher Glaubenspraxis sehe. Wenn es anders wäre, hätte ich meinen Beruf nicht ausüben können.
Bei den holländischen Radikalen, aber auch bei meinem Lehrer Walter Schmithals habe ich gelernt, dass historische Kritik und Glaube keine Gegensätze sind. Historische Kritik ist vielmehr eine Art Katharsis. Sie reinigt den Glauben und verändert ihn damit. Aber sie zerstört ihn nicht. Mit den Worten Friedrich Rückerts: Wenn man, was man glauben soll – nicht mehr glauben kann, dann ist die Zeit des einen Glaubens voll – und fängt ein anderer an.
Der Christus-Mythos, der ganz am Anfang des Christentums steht, ist kein Gegensatz zur Wahrheit, schließt die Wahrheit nicht aus, sondern drückt sie auf vorrationale, bildlich-metaphorische Weise aus, d.h. in der Weise der religiösen Poesie.
Er ist nach der tiefsinnigen Definition des Sallustius De diis et mundo, eines spätantiken Philosophen des 4. Jahrhunderts, das, „was niemals war und immer ist“. In diesem Sinne ist das Christentum, wie Schopenhauers richtig sagte, tatsächlich „eine Allegorie, die einen wahren Gedanken abbildet; aber nicht ist die Allegorie an sich selbst das Wahre.“
Die angeblichen Heilstatsachen sind in Wahrheit mythische Sinnbilder, Symbole und Allegorien. Das macht sie nicht geringer, sondern größer.
Ich gebe gerne zu, dass mir der Verzicht der beiden Kirchenmänner auf das Kreuz gerade vor diesem Hintergrund so skandalös erschien. Man kann den Glauben der historischen Staffage entkleiden, aber wer ihm das Symbol nimmt oder meint, es, aus falsch verstandenem Respekt, verstecken zu müssen, der nimmt ihm – alles.
Ich weiß wohl, dass sich mein Verständnis vom Christentum von dem vieler meiner Kollegen unterscheidet. Dem Streetworker und Sozialarbeiter, den sie predigen und der häufig nichts anderes ist als das Spiegelbild ihrer eigenen sozialen und politischen Wunschvorstellungen, habe ich nie viel abgewinnen können. Predigten über „diesen Jesus“, der all das schon getan hat, was wir heute tun sollten, waren mir immer peinlich und passen nach meiner Meinung besser in den Kindergarten als in den Gottesdienst.
Stattdessen haben Valentin, Marcion, die Gnosis, Origenes, Meister Eckhart, Novalis und all die anderen christlichen Symboliker, Mystiker und Dichter von der Antike bis heute mein Christusbild geprägt. Darüber hinaus wurde mein Verständnis des Christentums durch eine Autorität geprägt, der ich einen fast kanonischen Rang zusprechen möchte: die Musik Johann Sebastian Bachs. Ohne die Musik des fünften Evangelisten wäre mir das Christentum immer etwas Äußerliches geblieben.
Symbol und Symbolsprache, aber auch durch die Sprache der Töne geweckte Emotionen sind für den Glauben (nicht für die Wissenschaft!) nach meiner Meinung wichtiger als historische Fakten. Wenn man das Kulturchristentum nennen will, bekenne ich mich gerne dazu. Auch dazu, es als wesentlichen Bestandteil unserer abendländischen Kultur nach Kräften zu verteidigen.