Radikalkritik und die Sehnsucht nach „mehr“ – ein Email-Wechsel

[Betr.: An den Seelsorger] Lieber Herr Pfarrer,

Wie lebt man mit der Sehnsucht nach Gottes Gegenwart, mit dem Drang nach „mehr,“ nachdem man Ihre Webseite, Bob Price’s Bücher, Earl Doherty’s und Harald Specht’s Jesus (letzteres auf Ihre Empfehlung hin), Randel Helms’ Gospel Fictions, etc., etc., u.s.w. gelesen hat? Auch wenn die Evangelien „the supreme fiction of our times“ sind, sind sie nicht doch ein guter blueprint für ein Leben? Ich habe meine Vertäuung verloren. Ich hielt mich immer für einen abendländischen Katholiken (nicht römisch!), der Kultur und Tradition zugetan und der historischen Grundlagen sicher. Jetzt bin ich verunsichert. Habe ich etwas mißverstanden? Etwas übersehen? Wohin mit Jesus?

Etwas haltlos, WP

Antwort von Pfr. Dr. Detering:

Lieber Herr P.,

es handelt sich zweifellos um ein Missverständnis. Denn es ist keineswegs so, dass mir die „Sehnsucht nach Gottes Gegenwart“, der „Drang nach ‚mehr’“, von dem Sie schreiben, ganz unbekannt wäre. Ich hätte sonst nicht Theologie studiert und wäre auch nicht Pfarrer geworden. Natürlich geht es mir nicht darum, irgendjemandem den „Glauben zu nehmen“ , schon gar nicht den „Drang nach ‚mehr’“ irgendwie zu behindern, im Gegenteil.

Falls diese Webseite an einem solchen Missverständnis schuldig sein sollte, muss ich zu meiner Rechtfertigung allerdings bemerken, dass hier eine (historische) Kritik an der Geschichte des frühen Christentums angekündigt wird. Eine Kritik des Christentums liegt ausdrücklich nicht in meiner Absicht. Eigentliches Thema der Seite ist nur die historische Auseinandersetzung mit dem frühen Christentum, wobei oft die schlichte Entdeckerfreude an dem einen oder anderen historischen „Fündlein“ dominiert, das von den Mainstream-Historikern des frühen Christentums (d.h. in erster Linie von meinen theologischen Kollegen) entweder nicht wahrgenommen oder aber geflissentlich unterschlagen wird. Theologen betreiben seit 200 Jahren das Geschäft der historischen Nachfrage, daran ist im Grunde noch nichts Verwerfliches – nur dass es in diesem Fall zu scheinbar völlig negativen Resultaten kommt. Dadurch mag der Eindruck entstehen, die Kritik solle Menschen den Glauben nehmen (nebenbei: ist denn ein Glaube, den ich jemandem „nehmen“ kann, überhaupt noch Glaube, der diese Bezeichnung verdient?).

Da für mich Glaube und historische Kritik zwei ganz verschiedene Dinge sind, habe ich damit kein Problem. Da mein Glaube nicht auf Geschichte gründet, können „negative“ historische Resultate meine religiöse „Verfasstheit“ nicht antasten.

Ich weiß allerdings, dass es viele Christen gibt, die das anders sehen und die jede Infragestellung geschichtlicher Sachverhalte als Angriff auf ihren Glauben werten. Ich muss das respektieren und hoffen, dass sie meine Webseite gar nicht erst zu Gesicht bekommen, denn meine historischen Einsichten – mögen sie richtig oder irrig sein – kann und will ich darum natürlich nicht verleugnen.

Besser wäre es natürlich, sie würden darüber nachdenken, warum ihnen die geschichtliche Verankerung ihres Glaubens überhaupt so wichtig ist und warum sie glauben, dass der Verlust eines historischen Jesus oder Paulus ihrem Glauben und ihrer Spiritualität etwas anhaben kann. Denn eigentlich ist dies nicht möglich, da die existentielle Wahrheit noch etwas ganz anderes ist als die historische.

Man kann das an den von mir verehrten christlichen Mystikern sehen, Menschen, denen man das Christsein kaum bestreiten kann und die doch weder historische „Heilsfakten“ noch einen „historischen Jesus“ kannten oder brauchten. Man kann also offenbar auch ohne „historischen Jesus“ ein gläubiger Christ sein.

Was mich betrifft: Ich bin ungeachtet meines kritischen Standpunkts im Hinblick auf einen historischen Jesus nicht nur der christlich-abendländischen Kultur im allgemeinen, sondern auch vielen Aspekten des (römischen) Katholizismus durchaus zugetan. Auch wenn ich im Hinblick auf deren Wurzeln selber inzwischen „radikal“ verunsichert bin (Hardouin ante portas), kann ich mich an den Schriften des NT oder an einem feierlichen katholischen Gottesdienst genauso erfreuen wie an Bachs h-moll-Messe, Pergolesis Stabat Mater oder an Raffaels Madonnen. Ich sehe darin auch keine Inkonsequenz. Der Glaube lebt nach meiner Ansicht von solchen Bildern und Vorstellungen (und Klängen). Davon, dass es religiöse Denker und Dichter, Musiker und Maler gab, denen es gelang, das sichtbar zu machen, zu „offenbaren“, was seinem Wesen nach unsichtbar ist. Ob etwas geschichtlich ist oder nicht, ist für den Glauben letztlich unwesentlich, da es ihm nicht um historische, sondern um existentielle Wahrheiten geht.

Ein Beispiel (passend zur Passionszeit): Das Bild des Gekreuzigten berührt mich, weil es schlicht wahr ist, nicht im historischen, sondern im menschlichen Sinn: als Symbol meiner/unserer (von Gott auch im Leid getragenen) Existenz. Die „Wahrheit“ dieses Bildes hängt nicht davon ab, ob die Ereignisse um 30 tatsächlich als historische stattgefunden haben oder nicht – so wenig wie die „Wahrheit“ von Goethes „Faust“ davon abhängt, ob es eine Person dieses Namens gegeben hat. Die Forderung, das Bild müsse von mir auch als historisches Faktum „geglaubt“ werden, führt vielmehr dazu, dass ein Zwischenglaube eingeschaltet wird, der mit dem eigentlichen, d.h. dem existentiellen Inhalt des Glaubens, nichts zu tun hat und sogar dazu angetan ist, diesen, weil historisch umstritten, kollabieren zu lassen, d.h. Unglauben zu erzeugen. Das Insistieren der Kirchen darauf, sich der vermeintlichen Historizität der von ihr verkündigten Botschaft zu unterwerfen, kann schlimmstenfalls sogar die Annahme der darin enthaltenen existentiellen Wahrheiten verhindern. Ich erinnere an den bekannten Vers von Angelus Silesius:

Wird Christus tausendmahl zu Bethlehem gebohrn /

Und nicht in dir; du bleibst noch Ewiglich verlohrn.

Wohin also mit Jesus?

Antwort: Ihn als „Ikone Gottes“ (2 Kor 4:4; Kol 1:15) und „Mittler“, d.h. als Bild, das uns einen Zugang zu der Vorstellung “Gott“ vermittelt, einfach dort lassen, wo er ganz am Anfang vermutlich einmal war – und zwar, gestatten Sie mir zum Schluss noch ein vielleicht unerwartetes mariologisches Bekenntnis – am besten mit seinem weiblichen Pendant, der „Großen Mutter“, die wir Protestanten törichterweise und zu unserem eigenen spirituellen Schaden aus unseren Kirchen verbannt haben.

In der Hoffnung, mit meiner Antwort nicht noch mehr Verwirrung  gestiftet zu haben,

mit freundlichen Grüßen

Ihr Hermann Detering

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